Società | Sinti und Roma

Über andere Welten in unserer Welt

Wie geht es den Sinti und Roma in Südtirol? Über das Erhalten ihrer kulturellen Werte und vor allem der Lebensweise als Fahrende und Sesshafte ein Zwischenbericht.

Elisabeth Tauber  kennt das Leben der Sinti von mehreren Seiten, als Wissenschaftlerin und als Mitglied einer Meraner Sinti-Familie; sie ist mit einem Sinto verheiratet, hat mit dessen Familie gelebt und gearbeitet, und auf diese Weise tiefe Einblicke in die Lebens- und Wertevorstellungen der Sinti gewonnen. Die Frage, die sie beschäftigt und der sie sich in ihren Forschungsarbeiten widmet, betrifft den starken kulturellen Überlebenswillen der Sinti in einer auf Arbeitsleistung und Kapitalvermehrung gegründeten Gesellschaft. "Die große wissenschaftliche Frage ist wie Sinti (und Roma) die systematische und schleichende Entsolidarisierung von Gemeinschaften in der Geschichte, die Privatisierung der Allmenden, also des gemeinschaftlichen Eigentums, die der armen Bevölkerung als Subsistenzgrundlage dienten, die Einhegungen, die das Anhalten und Verweilen einschränken, und schließlich Verfolgung (Vogelfreiheit) und Auslöschung (Holocaust) sowie gegenwärtig Eingriffe in die Familienstruktur durch den Staat kulturell überlebt haben.“

Im Pustertal gibt es mittlerweile keine Stellplätze mehr für die Sinti.

Diese Fragen, so Tauber, können nur über die Forschung zu lokalen Kontexten Schritt für Schritt aufgearbeitet werden. "Die Südtiroler Sinti sind seminomadisch, im Sommer im Wohnwagen, und sie reisen so wie alle Sinti im Alpenraum in kleinen Gruppen, zwei bis drei Familien, mehr nicht." Das Reisen in kleinen Gruppen ermöglicht ihnen unter anderem, auf Gefahr schnell reagieren zu können. "Wenn Familien einen Stellplatz beziehen, wird sehr genau darauf geachtet, ob und von welcher Seite Gefahr drohen könnte und die Wagen werden so platziert, dass eine unmittelbare Weiterfahrt möglich ist," erzählt Elisabeth Tauber.

Elisabeth Tauber ist Ethnologin und hat eine mehrjährige Feldforschung mit Sinti-Familien in Südtirol gemacht. Sie lehrt Kulturelle und Soziale Anthropologie an der Uni Bozen und war bis Mai 2015 Vorsitzende des Wissenschaftlichen Komitees des European Academic Network of Romani Studies. Foto: Georg Hofer

 

Die Südtiroler Sinti reisen im Sommer, einst gab es sehr viele Stellplätze, nun immer weniger. "Im Pustertal gibt es derzeit keinen mehr, die Flächen wurden privatisiert oder anderweitig genützt, bzw. für den allgemeinen Zugang gesperrt," so Tauber. "Wenn Sinti fahren, sind es jene Routen, die über Generationen von ihren (verstorbenen) Verwandten genutzt wurden und so fahren die heutigen Familien immer auch ihre filigranen Erinnerungsstrukturen ab."  Vergangene Reisegeschichten und Anekdoten werden beim Fahren wieder erinnert und erzählt, von Begebenheiten innerhalb der Familie oder Begegnungen mit den Nicht-Zigeunern, den Gadsche.

"Sinti haben sich dem ökonomischen Zugriff, der die Produktion von der Reproduktion trennt, entzogen."

Die Linie der Abgrenzung von den Nicht-Sinti ist nicht sichtbar, aber doch klar gezeichnet, für diejenigen die von außen kommen ist ein Erkennen und Verstehen der Familienstrukturen und Erinnerungskulturen nicht erkennbar. Warum viele Sinti ein Leben im Wohnwagen bevorzugen, zumindest zu einer gewissen Zeit im Jahr, warum sie ihre Kinder nicht in den Kindergarten und nur begrenzt in die Schule schicken, warum die Frauen auch heute noch hausieren gehen und die Männer Alteisen sammeln, fordert neben der anthropologischen auch eine historische Perspektive. "Um das zu verstehen, müssen wir in die Geschichte zurückgehen, als sich das Konzept der Kapitalisierung als Gesellschaftsform durchzusetzen begann," erklärt Elisabeth Tauber. Die Gleichung, dass maximale Ausbeutung der Arbeitskraft und Umwelt einen kapitalistischen Mehrwert ergibt, gilt in ihrer Einfachheit auch heute noch, auch das neoliberale System beruht darauf. "Sinti haben sich diesem ökonomischen Zugriff, der die Produktion von der Reproduktion trennt, entzogen." Das ist ihnen wahrscheinlich deshalb gelungen, weil sie Erinnerung nicht über materielle Gegenstände weitergeben: keine Monumente, Dokumente und keine Heldenkultur. Sinti leben nach ihrer ganz eigenen Binnenmoral, und die hat wenig mit Vorsorge, Kapitalansparung oder einer Vererbung von materiellen Gütern zu tun.

"Sie entziehen sich den herrschenden Normen, so schicken sie beispielsweise ihre Kinder nicht in den Kindergarten, da sie andere Erziehungsvorstellungen haben, auf diese Weise schützen sie ihre Kinder vor Vereinnahmung, auch wenn die Kinder in die Schule gehen, bleibt die Familie in den ersten Monaten in der Nähe des Schulgebäudes." Sie gehen mit Schule kreativ um, „sie wissen, dass ihre Kinder die Welt der Mehrheitsgesellschaft kennen und interpretieren müssen, um überleben zu können, daher ist Schule für Sinti auch die Schule darüber, wie die Gadsche sind“, meint Tauber. Schule als Wert gilt als ein Wegführen von den eigenen Werten hin zu staatlichen Werten, deren Geschichtsschreibung unilinear und homogenisierend sind.

Dafür wird das überlieferte Wissen, das über den Respekt vor den Verstorbenen ausgehandelt wird und ohne Schriftkultur tradiert wird, im täglichen Alltag praktiziert. "So wie unsere Alten … " verleiht den Jungen Orientierung und Sinnstiftung." Über die Erinnerungspraxen wird wenig gesprochen, es ist das Schweigen und die Stille über die Verstorbenen, die als Garanten für ein respektvolles, sintispezifisches Leben wirken" so Tauber.

Für das Aufrechterhalten ihrer eigenen Werte- und Lebenswelt zahlen Sinti jedoch einen hohen Preis, den Preis der sozialen, kulturellen und politischen Diffamierung und der strukturellen Diskriminierung.

Elisabeth Tauber hat sich lange Zeit mit den Sinti Minderheiten beschäftigt und dazu geforscht; ihr Buch „Du wirst keinen Ehemann nehmen!“ ist soeben neu aufgelegt worden. "Mit dieser Forschung habe ich mit dazu beigetragen, die Politik für die strukturell verletzlichen Sinti zu sensibilisieren." Basierend auf einer kritischen Reflexion zu Machtverhältnissen arbeitet sie seit einigen Jahren zu den mehrheitsgesellschaftlichen Machtzentren: Sie forscht derzeit zur politischen Aushandlung von Integration im Europarat in Straßburg und der Europäischen Kommission in Brüssel, um den Prozessen der Politikgestaltung auf die Spur zu kommen und um gleichzeitig über ihr politisches Engagement für die Bedeutung der historischen Präsenz der Sinti und Roma in Europa zu sensibilisieren. "Von hohen europäischen Beamten höre ich häufig, dass sie sich eingliedern sollen, sich über Arbeit und Schule integrieren, bzw. assimilieren sollen." Auch hier in Südtirol wird das gesagt und es werden Sozialwohnungen und Projekte für Sinti und Roma zur Verfügung gestellt. "Das ist löblich und sagt etwas über das humane Weltbild unserer Beamten aus, läuft aber an den Bedürfnissen der Sinti vorbei," so Tauber. "Sie beanspruchen gleiche Bürgerrechte wie die anderen italienischen Staatsbürger, wollen für den Rest in Ruhe gelassen werden und ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen leben."

Der Umgang einer Gesellschaft mit ihren Minderheiten sagt wahrlich vieles über diese Gesellschaft aus.