„A room of one's own“
„Wir sehen viele Menschen deshalb nicht, weil wir sie nicht sehen wollen“, meint die Sozialwissenschaftlerin Serena Caroselli. Diese Ignoranz trifft beim Thema Wohnen Frauen mit Migrationshintergrund auf besondere Weise: Es entstehen festgefahrene Bilder und Vorstellungen – und die Angst davor, berührt zu werden oder selbst andere zu berühren.
„Als sich meine Mutter zum letzten, endgültigen Mal dazu entschied, meinen Vater und somit die Wohnung, in der wir aufgewachsen waren, zu verlassen, hat uns eine Bekannte aus dem interkulturellen Garten in Bozen Unterschlupf gewährt. Drei Monate durften wir dortbleiben, meine Mutter, meine Schwester, mein Bruder und ich. Dann hätten wir in eine Wohnung der Caritas im Haus Freinademetz umziehen sollen. Meine Mutter wollte nicht: Das Haus war zu weit weg von ihrer Arbeit, zu weit weg von der Schule, von Hauptstraßen und Einkaufsmöglichkeiten. Sie hatte Angst, uns während ihrer Arbeitszeiten mit den anderen Bewohner*innen – viele von ihnen Männer – alleine zu lassen. Und die gemeinschaftliche Küche und Bad waren ihr unangenehm. Das Programm, dem wir gemeinsam mit den Sozialarbeiter*innen hätten folgen sollen, empfanden wir als einschränkend: Wir hätten uns nicht frei gefühlt, unser Leben so zu leben, wie wir möchten. Wir sind also bei unserer Bekannten geblieben, eingeklemmt zwischen Schuldgefühlen und der verzweifelten Suche nach einer Wohnung.“
Dass der Wohnungsmarkt in Südtirol für viele Menschen kaum zugänglich ist, ist nichts Neues. Wie aus verschiedenen Medienberichten von Ende 2022 hervorgeht, ist es vor allem für Menschen mit Migrationshintergrund schwer, den Schlüssel zu einer eigenen angemessenen Wohnung zu erhalten. Der Fokus der Berichterstattung wird dabei auf die Männer gelegt, die oft als Akteure der Migrationsbewegung – und somit auch als Wohnungssuchende – wahrgenommen werden. Frauen wie Airas* Mutter, die im öffentlichen Diskurs häufig als Opfer der Migrationsbewegungen porträtiert werden, laut den letzten ASTAT-Erhebungen aber immerhin mehr als die Hälfte der ausländischen Bevölkerung stellen, wird beim Thema Wohnen hingegen kaum Beachtung geschenkt.
Um dieses Tabu und die schemenhaften Vorstellungen, die daraus entstehen, aufzubrechen, lässt uns Aira in ihre vier Wände blicken. Dabei steht ihre Lebens- und Wohnsituation nicht stellvertretend für die Situation von Frauen mit Migrationshintergrund in Südtirol; sondern beschreibt ihre eigene, in vielerlei Hinsicht einzigartige Situation. Eine Facette, die den Blick auf Wohnungsmarkt und soziale Hilfestellungen aus einer marginalisierten Perspektive schärft.
Ankunft
„Als meine Mutter und ich meinen Vater 2003 in Italien erreichten – ich war damals zwei Jahre alt, – schneite es. Wir kannten diese Kälte aus unserer Heimat in Bangladesch nicht, hatten keine passende Kleidung und wohnten noch dazu in einer kleinen Ortschaft am Berg. Wir waren alleine. Meine Mutter sprach kein Italienisch oder Deutsch, mein Vater war ständig beschäftigt und auch sonst haben wir nur wenig Unterstützung erfahren. Wenn Mama Besorgungen machen oder zu einem Amt fahren musste, schrieb mein Vater die einzelnen Adressen und entsprechenden Busfahrpläne auf einen Zettel und bläute ihr ein, die erste Person, die ihr über den Weg laufen würde, um Hilfe zu bitten. Wenn sie den Bus verpasste, was häufig vorkam, ging sie zu Fuß in die Stadt.
Wie sie mir später erzählte, war sie damals sehr frustriert. Sie stritt oft mit meinem Vater. Die physische und mentale Belastung machten ihr zu schaffen. Trotzdem hat sie es geschafft, kleinere Arbeiten zu finden und erste Bruchstücke Italienisch zu lernen. Ich weiß nicht, woher sie die Kraft dafür nahm, aber sie war damals 18 und ich glaube, sie hatte viel Mut und Energie. Und sie glaubte fest daran, dass sie in Zukunft ein besseres Leben haben würde.“
Drinnen und draußen
In den darauffolgenden Jahren zog Airas Familie nach Bozen. Ihre Mutter lernte Italienisch und arbeitete, wann immer es die Betreuung von Aira und ihren beiden kleineren Geschwistern zuließ, an der Seite ihres Mannes oder in kleineren Anstellungen. Die wenigen sozialen Kontakte, die sie in dieser Zeit knüpfte, lernte sie über den interkulturellen Garten der Donne Nissà kennen, einer Organisation für und mit Frauen mit Migrationshintergrund mit Sitz in Bozen.
Wie die Leiterin von Donne Nissà, Antonina Marasca, erklärt, wenden sich Frauen unterschiedlicher Herkunft und in verschiedenen Lebenssituationen an die Organisation: „Einige kommen hierher, weil sie Hilfe mit Online-Formularen oder der digitalen Identität SPID benötigen, andere kommen wegen der Kinderbetreuung und wieder andere hören über Bekannte aus der eigenen Community, über ihre Ehemänner oder das Amt für soziale Inklusion (SIS) von uns“, so Marasca. Während manche der Frauen in kürzester Zeit Deutsch oder Italienisch lernen, bürokratische Hürden überwinden oder eine Arbeit finden, bleibt die Wohnungssuche für fast alle ein großes Problem: „Vor allem Frauen, die über einen Asylantrag nach Bozen kommen, wandern jahrelang von einer betreuten Struktur in die nächste“, so Marasca. „Dabei kann es passieren, dass eine Frau – manchmal mit Kindern – in der einen und ihr Mann in einer anderen Struktur hängen bleiben.“
Frauen, die wie Airas Mutter über einen Antrag auf Familiennachzug nach Bozen kommen, stellt sich dieses Problem in einem ersten Moment nicht. Mehr als in eine eigene Wohnung hinein – diese muss beim Zeitpunkt des Antrags gegeben sein – ist es für einige von ihnen schwer, aus der eigenen Wohnung hinauszukommen. Die Gründe dafür sind vielfältig: eigene Ansprüche, Gewohnheiten, familiäre Erwartungen, fehlende Kontakte und Sprachkenntnisse oder das Gefühl, außerhalb der eigenen vier Wände nicht sicher oder nicht willkommen zu sein.
Donne Nissà bietet hier eine Möglichkeit, sich untereinander zu vernetzen. Der Kontakt mit der lokalen Bevölkerung bleibt aber trotz Repair Cafés und im Viertel organisierten Konzertabenden schwierig. Für Marasca fehlt vielen dafür ganz einfach die Zeit: „Wir sind so sehr mit uns selbst und unseren eigenen Zielen beschäftigt, dass keine Zeit bleibt, um uns anderen zu öffnen.“
Autonomie und individuelle Beziehungen
Hilary Solly, Anthropologin und Ideatorin des interkulturellen Gartenprojekts, verlagert dieses Problem auf die Seite der einheimischen Bevölkerung: „Viele möchten mit Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund in Kontakt treten, wissen aber nicht, wohin sie sich wenden sollen. Oder sie haben keine Zeit, um an Gruppenaktivitäten teilzunehmen, könnten aber einige Stunden pro Woche dafür aufwenden, um eine individuelle Beziehung aufzubauen“, so Solly. Laut der Anthropologin müssten Wege gefunden werden, um solche individuellen Beziehungen zu ermöglichen, von denen sowohl die einheimische als auch die ausländische Bevölkerung profitieren würde: „Wer sich in bürokratischen, rechtlichen oder anderen Fragen unkompliziert an eine Person wenden kann, die Sprache und kulturelle Normen kennt, kann sich Zugang zu einzelnen Institutionen und Rechten verschaffen und einen eigenen Handlungsspielraum aufbauen.“
Der interkulturelle Garten stellt hier einen der wenigen Knotenpunkte dar, der von der einheimischen Bevölkerung mitbenutzt wird und auch dann funktioniert, wenn man sprachlich auf keinen gemeinsamen Nenner kommt: „Es ist eine sehr lockere Situation. Jede*r hat eine eigene Parzelle, die sie alleine oder gemeinsam mit anderen bewirtschaften. Wir arbeiten selbstständig, helfen uns manchmal gegenseitig, tauschen uns aus oder eben nicht. Niemand wird unter Druck gesetzt, jetzt etwas tun oder sagen zu müssen oder zu bestimmten Uhrzeiten irgendwo zu erscheinen“, so Solly, die vor allem die Autonomie der Nutzerinnen unterstreicht. Auf diese Weise können aus spontanen Begegnungen Beziehungen entstehen. Eine Tatsache, die Airas Mutter zu nutzen wusste.
Zwischen Wohnungsnot und Gewalt
„2018 sind wir zum ersten Mal von zu Hause weg. Mein Vater hatte angefangen, seine Hand gegen meine Mutter zu erheben. Irgendwann – ich hatte unzählige Male versucht, ihn davon zu überzeugen, meine Mutter in Ruhe zu lassen, ihn zu überzeugen, dass sie keine Schuld, aber Rechte hat, – haben wir uns an die Anlaufstelle gegen Gewalt an Frauen (GEA) gewandt und kamen so ins Frauenhaus nach Meran. Meiner Mutter gefiel es dort überhaupt nicht. Wir waren zu viert in einem Zimmer, haben uns Küche und Wohnzimmer geteilt und in einem Gemeinschaftsraum gegessen. In der ersten Woche durfte ich nicht zur Schule gehen, weil sie Angst hatten, dass mir mein Vater etwas antun würde – für mich war diese Vorstellung damals wie heute absurd. Auch in den darauffolgenden Wochen war es für uns schwierig, von Meran aus weiter zur Schule zu gehen. Eine eigenständige Wohnung war zu dem Zeitpunkt unerreichbar. Deshalb entschied meine Mutter – von der Situation im Frauenhaus und ihrer Familie unter Druck gesetzt, – zurück zu meinem Vater zu gehen.“
Wie die Leiterin der Anlaufstelle gegen Gewalt an Frauen (GEA), Christine Clignon, erklärt, bietet GEA zusammen mit anderen Strukturen in einem ersten Moment eine sichere Unterkunft; diese wurden 2022 von 21 Personen genutzt, 2021 lag die Zahl bei 246 Personen. Langfristig sei es aber schwierig, eine passende Lösung zu finden: „Die Frauen – häufig mit Kindern – verbringen oft viele Monate in den verschiedenen Strukturen. Strukturen, die wegen fehlender Ressourcen mitunter die Bedingungen der Istanbul-Konvention nicht erfüllen“, so Clignon. Für manche – wie auch für Aira und ihre Mutter – ist die Realität in einer betreuten Struktur, die ein Sozialprogramm und Gespräche über die erfahrenen Gewaltsituationen voraussetzt, eine zusätzliche Belastung. Eine Tatsache, die auch Volontarius-Mitarbeiterin und Leiterin der Casa Conte Forni, Anastasia Routou, unterstreicht: „Menschen aus anderen Strukturen wenden sich an uns, da sie hier autonomer leben können“, so Routou.
Eine eigenständige Wohnung war unerreichbar.
Weil viele der Frauen, die in Wohnungsnot geraten, einen Migrationshintergrund haben, wird die Suche nach einer eigenständigen Wohnung zusätzlich gebremst: „An uns wenden sich vor allem Frauen, denen materielle Ressourcen oder Kontakte fehlen, auf die sie in einer Notsituation zurückgreifen können“, so Clignon. Eine Realität, die Frauen mit Migrationshintergrund häufiger trifft als andere und die zusammen mit rassistischen Vorurteilen auf dem Wohnungsmarkt die Wohnungssuche erschwert.
„Im Frühling 2020 hat meine Mutter nochmals versucht, von zu Hause wegzugehen. In den darauffolgenden fünf Monaten sind wir dreimal umgezogen. Anfangs wurden wir in verschiedenen Touristenwohnungen untergebracht. Dort mussten wir aufpassen, nichts kaputtzumachen und man hat uns verboten, stark gewürzte Speisen zu kochen, da der Geruch in den Wänden hängen bleiben würde. Auch wenn wir genügend Platz hatten, waren die Umzüge zwischen den einzelnen Wohnungen – mit all den Büchern, Kleidern und Küchengeräten – sehr schwierig. Meine Mutter hatte damals bereits eine Arbeit und hatte angefangen, die volle Verantwortung für uns zu übernehmen. Sie ging selbstständig zu den verschiedenen Ämtern und öffentlichen Diensten, füllte Formulare aus, verstand die Wichtigkeit der einzelnen Dokumente, erhielt Post, las Briefe und gab deren Inhalt wieder und erschien rechtzeitig zu Abmachungen. Sie kümmerte sich um ihr Einkommen, darum, wie viel wir ausgeben durften und wie viel wir sparen mussten. Um all das, worum sich all die Jahre mein Vater gekümmert hatte, kümmerte sie sich jetzt selbst.
Aber auch in dieser Zeit erhielt sie immer wieder Anrufe von ihrer Familie, der Familie meines Vaters, Freunden, die sie dazu drängten, zu meinem Vater zurückzugehen. Meine Mutter war erschöpft, frustriert, sie lebte nur noch für uns. Als wir nach einem Jahr wieder im Frauenhaus – diesmal in Bozen – landeten, entschied sie, es nochmals mit meinem Vater zu versuchen.“
A room of one’s own
Heute studiert Aira an einer italienischen Universität. Abends, nach den Vorlesungen kehrt sie nach Hause zurück, – einer kleinen Zweizimmerwohnung in Bozen, in der sie sich mit ihrer Mutter, die sich mittlerweile endgültig vom Vater getrennt hat, und ihrer Schwester ein Zimmer teilt. Ihr Bruder, der die Oberschule besucht, schläft im Wohnzimmer auf dem Sofa. Nach rund neun Monaten eingeklemmt zwischen Schuldgefühlen und der verzweifelten Suche nach einer Wohnung, Hunderten Anrufen, Mails und Maklergesprächen haben sie diese Wohnung gefunden. Die Vermieterin, eine Bekannte der Bekannten aus dem interkulturellen Garten, die für sie bürgt. Aira ist erleichtert, dass ihre Mutter den Schritt gewagt hat, der häuslichen Gewalt zu entfliehen. Und erleichtert, dass sie endlich eine eigenständige Wohnung gefunden haben. Trotzdem hat das Ganze einen bitteren Beigeschmack: „Ich bin es gewohnt, mich selbstständig um Dinge zu kümmern. Bei der Wohnungssuche waren wir gezwungen, uns auf die Hilfe anderer zu verlassen. Das ist kein schönes Gefühl. Ich fühle mich, als wäre ich nicht fähig.“ Und es bleibt schwierig: „Vor allem für meinen Bruder ist es schwierig, auf so engem Raum und ohne wirkliche Privatsphäre zusammenzuleben“. Dabei hätten sie sich eigentlich auch eine größere Wohnung leisten können: „Mit den zwei Teilzeitjobs kann meine Mutter eine größere Wohnung bezahlen, aber niemand ist bereit, ihr eine zu vermieten“, so Aira, „vielleicht, weil wir zu laut sind, vielleicht, weil unser Essen zu stark riecht oder weil sie glauben, dass meine Mutter die Kosten auf Dauer nicht stemmen kann.“
Manche gaben uns das Gefühl, keine eigenständigen Entscheidungen treffen zu können.
Wo die häusliche Gewalt aufhört und die Rettungsnetze der öffentlichen und privaten Einrichtungen ihren Grip verlieren, beginnt also eine andere Form der Gewalt: Die Gleichgültigkeit einer Gesellschaft, die sich nur um jene Menschen kümmert, die ihnen bereits nahestehen. Für Caroselli ein Ausdruck von Rassismus: „Wir sehen viele Menschen deshalb nicht, weil wir sie nicht sehen wollen. Wir schauen weg, weil es uns egal ist. Vielleicht haben wir auch Angst vor dem, was wir nicht kennen oder Angst, dass Werte und Wohlstand infrage gestellt werden. Dabei ignorieren wir die Ressourcen, die andere Menschen in unser Leben, in unsere Gesellschaft bringen können.“ Und weiter: „Vielleicht ist es in Südtirol auch Angst, die eigene Identität zu verlieren.“ Eine Angst, die sich nur bekämpfen lässt, wenn man sich anderen öffnet und gesellschaftliche und institutionelle Möglichkeiten bereitstellt, um festgefahrene Bilder und Narrative zu verändern.
„Nach all dem, was wir bestritten haben, habe ich gesehen, dass es Anlaufstellen gibt, die in einer Notsituation helfen, diese aber nicht lösen können. Manchmal sind sie gar nicht in der Lage, Auskunft zu geben. Es gab viele Menschen, die uns von Herzen geholfen haben und andere – Menschen, die uns hätten helfen sollen –, die uns das Gefühl gaben, keine eigenen Entscheidungen treffen zu können. Es gab viele Momente, in denen wir uns unwohl fühlten. Aber um aus so einer Situation herauszukommen, sind Mut und Hoffnung unentbehrlich. Sonst brauchst du eine Person, die dir sehr nahe steht, die dich versteht und den Mut hat, mit dir zu kämpfen.“
*Der Name wurde von der zebra.-Redaktion geändert.