Meran o Meran

August 1991 Reise in die Stadt
Immer, wenn Mama nervös ist, fährt sie mit dem Kamm besonders grob durch die Haare. „Halt still“, sagt sie, während sie an der Kopfhaut reißt. Michi beißt sich auf die Lippen. Heute muss der Zopf schöner als sonst werden, überhaupt muss heute alles schöner als sonst sein, der Rock, die Bluse, die Lackschuhe, die eigentlich schon zu klein sind. Opa ist im Krankenhaus. Und das Krankenhaus ist in der Stadt. Eine Welt und eine Reise von hier entfernt. Im Auto wird Michi schlecht. Die Hitze, der ungewohnte Parfumgeruch der Mutter, der Schweiß von vier Landeiern, die sich vor der Stadt fürchten. Die Kurven auf der Töll sind zu viel. „Ich pack's nicht mehr“, jammert Michi. „Kurble das Fenster runter. Wenn's dir kommt, musst du rausspeien", rät Markus, der ältere Bruder. „Untersteh dich!“, schreit der Vater am Lenkrad. Dann denkt er nach und fügt hinzu: „Aber er hat recht. Bevor du auf den Sitz brichst, lieber doch aus dem Fenster.“
Altes Krankenhaus
Das große Tor wirkt ehrfurchtgebietend. Dahinter liegt eine andere Welt. Bizarre Blumen, schillernd und fremd wie Paradiesvögel. „Meran ist die Blumenstadt“, hat Mama gesagt, aber es sind nicht einfache Bauernblumen mit ihren kleinen Blüten wie in Kinderzeichnungen, es sind stachlige, stolz aufgefächerte Pfauen, deren grelle Farben schrille Schreie ausstoßen. Michi fürchtet sich vor den Blumen der Stadt wie vor ihren Menschen, wie vor den flachen Steinstufen im Krankenhaus und dem kühlen, glatten Holzgeländer, das sich dunkel glänzend hinaufschwingt zu den Stockwerken der Kranken. Opa im Nachthemd, eingehüllt in den stickigen Geruch des Sterbens. Auf dem Tischchen liegt gedünsteter Fenchel in der Metallschale, kalt geworden, faulig. Michi verzieht das Gesicht. Die Mutter drückt ihr den Blumenstrauß in die Hand, „such doch eine Vase“, und sie läuft erleichtert hinaus in den kühlen Flur. Am liebsten möchte sie die Blumen wegwerfen, diese lächerlichen Dorfblumen mit ihren ahnungslosen Gesichtern. Am Fenster steht eine schlanke Frau mit dunklen Locken, die Augen verweint. Sie drückt ein Mädchen an sich, ein Mädchen mit denselben dunklen Locken, etwa in Michis Alter. Michi verlangsamt den Schritt. Das Mädchen sieht zu ihr hin. Große schwarze Augen.
Erst, als Markus ungeduldig aus dem Zimmer herausruft „Wo bleibst du denn?“, merkt Michi, dass sie stehengeblieben ist. Das Mädchen mit den dunklen Locken dreht sich weg, zum Fenster
Juni 1992 Stadttheater
Die weichen Plüschsessel, der bröckelnde Stuck, die Sphinxen mit ihren nackten Brüsten. Michi verrenkt sich fast das Genick. Andrea, die Cousine, hat heute Ballettaufführung. Seit einem Jahr besucht sie den Kurs. Bei jeder Gelegenheit prahlt sie. Zeigt Schritte und den Spagat und bringt Michi bei, die Hände wie Blumen zu halten. Meran ist die Blumenstadt. Heute wird Andrea in ihrem rosaroten Tutu über die Bühne schweben. Michi ist heiß. Als es dunkel wird und sich der Vorhang öffnet, stockt ihr der Atem. Die Musik, die farbigen Lichter, die Mädchen mit ihren bauschigen Kleidern. Andreas Auftritt ist der dritte, sie trägt einen Kranz aus Stoffblüten im Haar. Die wirbelnden Bänder, die starren Röcke, die trägen Sprünge, ungelenk und asynchron, Michi kann sich nicht sattsehen. Nach der Pause trippelt eine neue Gruppe herein. Hellblauer Taft, bleiche Arme wie Porzellan. Eine von ihnen ist dunkler als die anderen, das streng zurückgekämmte Haar bricht an den Schläfen aus, kräuselt sich. Große schwarze Augen. Michis Herz hüpft. Das Mädchen mit den dunklen Locken dreht sich, dreht sich.
September 1992 Otto-Huber-Straße. Ballettschule Arabesque
Die Mutter hat nachgegeben. Einmal in der Woche darf Michi jetzt zum Ballettkurs. Nicht mit Andrea, die schon zu den Fortgeschrittenen zählt. Mit fremden Mädchen steht sie auf dem lackierten Boden, der unter ihren Füßen knarrt. Sie übt, die Hände wie Blumen zu halten und die Arme in runden Bögen zu führen und weich in die Knie zu gehen. Den Spagat schafft sie nicht. Ihr Körper ist im Weg. Sie fühlt die Musik bis ins Mark und kann nicht Schritt halten. Nach dem Mädchen mit den dunklen Locken hält sie vergebens Ausschau.
...
Michi kommt in die Stadt (Meran) und immer wieder sieht sie ein Mädchen mit dunklen Locken und großen, schwarzen Augen. Sechs Jahre später, inzwischen im Gymnasium, lernen sie sich kennen und lieben. Sie lernen die Leidenschaft und die Eifersucht, das Streiten und das Pläneschmieden, sie lernen die eigenen Augen in den Augen der anderen zu sehen. Und sie lernen, dass Liebe endet, vorbei geht.
Selma Mahlknechts Liebesgeschichte ist aber auch eine Reise durch diese Stadt, zu Orten der Liebe und der Verzweiflung: vom alten Krankenhaus zum Stadttheater, vom Apollo-Kino zur Stadtbibliothek, vom Ost-West-Club zum Café Darling, dem Theater in der Altstadt und zum Passer-Fritz, vom Pferderennplatz zur Eisdiele Costantin und zum Kaiserhofball im Kurhaus.
Salto in Zusammenarbeit mit:
Edizioni alphabeta Verlag