Società | Working poor

Wenn arbeiten nicht reicht

Wir arbeiten, um zu leben. Trotzdem reicht das bei immer mehr Menschen im Land nicht mehr für ein gutes Leben aus.
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Foto: Adobe Stock Images

AFI-Direktor Stefan Perini verrät, was die Inflation damit zu tun hat und wie die Gewerkschaften und die Landesverwaltung hier aktiv eingreifen.

salto.bz: Herr Perini, in den letzten Wochen haben die Gewerkschaften die neuen Verträge verhandelt, um das Leben der Arbeitnehmer/innen wieder leistbar(er) zu machen. Das Thema „Working poor“ ist nicht neu. Das AFI veranstaltete 2018 bereits eine Tagung dazu mit dem Untertitel „Wenn arbeiten nicht reicht“. Was war damals der Anlass und wie schätzen Sie die Lage heute ein?

Perini: Der ausschlaggebende Punkt war 2018 der Umstand, dass wir immer mehr das Gefühl hatten, ein Vollzeitjob in Südtirol reiche in vielen Branchen nicht mehr aus, um mit dem Lohn über die Runden zu kommen. Unser AFI-Barometer beinhaltet stets Fragen über die finanzielle Situation der Familien. Bestärkt durch die dadurch gewonnen Informationen und der Caritas Schuldnerberatung wurde deutlich, dass immer mehr Familien finanzielle Engpässe erleben. Gründe dafür sind zum einen ein geringer Verdienst, zum anderen ein schlechter Umgang mit Geld, denn auch der korrekte Umgang mit Geld muss erlernt werden. Diverse Studien auf europäischer Ebene zeigen, dass sich effektiv Niedriglohnbranchen herausgebildet haben: Dazu zählen Pflege-, Küchen-, Reinigungspersonal und Menschen, die im Bereich der Abfallentsorgung tätig sind. In Südtirol können rund ein Sechstel der Arbeitnehmer trotz Vollzeitbeschäftigung kein angemessenes Leben führen.

In Südtirol können rund ein Sechstel der Arbeitnehmer trotz Vollzeitbeschäftigung kein angemessenes Leben führen.

Dabei weist die Südtiroler Wirtschaft positive Wachstumsraten auf. Wie kommt es dann zu dieser Problematik?

Das liegt daran, dass wir hierzulande weniger ein Wachstums- als ein Verteilungsproblem haben. Die Wertschöpfung sollte so verteilt werden, dass man von Arbeit auch leben kann und nicht auf Sozialgelder angewiesen ist. Die schleppende Lohndynamik in Südtirol ist auch darauf zurückzuführen, dass sich als Ausdruck der sogenannten Globalisierung viele Unternehmen und Ketten in Südtirol angesiedelt haben, die nur nach gesamtstaatlichen Kollektivverträgen zahlen. Verkäufer dieser Ketten verdienen ein Gehalt im Rahmen der nationalen Verträge, mit dem es sich mancherorts vielleicht gut leben lässt, aber gewiss nicht bei uns. Viele können sich nur dank des Südtiroler Wohlfahrtsystems (finanzieller Sozialhilfe, Mietkostenbeiträgen, Wohnnebengeld, usw.) über Wasser halten.

Mitverantwortlich dafür ist auch die Inflation. Welchen Einfluss nimmt sie auf unser Leben?

Die Inflation war in den letzten zehn Jahren kein großes Thema. Sie war stets im niedrigen einstelligen Bereich. Für den gesamten Zeitraum 2011 bis 2021 kommt sie in Summe auf circa 15%. Die Preisexplosion kam 2022, mit einer fast zweistelligen Inflation, um genau zu sein 9,7%. Wir werden uns darauf einstellen müssen, dass auch das Jahr 2023 eine hohe Inflation von 6 bis 7% mit sich bringen wird, also noch weit vom Idealwert von 2%. Trifft der für 2023 erwartete Wert ein, so würde dies einer Preissteigerung von 16% in nur zwei Jahren entsprechen. Bei gleichbleibenden Löhnen bedeutet das, wir werden also um ein Sechstel ärmer und verlieren massiv an Kaufkraft.

Halten Sie es demnach für legitim, dass von Arbeitnehmerseite Gehaltserhöhungen gefordert werden?

Ja, es ist legitim, dass Lohnsteigerungen in etwa dieser Größendimension eingefordert werden. Es schmerzt natürlich den Arbeitgeber, aber Verständnis für die Arbeitnehmerseite ist zweifelsfrei gegeben. In Deutschland und Österreich wurden in den letzten Monaten Tarifabschlüsse von 8,5%, bei der Deutschen Post sogar von 10,5%, gemacht. In Südtirol ist man hingegen unverhältnismäßig stark zurückhaltend. Die Lohnanpassung passiert nicht auf Branchenebene, sondern auf Grundlage des individuellen Vertrags zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Das mag dem Einzelnen vielleicht helfen, zeugt aber nicht gerade von großer Solidarität den anderen gegenüber. Um den Quantensprung zu schaffen, muss die Lohnuntergrenze für alle gehoben werden. Nur somit kann der Standard allgemein angehoben werden. Immerhin haben wir in Südtirol Lebenshaltungskosten, die die des gesamtitalienischen Gebietes um 20% übertreffen.

Um den Quantensprung zu schaffen, muss die Lohnuntergrenze für alle gehoben werden. Nur somit kann der Standard allgemein angehoben werden. Immerhin haben wir in Südtirol Lebenshaltungskosten, die die des gesamtitalienischen Gebietes um 20% übertreffen.

Ist es im privaten Sektor einfacher, weil das Gehalt „Verhandlungssache“ ist, während im öffentlichen Bereich der Spielraum eher begrenzt ist?

Es stimmt, dass im öffentlichen Dienst der Spielraum für die individuelle Verhandlung nur sehr klein ist. Die Lohnelemente sind bestimmt, die Einstufung nach festgelegten Kriterien geregelt und dasselbe gilt für Zulagen für die Koordinierung oder anderen Verantwortlichkeiten. Das macht eine zusätzliche Belohnung der Leistung schwierig. Aber grundsätzlich gilt: Nicht alles ist auf die individuelle Ebene zwischen Mitarbeiter und Vorgesetzten delegierbar. Es bräuchte Landeszusatzabkommen, welche die Branchenlohnuntergrenze regulieren. Wir drängen darauf, dass die Gebietsabkommen in den Südtiroler Branchen die Lohnuntergrenze als Ausgleich die höheren Lebenshaltungskosten anheben. 

Kürzlich wurde der bereichsübergreifende Kollektivvertrag 2019-2021 abgeschlossen. Was beinhaltet dieser?

Der bereichsübergreifende Kollektivvertrag vom 26. Mai bestand vorher aus zwei Teilverträgen. Nun wurde der 3. Teilvertrag unterschrieben. Im Wesentlichen hat man sich hier auf das neue Lohnmodell geeinigt, das für all jene zur Anwendung kommt, die ab 1. Jänner 2024 angestellt werden.

Welche Neuheiten bringt das mit sich?

Dieses Lohnmodell sieht vor, dass die Einstiegsgehälter höher sind, aber die wirtschaftliche Progression flacher verläuft. Ein Mitarbeiter kostet dem Land demnach in einem Lebenszyklus gleich viel, er verdient aber beim Arbeitseinstieg mehr. Die Einstiegsgehälter sind 10% höher. Die Sprünge bei Fortschreiten des Dienstalters sind allerdings nicht mehr so stark wie im aktuellen Modell.  Die politische Entscheidung war es, die Einstiegsgehälter anzuheben.

Was wurde sonst noch erneuert?

Was weniger nach außen gedrungen ist, sind fundamentale Ausnahmeregelungen in Bezug auf den Besitz der Zweisprachigkeit. Bei bestimmten Berufsgruppen, z.B. Ärzten und Sanitätspersonal werden zukünftig Ausnahmen gemacht. Man muss den Nachweis beispielsweise nicht von Beginn an besitzen, sondern kann diesen in einem zweiten Moment nachreichen. So wird eine Zeit für all jene eingeräumt, die diese Voraussetzung nicht sofort mitbringen. Und was auch noch interessant ist: Eine bedeutende Summe soll als Einmalzahlung in den Taschen der öffentlichen Bediensteten landen. Konkrete Beträge wurden allerdings noch keine genannt - man weiß also noch nicht, wie viel die jeweiligen Funktionsebenen hier erhalten werden.

Der öffentliche Dienst hat seit Jahren ein Imageproblem. Ist das mit ein Grund dafür, dass nun Anpassungen gemacht werden mussten, um weiterhin Personal zu finden?

Der öffentliche Dienst steht in der Kritik, aufgebläht zu sein. Er folgt nicht einer privatwirtschaftlichen Logik, weshalb es zu Ineffizienzen kommen kann.  Ich sehe hier aber nicht das Problem, dass der öffentliche Dienst in den nächsten Jahren noch weiterwachsen wird. Auch hinsichtlich des Arbeitskräftemangels, den wir haben. Sehr wahrscheinlich werden nicht alle, die in Pension gehen, auch ein zu eins nachbesetzt werden. Im Gegenteil, wir müssen uns darum bemühen, Dienste weiterhin aufrecht halten zu können. 

Im Vorfeld gab es einige Mobilisierungen. Welchen Zweck verfolgten diese?

Die Mobilisierungen fanden in den letzten Maiwochen im Vorfeld der Unterzeichnung des Vertrags statt, um entsprechenden Druck aufzubauen. Und es ging weiter. Auch am Dienstag, den 6. Juni, kam es in Bozen wieder zu einer Kundgebung mit der Forderung nach höheren Löhnen. Worauf die Gewerkschaft hinarbeitet, ist die Einführung eines Landeslohnelements von 150 Euro brutto pro Monat dort, wo es noch nicht vorhanden ist. Dort hingegen, wo es vorhanden ist, eine entsprechende Aufstockung auf dieses Niveau. 
 

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Josef Fulterer Dom, 06/11/2023 - 16:18

Die aus sehr fernen Zeiten stammenden Steuer-Stufen wären schon längst anzupassen und die %-Steuersätze der Arbeiter*innen zu reduzieren.
Die unter Durnwalder vermehrt eingeführte Beitrags-Vergabe der Landesregierung, zur Steigerung ihres politischen Gewichts, ist bei genauerer Betrachtung eine unsinnige Wertvernichtung:
die Kosten für das Inkasso,
die Bürozüge für das Sammeln, Überprüfen, Kontrollieren und Auszahlungen,
die B I T T- und B E T T E L- G Ä N G E sind Zeitverlust,
+ verleiten zu wenig SINN-vollen Anschaffungen.
In der Summe "sind die BEITRÄGE eine Wertvernichtung von mindestens 3 zu 1."

Dom, 06/11/2023 - 16:18 Collegamento permanente