Politica | Bundestagswahl 2017

Deutschland wählt - eine Beobachtung

Ein Stimmungsbild vom Wahlkampf in Deutschland. Über Flyer von der SPD und Konservative, die mit linken und grünen Themen Politik machen.
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Bundestag BRD
Foto: commons.wikimedia.org

München, Schwanthalerhöhe: Am Morgen nach dem TV-Duell zwischen Angela Merkel und Martin Schulz drückt mir ein Wahlhelfer auf dem Weg in die U-Bahn einen Flyer in die Hand. Schwarzweiß, Typ Fresszettel, eine unmissverständliche Überschrift: „TV-Duell / Ein starker Martin Schulz zeigt Kanzlerformat. Merkel ideenlos.“ Aha, vielen Dank für die Info. 2017 möchte man wohl auch bei der nachträglichen Interpretation von Fernsehauftritten besser nichts dem Zufall überlassen.

Als Italiener in München bin ich natürlich nicht wahlberechtigt. Ich komme aber nicht daran herum, mir als Außenstehender meine persönliche Meinung über den Wahlkampf zu machen. Gerade wenn man südlich vom Brenner aufwächst, ist man ja ganz andere politische Debatten gewohnt. Eines ist sicher – so leidenschaftslos wie das Duell am Sonntagabend sind das politische Deutschland und die Wähler im Großen und Ganzen nicht. Wenige Wochen vor der Wahl scheint es wahrscheinlich, dass Merkel Bundeskanzlerin bleibt. Mit welchen und mit wie vielen Juniorpartnern an der Seite bleibt jedoch bis zum 24. September offen. Nur in einer Sache sind sich alle einig: Bloß keine weitere große Koalition. Zu Recht – denn große Koalitionen sollten die Ausnahme bleiben und auf keinen Fall zur Regel werden. Das Beispiel Österreich ist abschreckend genug: Jahrzehnte der Partnerschaft haben SPÖ und ÖVP inhaltlich ausgebrannt, als lachender Dritter profilierte sich meistens die FPÖ mit zum Teil rechtsextremen und fremdenfeindlichen Botschaften. Eine Perspektive, die in Deutschland keine Option sein darf.

Aus parteipolitischer Sicht ist Merkel in den letzten Jahren stattdessen ein Kunststück gelungen. Sie hat es geschafft, die CDU so weit in die politische Mitte zu tragen, dass SPD und Grüne Probleme beim Agenda Setting im Wahlkampf haben. Atomausstieg, Mindestlohn, Flüchtlinge, Ehe für homosexuelle Paare – solche sozialdemokratischen und grünen Themen sind im konservativen Lager mittlerweile mehrheitsfähig und werden aktiv vorangetrieben. Das geschieht natürlich nicht ohne interne Reibungsverluste (siehe das Verhältnis mit der CSU). Aber es ist umsetzbar. Rot und Grün können also nicht mehr allein auf ihre traditionellen Schwerpunkte setzen, wie sie es in der Vergangenheit getan haben. Was sie nicht davon abhält, es doch zu tun. Mit den entsprechenden Umfragewerten seit Beginn des Wahlkampfes.

Die SPD hat ein weiteres Handicap. In den letzten 19 Jahren war sie 15 Jahre lang an der Regierung beteiligt. Mit diesem Zusatzgepäck und als derzeitiger Partner in der Koalition fällt es schwer, sich als glaubwürdige Alternative mit frischen Konzepten zu verkaufen. Wie sich zeigt, reicht es nicht, mit Schulz einen externen Genossen zu holen, der bisher keine Regierungsverantwortung im Land hatte. Die Verschiebung der CDU hat auch eine zweite Seite. Denn rückt die Union nach links, öffnet sich rechts von ihr ein freier Platz, der von der AfD besetzt wird. Außer nicht mehrheitsfähigen und extremistischen Forderungen zu Flüchtlingen und Außenpolitik hat die vermeintliche „Alternative“ bisher wenig zu bieten. Die anderen inhaltlichen Positionen vermitteln zudem das Bild einer Partei, bei dem das Welt- und Gesellschaftsbild ihrer Mitglieder in den 50er und 60er Jahre stehengeblieben ist. Insgesamt sind konstruktive Impulse von rechts außen in den kommenden Jahren also wohl nicht zu erwarten. Belebt wird der Diskurs im Bundestag dafür von der FDP werden, die höchstwahrscheinlich nach vier Jahren Abstinenz wieder ins Parlament einziehen wird.

Egal, welche Farbkonstellation die Regierung am Ende hat – zu tun gibt es genug. Vor allem zwei Schwerpunkte sind bisher im Wahlkampf zu kurz gekommen, obwohl sie Wirtschaft und Gesellschaft die kommenden Jahre massiv prägen werden. Zum einen die Digitalisierung. Beim Ausbau des schnellen Internets geht es viel zu langsam voran, eine Digitalisierung der Verwaltung ist so gut wie nicht spürbar und bevorstehende Auswirkungen auf die Arbeitswelt sind noch weitgehend ungeregelt. Zum anderen die Energiewende. Aufwand und Zielsetzung sind bewundernswert, die Umsetzung ist jedoch zweifelhaft. Anstatt einer Stromautobahn von den Windrädern im Norden zu den wirtschaftlichen Zentren im Süden gibt es bisher vor allem Bürgerproteste und Stillstand, gleichzeitig besteht theoretisch sogar die Gefahr einer Versorgungslücke mit Strom ab 2022. In beiden Fällen ist der Status Quo nicht nachvollziehbar. Ci vuole pazienza. Sicher ist: Am 25. September werden keine Flyer mehr verteilt.

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Max Benedikter Ven, 09/08/2017 - 17:07

Ja weil Nazis ins Parlament einziehen und rassistische Parolen im Alltag immer mehr Anklang finden!
Zu Viele Deutsche und andere Europäer, liebäugeln mit menschenverachtenden Haltungen. Die Deutschen sind aber pragmatisch genug, um ihren Wohlstand nicht an diese dummen Ideologen zu opfern. Aber das bedeutet nicht, dass es keinen Rechtsruck gibt. Gesellschaftlich. Er wurde nur noch nicht in eine moderne politische Form gegossen - und wird es hoffentlich nie.

Ven, 09/08/2017 - 17:07 Collegamento permanente
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Aaron Gottardi Ven, 09/08/2017 - 23:03

Einfach von einem "Rechtsruck" zu sprechen wäre tatsächlich zu einfach. Die Menschen wählen nicht plötzlich, innerhalb von nur zwei oder drei Jahren, mehr rechts als vorher. Die entsprechenden Einstellungen bei den Wählern waren meines Erachtens schon da. Der Unterschied zu jetzt: Bisher gab es innerhalb von CDU und CSU Abgeordnete, die in beiden Parteien die "nationalkonservative" Flanke abgedeckt haben und dadurch ihre Parteien für diese Gruppe attraktiv gemacht haben. Solche Politiker wie Gauweiler (CSU) oder Steinbach (CDU) sind nunmehr abgetreten. Wenn dieser Rand nun plötzlich nicht mehr durch die Christdemokraten abgedeckt wird und die Partei gleichzeitig in die Mitte wandert, suchen sich diese Wähler eine neue politische Identifikation - in diesem Falle die AfD.

Ven, 09/08/2017 - 23:03 Collegamento permanente
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Christian Mair Mar, 09/12/2017 - 20:12

In risposta a di Aaron Gottardi

Die Sozialdemokratie hat durchwegs Positionen der CDU/CSU mitgetragen (europäische Austeritätspolitik, Agenda 2010, Liberalisierung Finanzmarkt, Sanktionen Russland, Waffenexporte, Beteiligung an NATO Kriegen) und sich damit das eigene Grab, das durch den Verbleib an der Macht vergoldet wird, geschaufelt. Von einem Linksruck zu sprechen halte ich für Zynismus. Und das es diesbezüglich keine Alternative gibt, ist demokratiefeindlicher Populismus, der von der Mitte in die Welt gesetzt wurde.

Mar, 09/12/2017 - 20:12 Collegamento permanente
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Martin Daniel Dom, 09/10/2017 - 14:40

In risposta a di Sepp.Bacher

Stimme überein, die CDU ist Richtung links in die Mitte gerückt und hat rot-grün die Themen gestohlen. Zugleich ist die CSU, taktisch klug, nach rechts gedriftet, um Wähler der AfD abzufangen. Man sieht auf Jahre keine Chance auf einen Wechsel, außer bei den gewohnten Positionsänderungen der Kanzlerin. Die sind gänzlich dem Machterhalt untergeordnet.

Dom, 09/10/2017 - 14:40 Collegamento permanente
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Gregor Beikircher Sab, 09/09/2017 - 14:33

Das ist ein schwacher Kommentar, Basso Meno! wo bleibt eine genaue Analyse der möglichen Perspektiven? Bei den Rechten findet man sie sicher nicht. Die Hoffnung liegt in einer neuen öko-sozialen Öffnung, wo Menschen ohne Voreinnahme mit neuen Ideen, die man auf ihre Standfestigkeit prüft und ausprobiert, zusammen gestalten können und diese ausgewogen leben.

Sab, 09/09/2017 - 14:33 Collegamento permanente
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Julian Nikolau… Lun, 09/11/2017 - 16:47

Das Narrativ von der "sozialdemokratisierten" CDU ist ganz nett und einprägsam. Doch alle Parteien und Bewegungen ändern ihren Charakter in dem Maße, wie das auch ihre jweils maßgebliche Trägerschaft tut. Der nationalgesinnte, alt-konservative, stramme CDU-Wähler war in den 2000er Jahren nunmal, was die Determinierung des Zeitgeists angeht, abgelöst worden durch die erste Nachkriegsgeneration. Sie war (und ist) anders politisiert, nämlich in den linken Jahren um 1970, und das betrifft nicht nur Personen, die damals in dezidiert linken Gruppen aktiv waren und sich später in der SPD oder bei den Grünen "neutralisierten", sondern für die ganze Generation. Dieser Paradigmenwechsel zeigt sich, zeitlich versetzt, seit einiger Zeit auch in der CDU, indem sie ein liberaleres Profil annimmt als noch etwa zu Kohls Zeiten. Die SPD hat hingegen viel von ihrem ehemaligen volkstümlichen Sozialismus aufgegeben, seitdem sie nicht mehr mehrheitlich Arbeiter-, sondern Beamten-, Akademiker- und Angestelltenpartei ist (zusammenfassend gesagt), wobei der kritische Punkt hierfür spätestens irgendwann in den 90er Jahren erreicht worden ist. Die Grünen haben wiederum in dem Maße ihre Radikalität abgelegt, wie ihre Mitglieder sich von rebellischen Studierenden zu wohlhabenden Bildungsbürgern entwickelt haben, die das System, in dem sie sich etabliert haben, nicht mehr grundsätzlich in Frage stellen wollen. Und schließlich vertritt auch die FDP Positionen, die nicht durchwegs dem klassischen Liberalismus entstammen. Die LINKE ist heute, 2017, auch nicht mehr das (n)ostalgische Sammelbecken für SED-Veteranen, das die ihre grundsätzlich ablehnend gegenüberstehenden deutschen Medien immer sehen wollen, sondern eine Kraft der undogmatischen, pluralistischen Linken á la SEL. Alle Parteien ändern sich also.
In Deutschland kommt freilich ein Faktor hinzu, der uns in Italien fremd ist: Die Verklärung der "Mitte" als Ideal, dem alle politischen Kräfte zuzusteuern haben (was eine Angleichung der Parteiprogramme bedeutet), das tief in den Genen der Bundesrepublik verwurzelt ist und Abweichungen nach links oder rechts mit medialer und sozialer Ächtung straft. Italiens Demokratie baut ja hingegen v.a. auf Konflikt und Grundsatzdebatten (neben viel Show, versteht sich).

Lun, 09/11/2017 - 16:47 Collegamento permanente