Politica | Naher Osten

Die Katastrophe von Beirut

Was bedeutet die Katastrophe von Beirut für den Nahen Osten und Europa? Und warum ist das so? Eine Analyse der Geschichte und der jetzigen Situation.
Avvertenza: Questo contributo rispecchia l’opinione personale dell’autore e non necessariamente quella della redazione di SALTO.

In dieser Woche ereignete sich im Hafen der libanesischen Hauptstadt Beirut eine Explosion ungekannten Ausmaßes. Diese verheerende Katastrophe triff nun ein Land in der Levante, dass schon vor diesem traurigen Tag am Rande eines Abgrundes stand. Und das hat sehr vielschichtige Gründe, welche für die ganze Region destabilisierend werden könnten, mit Auswirkungen auf den Rest der Welt. Dieses unglaubliche Ereignis könnte nur der Anstoß zu einer gefährlichen Kettenreaktion sein, die nicht nur den Libanon in eine Spirale der Gewalt reißen kann. Warum ist das so?
Um das zu verstehen, muss man wissen, dass der Libanon in der jüngeren Geschichte aus einem Teil des osmanischen Reichs nach 1921 entstanden ist. Genau wie Syrien und der Irak ist er ein künstliches Gebilde der postosmanischen Zeit. Nach der Zerschlagung des türkischen Imperiums wurde er ein Mandatsgebiet der französischen Republik. Frankreich und Großbritannien, zwei Siegermächte des Ersten Weltkrieges, teilten sich damals den Nahen Osten untereinander auf, ohne Rücksicht auf Stammes-oder gar Religionssphären. Und das ist bis heute von fundamentaler Bedeutung, um den Nahen Osten zu verstehen. 
Der Nahe Osten wurde wie folgt aufgeteilt: Syrien und der Libanon wurden französisches Mandatsgebiet, der Irak und Palästina ( das heutige Israel und die Palästinensergebiete ) britsch verwaltet. Die Grenzen in dieser Region, was man heute noch sehr gut sehen kann, wurden buchstäblich mit dem Lineal gezogen. Das war typisch für diese Zeit, wie man es ja in Afrika auch noch sieht. 
Das Problem, was diese Region deshalb auch heute noch zu einem Pulverfass macht, ist, dass die beiden damaligen Großmächte nur ihre jeweils eigenen Interessen verfolgten und in keinsterweise die ethnischen und religiösen Verhältnisse berücksichtigen. Welche waren das?  Hier kann ich das jetzt nur grob schildern, damit man einen ungefähren Eindruck bekommt. 
In erster Linie waren das sunnitische Araber wie im Irak, in Syrien, Palästina und zum Teil im Libanon. Dazu kamen Schiiten ( welche die Staatsreligion des heutigen Iran bilden). Diese findet man auch zum großen Teil im Irak, in Bahrein, zum Teil in Syrien und im Süden des Libanon. Eine verschwindende Minderheit lebt auch in Saudi Arabien. 
Ebenso gibt es die Kurden, welche zum Großteil in der Türkei, in Syrien, dem Norden des Irak und des Iran siedeln. Und dann leben hier noch Christen, die wir im Norden des Irak, in Syrien und zum großen Teil des Libanon finden. Sie stammen noch von den Urgemeinden ab und sprechen zum Teil noch Aramäisch, der Sprache zu Zeiten Jesu, Diese ethnische und religiöse Mischung hatten die Osmanen jahrhundertelang bis 1914 einigermaßen unter Kontrolle, vor allem dadurch, dass es durch diese ganzen Gruppierungen und Stämme keine Grenzen gab. 
Ich musste jetzt so ausholen. Warum? Weil sich im Libanon sämtliche Gruppierungen, bis auf die Kurden, hier wiederfinden. Und so wurde der Zedernstaat nach der Mandatsniederlegung Frankreichs zum Spielball der großen regionalen Mächte des Nahen Ostens. Syrien, Irans, Saudi Arabiens und auch Israels. Und mitten zwischen diesen Konflikten die Christen und Drusen. 
Die Drusen bekennen sich zwar zum Islam, haben aber ihre völlig eigene Interpretation des Korans, man kann sogar sagen, dass sie eine eigene Religionsgemeinschaft bilden. Dies macht sie so zu Feinden der "Rechtgläubigen". Sunniten wie Schiiten. Und es brachte sie im verheerenden Bürgerkrieg der 70er und 80er Jahre regelmäßig zwischen die Fronten. Aber was macht einen geschwächten Libanon jetzt so brandgefährlich?
Nach dem angesprochenen Bürgerkrieg wurde der Libanon für Jahre vom Nachbarstaat Syrien besetzt und defacto wie eine Provinz Assad Seniors regiert. Was wieder dem mit Damaskus verbündetem Iran in die Hände spielte. Das Mullahregime benötigte den Libanon, eigentlich bis heute, als Basis für seinen Kampf gegen Israel, da es eine offene Konfrontation nicht so einfach suchen konnte. Zum einen, weil die USA ihre schützenden Hände über Israel halten und zum zweiten, weil der Iran keine direkte Grenze zum Judenstaat hat. Was machen nun die Mullahs? Sie nutzen ihre guten Verbindungen zu Damaskus und bauen eine schlagkräftige Miliztruppe auf. Die Hisbollah. Zu Deutsch, die Partei Gottes. Diese wurde so hoch gerüstet und ausgebildet, dass selbst die israelische Armee, die oft als unbesiegbar verklärt wird, sich in einem Feldzug förmlich die Zähne ausbiss. Nun kann man ohne Übertreibung sagen, dass die Hisbollah mittlerweile ein Staat im Staate Libanon geworden ist. Und gerade das macht sie so extrem gefährlich. Denn wie schon gesagt, ist sie nicht nur der verlängerte Arm Teherans gegen Israel, sonder auch die stärkste politische Kraft im Libanon. Ebenso ist sie ein militärischer Faktor im Bürgerkrieg in Syrien auf der Seite Assads. 
Als dieser beschloss, sein Land aus dem Libanon zurück zu ziehen, machte man eigentlich etwas recht Kluges. Man erschuf eine Verfassung, in der alle Gruppen, egal welcher Religion, gleichberechtigt waren. Und die Regierung sollte zu gleichen Teilen an alle gehen. Jede Gruppe sollte auch in regelmäßigen Abständen den Regierungschef stellen. Das stellte sich aber schnell als unrealistisch heraus, nachdem der im Volk beliebter Präsident durch ein, höchstwahrscheinlich syrisches, Attentat zerfetzt wurde. Ein weiterer Grund war, dass sich einige Schichten, vornehmlich Christen und Drusen, maßlos bereicherten und andere, vor allem Schiiten, immer mehr angehängt wurden. Und so destabilisierte sich der Zedernstaat zusehends. Keine Gruppe traute mehr der anderen ( was sowieso nie so richtig der Fall war ). Jetzt kommen noch die zahllosen syrischen Flüchtlinge im Land dazu. Auch damit ist der Staat heillos überfordert, besonders nachdem die westliche Welt die finanziellen Mittel rigoros zusammengestrichen hat. Auch hier entsteht ein neues Pulverfass. 
Seit etwas mehr als zwei Jahren befindet sich der Libanon auch im wirtschaftlichen freien Fall. Er droht zu einem failed state, einem gescheiterten Staat, zu werden. Das nutzen nun wieder vor allem der Iran und Saudi Arabien aus, um in der Levante ihre Interessen durchzusetzen. Was sie ja bereits im Yemen seid Jahren auf brutalste Art tun. Und je schwächer der Libanon wird, desto leichter wird er wieder zum Spielball dieser spinnefeindlichen Regionalmächte. 
Dann kommt ausgerechnet jetzt diese Katastrophe. Der lebenswichtige Hafen existiert nicht mehr, der größte Kornspeicher ist pulverisiert und der Staat handelt nicht. Zeigt sich regelrecht handlungsunfähig. So etwas stärkt natürlich die Radikalen im Land, die diesen Staat weiter destabilisieren wollen. Sollte es, und das ist nicht unwahrscheinlich, wieder zu einem Bürgerkrieg kommen, droht ein zweites Yemen. Vielleicht. Kein zweites Syrien, denn hier geht es nur um den potentiellen Machterhalt Assads. Aber auch hier in Syrien ist der Iran (auf Seiten Assads) und ist auch Saudi Arabien (auf Seiten den Nochopposition) tief verstrickt. Sollte jetzt auch noch der Libanon scheitern, zieht er den ganzen Nahen Osten mit. Gefährlicher als Syrien, da dann wohl auch Israel mit hineingezogen wird. Denn in einem gescheiterten Land wird die Hisbollah ihren Kampf gegen den Judenstaat noch verschärfen. Man bedenke, dass die Hisbollah tausende Raketen im Grenzgebiet zu Israel stationiert hat. Auch wenn Tel Aviv jetzt Hilfe angeboten hat, befindet man sich formell noch im Krieg mit dem nördlichen Nachbarn. 
Die westlich Welt muss jetzt sehen, dass der Libanon nicht scheitert oder zerfällt. Vor allem materiell muss jetzt geholfen werden. Schnellstmöglicher Wiederaufbau, politische Stabilisierung. Denn das Pulverfass Naher Osten ist viel zu labil, als dass es sich einen gescheiterten Zedernstaat leisten kann. Und wir sollten immer daran denken, was es für Europa bedeutet. Es droht eine neue Flüchtlingswelle, höhere Ölpreise evtl. sogar ein militärischer Konflikt, da vor allem Frankreich den Libanon immer noch als einen wichtigen Teil seiner Geschichte ansieht.

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Carsten Schauerte Sab, 08/08/2020 - 19:32

Danke. Von dem Massaker weiß ich. Ich konnte nicht alles mit reinbringen, sonst wäre der Artikel doppelt so lang geworden. Und ich wollte eine mögliche zweite Flüchtlingswelle ansprechen. Mir ist schon bekannt, dass die drastischen finanziellen Kürzungen Seitens der UN zur ersten Welle stark beigetragen haben. Gerade jetzt muss man die Flüchtlinge wieder unterstützen, damit kein zweites 2015 passiert.

Sab, 08/08/2020 - 19:32 Collegamento permanente