Cultura | Wien - Theater

Eine Revolution aus dem Staubbeutel

Dantons Tod von Georg Büchner im Wiener Burgtheater



Wien, am 30. März 2015, 20 Uhr. Ich sitze im Burgtheater in der Loge und warte darauf, dass das Stück von Georg Büchner beginnt, das der damals 22jährige Autor von Mitte Januar bis Mitte Februar 1835 verfasst hat, und das die Ereignisse in Frankreich vom 24. März bis zum 5. April 1794, einem der Höhepunkte der sog. Schreckensherrschaft während der Französischen Revolution, verhandelt.
Kurz zum Inhalt: Danton, ein gemäßigter Liberaler und Bonvivant, steht dem radikalen Robespierre gegenüber, der die Revolution mit allen Mitteln durchziehen will. Beide gehören den Jakobinern an, die Gegner der zur Kooperation mit dem König bereiten Girondisten. Frankreich ist in Aufruhr, die Lager sind gespalten, und die politischen Gegner werden kurzum an der Guillotine beseitigt. Der Sturm auf die Bastille ist 5 Jahre her, durch die Uneinigkeit der Vertreter des Volkes überschwemmt ein Blutmeer Frankreich.
Der Tod ist allgegenwärtig, Danton ist (lebens)müde, seine Gegner haften ihm an den Sohlen. In der Inszenierung von Jan Bosse wirkt der sich mit weißem Lehm bedeckende Danton von Anfang an schon tot, sein Schauspiel wirkt verstaubt, es wirkt wie von einer vergangenen Zeit, so wie dem gesamten Stück ein modriger Geschmack anhaftet. Wer sind diese Figuren, die sich dermaßen pathosbeladen der Freiheit des Menschen (und gleichzeitig der eigenen Wollust wie Danton) opfern, wer sind sie, denen das Blutvergießen als einzig möglicher Weg erscheint (Robespierre)? Bosses Inszenierung, die im Oktober 2014 uraufgeführt wurde, sucht keine Spuren im Heute, er sucht keine Parallelen zu den Revolutionen und politischen Siedepunkten der Neuzeit, keine IS, keine Ukraine, kein Arabischer Frühling, kein Occupy. Der geschaffene Raum ist ein befremdend fremder, ein "Kunst-Raum", der durch sich durch seine Künstlichkeit selber zum Tode verurteilt.
Erst dann, wenn plötzlich ein Eindruck von Heute, so wie das von Jasna Fritzi Bauer gesungene Lied "Le vent nous portera" von Noir Désir sich seinen Weg bahnt, dann wacht man wieder aus diesem Schlummer auf, weil es frisch ist, weil es einen Widerhall produziert.
Selten gelingen solche Momente in diesem Stück. Das Ensemble wendet sich zwar wiederholt ostentativ an das Publikum, wie wohl auch die Revolutionsführer vor dem Volk ihre Reden geschwungen haben, aber unser postmodernes, gespaltenes Herz scheint sich demgegenüber verschlossen zu haben. Auch haben diese Reden etwas derart philosophisch Verallgemeinerndes, dass der literarische Nutzen höher ist als ein politischer. Aber sogar dieses literarische Plus geht an diesem Theaterabend zum Teil verloren, gerade dadurch, dass ein so pausenloses Rezitieren stattfindet, ein Beschuss des Publikums mit gewundenen Sätzen, dass man sich demgegenüber einfach irgendwann verschließt. Ich habe teils die Augen verschlossen, um dem Text mehr Raum geben zu können, oder die Ohren verschlossen, um ein Bild aufnehmen zu können.
Wir befinden uns in "Dantons Tod" in einer Zeit, in der zunehmend die Abschaffung Gottes diskutiert wurde, und Beweise dafür anhand logischer Denkoperationen gesammelt wurden. Auch 200 Jahre später wirkt die Auflistung dieser in der Inszenierung gar nicht unspannend: Wenn Gott die Welt geschaffen hat, dann hätte er sich an einem bestimmten Punkt in der Zeit zu einer Veränderung entscheiden (aufraffen?) müssen und wäre tätig geworden und hätte auch gleichzeitig die Ewigkeit beschnitten und zur Zeitlichkeit verdammt. Warum aber denken wir uns Gott wie einen tätigen/produktiven Menschen? Und wenn Gott die Welt geschaffen hat, warum hat er, das Vollkommene, solch Unvollkommenheit zustande kommen lassen? Warum leiden wir? Gott müsste daraufschließend alles sein, vollkommen und unvollkommen, gut und böse zugleich, was sich aber gegenseitig zum Nichts aufhebt, usw. Ignaz Kirchner gibt einen souveränen Thomas Payne, und endlich hört man auch ohne Anstrengung auch in den hinteren Reihen gut.
Georg Büchner hat das Stück 40 Jahre nach dem Ausbruch der Revolution in kürzester Zeit verfasst. Was berichtet uns dieses Stück von der Revolution? Drängt es uns in eine Position oder nicht? Und was heißt es, die Revolution im Theaterraum zu verhandeln? Unterm Strich laviert das Stück an der goldenen Mitte entlang, es zeigt die Widersprüchlichkeiten der Personen auf, die an Revolutionen beteiligt sind, es macht sie weder zu guten noch zu eindeutig schlechten Menschen. Es zeigt, wie sich der Mensch in der Revolution die Hände dreckig macht, und wie der Idealismus gefährlich werden kann. Es zeigt die individuelle Angst vor dem Tod, es dekonstruiert Heldentum & weist die verallgemeindernde Geschichte in ihre Schranken. Eine solche durchdeklinierte und psychoanalysierte Revolution ist aber auch eine, die in Schubladen verstauben darf, und wir brauchen ganz andere Werkzeuge und Ideen, um eine neue, im Jetzt stattfindende Revolution zu imaginieren.*
"Dantons Tod" ist ein aufgeklärter Theaterabend, ein politisch korrekter, der leider so wenig provoziert und aneckt und aufwirft, dass es um den ganzen betriebenen Aufwand schon fast schade ist.

*Der Philosoph Armen Avanessian, seit 2014 Chefredakteur des Merve-Verlags, stellt in einem Interview z.B. den Akzelerationismus vor: ein Mitgehen/laufen mit der Beschleunigung und ihr eine progressive und sinnvolle Richtung geben, technische Versiertheit, Mut zur Vorstellung einer anderen, neuen Zukunft, tatenlose Kritik verwerfen.
"Zentraler erscheint mir, andere Formen der Zusammenarbeit und des gemeinsamen Nachdenkens zu finden. Ein wichtiges Arbeitskonzept im akzelerationistischen Denken sind Plattformen. Da wird nicht gesagt, wie etwas gemacht werden sollte, sondern damit wird konkret etwas anderes gemacht. Man versucht, zu einer experimentellen Praxis des gemeinsamen Arbeitens zu finden. Ich will mit Jean-Luc Godard sagen, es braucht weniger akademische politische Theorie, sondern eine Politisierung der akademischen Theorie. Politik bedeutet, das Feld, in dem man arbeitet, zu politisieren und Konflikte hervorzurufen. Ich brauche keine Utopien zu entwerfen, es reicht doch, wenn ich sage, hier tuts weh und dagegen wehre ich mich mit dieser kurzfristigen Taktik, und vielleicht habe ich sogar noch eine weiterführende Strategie, wo ich hinwill. Einen utopischen Raum zu imaginieren, der völlig ausserhalb ist, und mich ständig zu wundern, dass dieser nie Realität wird – ergibt das wirklich Sinn?"

Photo credits: Reinhard Werner