Società | Sanität

Die Intensiv-Debatte

Das Hickhack um die Kapazitäten auf den Intensivstationen in Südtirol zeigt: Das Verständnis für die Verantwortlichen des Gesundheitssystems schwindet auch intern.
Letto, ospedale
Foto: Pixabay

100. Diese Zahl steht seit Frühjahr 2020 im Raum. Nicht lange nachdem die Corona-Pandemie auch Südtirol erfasst hatte, hieß es: 100 Intensivbetten könnten landesweit im extremen Notfall bereit stehen. Von diesen 100 rücken die Verantwortlichen in Sanitätsbetrieb und Gesundheitsressort nicht ab. Dem Gesundheitsministerium in Rom hat man schon vor geraumer Zeit mitgeteilt, dass in Südtirol 100 Intensivbetten nicht nur möglich, sondern bereits da sind. Ein Spiel mit dem Feuer, das beispielhaft für eine nicht vorhandene Strategie der Verantwortlichen des Sanitätssystems steht, finden immer mehr Insider.

Was steckt hinter dieser Zahl 100, die spätestens seit der offenen Kritik des Intensivmediziners Werner Beikircher an den “Zahlenspielen” für Diskussions- und Zündstoff sorgt?

 

75 minus 6 Intensiv-Betten

 

Die Anzahl und Belegung der Intensivbetten gehören zu den aussagekräftigsten Daten, um die Auswirkungen der Corona-Pandemie zu messen: Sind die Kapazitäten auf den Intensivstationen überlastet, bricht die Gesundheitsversorgung zusammen, Ärzte müssen entscheiden, welche Intensiv-Patienten sie aufnehmen und welche nicht. “Triagieren” nennt sich dieser Vorgang. So wie es im vorigen Frühjahr auch in Teilen der Lombardei passiert ist.

Umso wichtiger ist es, diese Kapazitäten genau zu monitorieren. “Insgesamt können die Intensiv-Infrastruktur auf 100 Betten aufgestockt werden: 80 Betten und rund 20 Reservebetten sind vorhanden.” Mit dieser Rechnung versuchte der Leiter der Covid-19-Taskforce Marc Kaufmann Werner Beikircher zu widersprechen. Der seit Kurzem pensionierte Pusterer Anästhesist war – auch in Rücksprache mit Kollegen in den Krankenhäusern – zum Schluss gekommen, dass in Südtirol maximal 50 Intensivbetten möglich seien. Nicht weil die Ausrüstung fehlte, sondern wegen des Personalmangels. “Wir haben vielleicht die Gerätschaften für 100 Intensivbetten, aber niemals das nötige Personal”, pflichtet Ivano Simioni, Sekretär der Krankenhausärzte-Gewerkschaft BSK/VSK im Gespräch mit der Tageszeitung bei.

salto.bz hat in Erfahrung gebracht, wie es um die Intensiv-Kapazitäten in Südtirol bestellt ist: Aktuell gibt es an fünf Krankenhäusern Intensivstationen (Innichen und Sterzing führen keine) mit folgender Bettenanzahl:

  • KH Brixen: 6 Betten
  • KH Bruneck: 7 Betten
  • KH Meran: 16 Betten
  • KH Schlanders: 4 Betten
  • KH Bozen: 18 Betten in der “alten” Intensivstation + maximal 24 Betten in der neuen Covid-Intensivstation

Das macht insgesamt 75 existierende Intensivbetten. 25 davon (7 Betten in Meran sowie die gesamte “alte” Intensivstation in Bozen) werden für die Versorgung von Nicht-Covid-Intensivpatienten freigehalten. Die restlichen 50 werden für die Versorgung von Covid-Intensivpatienten benötigt. Auf der neuen Covid-19-Intensivstation in Bozen sind allerdings nur 18 Betten aktiv. 6 Betten sind geschlossen, weil das dafür notwendige Personal nicht vorhanden bzw. noch nicht eingeschult ist.

 

Pulverfass Personal

 

“Für zehn Patienten braucht es zwei bis drei Intensivmediziner, ein Patient braucht zwei Pfleger”, rechnet Simioni vor. Und die können nicht einfach von anderen Abteilungen abgezogen werden, wie es Gesundheitslandesrat Thomas Widmann immer wieder in Aussicht stellt.

In einem Kommentar auf salto.bz gab Simioni jüngst folgendes zu bedenken: “Intensivmedizin ist ein eigenes und komplexes Fachgebiet, es ist nicht möglich ‘einfach so’ IntensivmedizinerInnen mit anderen ÄrztInnen zu ersetzen. Wurden Sie jemals von einem Psychiater für eine Operation in Narkose versetzt und während dieser von ihm beatmet? Es gibt auch gesetzliche Vorgaben, die dies verbieten. Die Facharztausbildung dauert bis zu sechs Jahre! Ähnliches gilt für das Pflegepersonal auf diesen Intensivabteilungen. Das sind alles SpezialistInnen und können nicht einfach ersetzt werden. Um die große Intensivabteilung in Bozen zu öffnen, mussten von anderen Intensivstationen Fachärztinnen umgeschichtet werden und die fehlten dann woanders. ‘Die Decke ist kurz und reicht nicht für Füße und Schultern.’ Wie ein Sanitätsbetrieb mit 100 Intensivbetten funktionieren soll, erscheint mir daher aus heutiger Sicht schleierhaft. Jetzt schon sind sehr viele Leistungen für normale Patienten ohne Covid-Infektion reduziert, bzw. aufgeschoben und das Personal arbeitet zum Teil an den Grenzen der Belastbarkeit – auch weil es eben nicht einfach ersetzt werden kann.”

Das bestätigen viele Pflegekräfte, von denen aber kaum jemand offen sprechen will. “Im Frühjahr war die Motivation groß und es hat auch alles gut funktioniert. Aber jetzt ist das Personal zum Großteil müde und ausgelaugt. Man bräuchte eine Auszeit… Und zugleich wollen die anderen Abteilungen ihr Personal zurück”, berichtet ein Intensivpfleger, der selbst für einige Zeit in der Covid-Intensivstation in Bozen ausgeholfen hat.

 

Woher kommen die 100?

 

Unterm Strich stehen derzeit also 44 voll betriebsfähige Betten für Covid- und 25 für Nicht-Covid-Intensivpatienten zur Verfügung. Stand 8. Februar waren 36 Patienten auf den Covid-Intensivstationen. Dazu kommen laut Auskunft von Marc Kaufmann im Corriere dell’Alto Adige 24 Nicht-Covid-Intensivpatienten. “Die Nicht-Covid-Intensivstationen sind so gut wie voll”, bestätigt einer, der die Zahlen bestens kennt. Die Covid-Intensivstationen in Bruneck (7 Betten) und Meran (9 Betten) sind ebenfalls ausgelastet. Auch Schlanders ist beinahe voll. Die wenigen freien Betten verteilen sich auf Brixen und Bozen.

Nach dieser Rechnung sind 60 von 69 Intensivbetten, die aktuell garantiert sind, belegt. Laut Kaufmann sind “80 Betten und rund 20 Reservebetten” vorhanden. In Rom rechnet man fest damit, dass 100 Intensivbetten aktiviert sind. Wie aber kommt diese Zahl zustande? Eine reine “Fantasiezahl”, wie es Werner Beikircher nennt, wird diese 100 nicht sein. Oder? “Die von Landesrat Widmann vorgegebenen 100 Betten beziehen sich auf die Belegung von Aufwachräumen und OP-Sälen”, erklärt ein Insider, “mit den entsprechenden gravierenden Einschränkungen für Nicht-Covid-Patienten, bei denen keine Eingriffe, keine OPs durchgeführt werden könnten, genausowenig wie Notfälle behandelt werden könnten”. Doch davon abgesehen fehlt, wie auch im Sanitätsbetrieb nicht abgestritten werden kann, das Personal.

“Mit dem derzeitigen Personal können vielleicht bis zu maximal 70 Intensivbetten betreuet werden – zu behaupten, wir könnten in Südtirol 100 Covid-Intensivpatienten versorgen, ist nicht nur eine reine Illusion, sondern wäre sogar fahrlässig”, zeigt Ivano Simioni auf.

Inzwischen wird weiter an den Zahlen herum geschraubt, wie eine jüngste Entwicklung zeigt.


Maxime 30 Prozent


Im April 2020 hat das Gesundheitsministerium eine Warnschwelle von 30% festgelegt: Sind mehr als 30% der verfügbaren Intensivbetten mit Covid-19-Patienten belegt, wird die Situation als kritisch eingestuft. In Südtirol gab es am 8. Februar 36 Patienten auf den Covid-Intensivstationen, am Tag zuvor wurden 35 nach Rom gemeldet.

 

Demnach müsste Südtirol – bei 100 nach Rom gemeldeten Intensivbetten – die Warnschwelle von 30% überschritten haben, die Bettenbelegung müsste aktuell bei 36% liegen (bei 52% wenn die 69 derzeit garantierten Betten herangezogen werden). Liegt sie aber nicht, sondern ist vom 7. auf 8. Februar sogar gesunken und liegt bei 30%. Der Grund dafür: Seit Montag (8. Februar) werden die Patienten auf den Covid-Intensivstationen aufgeschlüsselt. Nicht mehr alle werden nach Rom gemeldet, sondern nur jene Patienten, die als “ICU-Covid” eingestuft sind. Und das sind laut Daten des Sanitätsbetriebs 30. Die restlichen 6, die sich sehr wohl auf der Covid-Intensivstation befinden, aber nicht mehr in die Statistiken einfließen, sind “nicht mehr infiziert”, erklärt der Mitarbeiter der Kommunikationsabteilung des Sanitätesbetriebs Peter Seebacher auf Twitter.

 

Schlafende Sanität?

 

“Hier wird alles versucht, um die Zahlen zu drücken”, so der Verdacht, der hinter vorgehaltener Hand geäußert wird. Dass die Landesregierung im Jänner trotz der Einstufung als “rote Zone” durch das Gesundheitsministerium beschlossen hat, in Südtirol keine Schließungen anzuordnen, dafür gibt es in den Krankenhäusern kein Verständnis. Die Akzeptanz für die Politik von Landesrat Widmann schwindet, die Kritik am Sanitätsbetrieb wird lauter: Dieser habe den Sommer “verschlafen”, um an der Personalsituation etwas zu ändern, etwa durch Umschulungen. “Man hat den Sommer leider nicht genutzt, um das Personal, sprich Ärzte und Pfleger, aufzustocken”, stimmt Ivano Simioni zu.

“Von der Generaldirektion, aber auch vom Landesrat kommen keine Impulse”, bemängelt einer, der auf einer Covid-Intensivstation arbeitet. “Man hat den Eindruck, dass man die ganze Zeit hinterher rennt, immer noch. Es wird nicht vorausgeschaut. Die größten Brände werden gelöscht, ja, aber es gibt kein richtiges Konzept.”