Società | Exzesse

"Wollen wir dieses Nachtleben?"

Zwei junge Männer werden beim Ausgehen zusammengeschlagen. Ohne erkennbaren Grund und ohne Hilfe der Anwesenden. In Bruneck will man nun etwas ändern: die Feierkultur.

Es sollte ein Abend wie viele werden. Nach dem gemütlichen Zusammensitzen mit Freunden, wollen zwei junge Männer woanders weiter feiern. Nach der Sperrstunde machen sie sich auf die Suche nach einem Taxi, das sie heim nach Bruneck bringt. Sie fragen, ob sie sich zu einer Gruppe anderer junger Männer in den Kleinbus setzen dürfen. Hätten sie geahnt, was dann passiert, sie hätten vermutlich nicht gefragt. Ohne erkennbaren Grund steigen die Taxi-Insassen aus und beginnen, die beiden jungen Männer zusammenzuschlagen. Treten und schlagen nach ihnen, auch nachdem sie bereits am Boden liegen. “Unsere Freunde kannten die Angreifer nicht. Aber es waren Einheimische, keine Menschen mit Migrationshintergrund. Und das wirklich Erschütternde war, dass sich wirklich viele Leute vor dem Lokal aufhielten. Aber niemand hat eingegriffen. Nicht einmal der Taxifahrer hat unseren Freunden geholfen.” Das berichtet Gianluca Da Col zwei Tage später. Er selbst war an besagtem Abend zu müde, um mit seinen Freunden von Bruneck in das benachbarte Reischach zu fahren. Doch er ist entsetzt: “Diese unglaubliche Gewalt – wegen nichts.”

Wir müssen reden! Über Gewalt! Gewalt die passiert, in Bruneck und die uns alle betrifft!Zwei Freunde von uns wurden...

Posted by Diverkstatt on Domenica 6 dicembre 2015

Als Präsident des Jugend- und Kulturvereins Diverkstatt bringt ihn der Vorfall zum Nachdenken. Seit Längerem beobachtet die Vereinsmitglieder immer wieder ähnliche Szenen: “Jugendliche saufen bis sie umkippen, Lokalbetreiber sind nur gewinnorientiert und bieten kein SafeSpace an, Taxifahrer kassieren für die Fahrt und ignorieren Gewaltaktionen, die Augenzeugen sagen sie haben nichts gesehen und wissen nichts von der Schlägerei obwohl sie wenige Schritte entfernt selbst auf einen Taxi warteten.” So soll es nicht weitergehen. Noch am selben Wochenende ruft Diverkstatt eine Kampange ins Leben. “Wir schauen nicht weg!”, schreiben sie auf Facebook. “Change the Nightlife” – das Nachtleben verändern wollen sie. Die ersten Reaktionen haben die Erwartungen getroffen, sagt Da Col: “Uns ist klar geworden, dass wir wirklich einen offenen Nerv getroffen haben – es gibt das Bewusstsein unter den jungen Menschen, dass die Situation, so wie sie ist, auf jeden Fall verbessert gehört.”

salto.bz: Wie ist “die Situation” denn?
Gianluca Da Col: Bei uns im Pustertal gibt es fast jedes Wochenende solche Vorfälle. Und das nicht nur in einzelnen Lokalen, sondern überall. Jetzt hat es zwei unserer Freunde getroffen. Wir als Jugendverein haben aber nicht deshalb beschlossen, diese Kampagne zu starten, sondern weil es einfach Vorfälle sind, die es immer wieder und immer öfter gibt.

Worauf führt ihr dieses Problem zurück?
Mir scheint, dass – da wir eine touristische Stadt sind – alle nur auf Gewinn ausgerichtet sind. Also, solange jeder sein Geld macht, ist alles erlaubt. Wenn sich dann 16- oder 17-Jährige betrinken, bis sie nicht mehr auf den Beinen stehen oder zusammengeschlagen wird, interessiert das einen feuchten Kehricht. Es wird als Kleinigkeit abgetan und weiter Geschäft gemacht.

Gibt es einen Schuldigen in der ganzen Entwicklung?
Sicherlich auch die Politik, die sich um gewisse Sachen nicht kümmert. Aber man kann nicht nur die ganze Politik verurteilen. Denn wenn du unzivilisiert bist, bist du unzivilisiert, das ist nicht die Schuld der Politik. Es muss sich einfach der gesamte Kontext ändern, wir müssen umdenken und alle unseren Teil leisten.

Ist die Stadt München sicherer als der “glücklichste Ort” Italiens, der Bruneck ja bekanntlich sein soll?

Wer sind “alle”?
Es geht darum, Mitverantwortung zu übernehmen. Das gilt für die Politik, die Institutionen, die privaten Lokalbetreiber, die Taxifahrer, die Bevölkerung und die jungen Menschen selbst. Zum Beispiel, dass sie keine Angst davor haben, wenn sie beim Ausgehen eine Gewalttat beobachtet haben, den Carabinieri zu erzählen, was sie gesehen haben. Denn auch das bedeutet, sich als Gemeinschaft einem Problem zu stellen.

Oft hört man die Rechtfertigung “Lasst die Jungen doch feiern, selbst waren wir doch auch keine Heiligen.”
Es geht mir hier sicherlich nicht um Moralismus. Ich bin der erste, der mit seinen Freunden Spaß hat und das eine oder andere Bier trinkt. Daher kritisiere ich nicht das Verhalten des Einzelnen oder der Gruppe. Sondern einfach eine Art allgemeiner Struktur, die es meiner Meinung nicht einfach macht, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen. Daher unser Aufruf: nicht Save the Nightlife, sondern Change the Nightlife!

Eine Kritik an der gleichnamigen Initiative “Save the Nightlife”, die sich gegen das aussterbende Nachtleben in Südtirol engagiert?
Ich kritisiere sicher nicht die Initiative an sich. Ich habe selbst viele Lokale schließen sehen in meiner Stadt. Es ist richtig, dass die jungen Leute ihre Räume haben und es ist auch richtig, dass sich junge Menschen wie im Falle von Save the Nightlife zusammentun, um dieses Recht einzufordern.

Aber?
Aber wenn ich dann schaue, was innerhalb dieser Art von Nachtleben passiert – ich spreche jetzt von Bruneck und der Eskalation der Gewalt –, dann habe ich den Eindruck nur Orte zu sehen, wo exzessiv Alkohol konsumiert wird und wo es sehr häufig auch zu Gewalt kommt. Und da haben wir uns die Frage gestellt: Ist es diese Art von Nachtleben, das es zu retten gilt? Oder müssen wir uns nicht vielmehr alle darum bemühen, etwas daran zu ändern? Denn es summieren sich eigentlich eine Reihe von Sachen in dieser Diskussion.

Heimatpflege bedeutet jede Art von Gewalt, die sich gegen unsere Gemeinschaft richtet, zu bekämpfen und nicht nur schlechtzuheißen.

Wie ist das zu verstehen?
Zum einen sind es Gewaltverbrechen, die auch von Einheimischen begangen werden. Was zeigt, dass die rassistische Rhetorik einiger politischer Gruppen nicht stimmt, wenn sie sagen, dass mit den Immigranten, die zu uns kommen, die Gewalt steigt. Andererseits geht es um das Recht, das ich habe, in meiner Stadt in die Diskothek zu gehen gleich wie ich das Recht habe, nach Hause zu kommen, ohne von jemandem verprügelt worden zu sein.

Im Gegensatz zu vielen anderen, denen das schon passiert ist...
Einer der beiden, die am Wochenende zusammengeschlagen wurden, lebt und studiert in München. Er hat mir gesagt, dass ihm dort noch nie so etwas passiert sei. Da frage ich mich schon: Ist die Stadt München sicherer als der “glücklichste Ort” Italiens, der Bruneck ja bekanntlich sein soll?

Woran muss nun also konkret gearbeitet werden?
Zuerst gilt es einmal, in den Dialog treten. Wir als junge Menschen wollen unseren Teil der Verantwortung übernehmen und werden jetzt mit den politischen Institutionen sprechen. Um gemeinsam Lösungen zu finden. Es braucht Initiativen, die kritischen, bewussten und nicht gewinnorientierten Alkoholkonsum promovieren. Wir haben bereits etwas im Sinn, etwas Großes, das in den kommenden Monaten starten wird.

Es gibt also Aussicht auf Besserung?
Vornweg möchte ich betonen, dass verbessern nicht heißt, dass man Lokale zusperren sollte. Das heißt es absolut nicht. Sondern es geht um einen breiteren Diskurs. Es braucht ein Umdenken: Mitverantwortung der Lokale, Aufklärungs- und Präventionsarbeit in den Schulen, Anreize für Kulturvereine, sich vor Ort für bewussten Alkoholkonsum einzusetzen. Wenn wir alle einen Schritt nach vorne machen und einen Teil dieser Mitverantwortung übernehmen, vielleicht gelingt es uns dann wirklich, ein Nachtleben zu schaffen und zu bewahren, das von bewusstseinsgestärkten jungen Menschen geprägt ist. Denn was wir brauchen, ist eine stabile, wertbewusste, solidarische Gemeinschaft.

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Mensch Ärgerdi… Lun, 12/07/2015 - 16:47

Das mit dem Alkohol am Steuer hat zum Großteil nur durch scharfe Kontrollen und drakonische strafen funktioniert.
Es braucht einfach mehr Polizei um und in den Lokalen. Hab das hier glaube ich schon einmal geschrieben: ich habe in mehreren Jahren beim ausgehen ein einziges mal die Carabinieri in der Disco drin gesehen und das an einen Abend wo nichts los war. Um den Lokalen rum sieht man die Ordnungskräfte meist nur mit Blaulicht anrücken wenn schon etwas passiert ist. Daran ist die Polizei auch nicht selbst schuld, die Gemeinden geben nur ungern Geld für Nachtschichten bei der Gemeindepolizei aus. Die Carabinieri und Polizei sind unterbesetzt. Wenn sie Nachts arbeiten dann eben um Alkoholkontrollen zu machen.

Lun, 12/07/2015 - 16:47 Collegamento permanente