„Mehr Orgeln als Organisten“

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SALTO: Herr Walder, die Kirche durchlebt schwere Zeiten – vor allem in Europa. Wie steht es um die Kirchenmusik in Südtirol?
Heinrich Walder: Wir als Verband der Kirchenmusik Südtirol beobachten die Entwicklungen genau und versuchen, die Kirchenmusik in jederlei Hinsicht zu fördern. Die Situation derzeit ist problematisch. Der Grund hierfür ist – wie von Ihnen bereits angesprochen – in erster Linie die Entfremdung der Gesellschaft zur Kirche. Wenn wir zum Beispiel konkret die Kirchenchöre hernehmen, zeigt sich zudem, dass die Bereitschaft, jedes Wochenende in der Kirche zu singen, abnimmt. Neben den Auftritten am Wochenende kommen auch die Proben noch dazu. Trotzdem gibt es heute in Südtirol noch 324 Kirchenchöre. Wir befinden uns derzeit zwar in einer Krise, aber ich bin der Meinung, dass wir diese Krise überwinden werden, wie jede andere auch. Die Kirchenchöre in unserem Land leisten Außerordentliches, sie verschönern mit ihrem würdigen, wichtigen und ehrenamtlichen Dienst durch das ganze Kirchenjahr die Liturgiefeiern der Sonn- und Festtage und leisten damit auch einen großen Beitrag für die Pfarrgemeinde, für die Dorfgemeinschaft und generell für das kulturelle Leben in unserem Land. Außerdem stehen wir in Südtirol, im Vergleich zum deutschsprachigen Ausland, immer noch gut dar.
Woran liegt das?
Es gibt viele Musikvereine – sei es Männerchöre, Musikkapellen oder andere – die am Wochenende wenig Tätigkeit haben. Kirchenchöre hingegen müssen Woche für Woche auch an den arbeitsfreien Tagen ausrücken. Die Tendenz in der Gesellschaft geht in meinen Augen dahin, dass man das Wochenende der Erholung, den Hobbys oder der Familie widmen möchte. Regelmäßige Verpflichtungen finden hier keinen Platz und die Bereitschaft dafür geht verloren. Außerdem beobachte ich, dass die Menschen an Feiertagen immer häufiger wegfahren.
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Zur Person
Heinrich Walder war langjähriger Domkapellmeister von Brixen und Professor für Kirchenmusik am Konservatorium in Bozen. Mittlerweile leitet er ehrenamtlich den Verband und die Diözesankommission für Kirchenmusik.
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Vor allem mit jungen Menschen hat die Kirche zunehmend ein Problem…
Ja, die Jugend verliert immer mehr den Bezug zur Kirche. In der heutigen Zeit gibt es so viele Freizeitangebote und Vereine, dass die Kirchenvereine auf der Strecke bleiben. Zudem kann ich mir vorstellen, dass das klassisch-traditionelle Repertoire der Kirchenmusik vielen jungen Leuten weniger zusagt. Wobei ich auch sagen muss, dass ich einige Kirchenchöre kenne, die einen Kinder- oder Jugendchor haben und es schaffen, die neuen Generationen für diese Art der Musik zu begeistern. Ich persönlich bin natürlich ein Verfechter der klassischen Kirchenmusik, wenn man aber die Jugend ansprechen will, muss man auch andere, modernere musikalische Formen aufführen.
Wünschen Sie sich mehr Unterstützung vonseiten anderer Musikvereine, um den Musikdienst während der Gottesdienste zu gewährleisten und die Kirchenchöre zu entlasten?
Als ich noch Domkapellmeister in Brixen war, war ich auch Leiter eines Kammerchors, weshalb mir die Idee kam, diesen aktiv in die Gottesdienste einzubeziehen. In der Adventszeit habe ich jeden Tag eine andere musikalische Umrahmung organisiert, egal ob Männerchor, Instrumentalgruppe, profaner Chor oder Ähnliches, das hat auch gut funktioniert. Während des restlichen Jahres ist so ein Projekt schon schwieriger. Andere Vereine haben zudem oft auch andere Verpflichtungen zu bestimmten kirchlichen Festtagen. Einen Versuch wäre es aber wert. Eine andere Idee wäre, mehrere Chöre zusammenzuschließen, zumal auch Pfarreien aufgrund des Priestermangels vermehrt zu Seelsorgeeinheiten zusammengenommen werden. Der große Chor könnte dann jeweils in jene Kirche zum Singen hingehen, wo der Gottesdienst gefeiert wird, zumal oft nicht mehr in jedem Dorf immer eine Messe stattfindet.
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Sie sprachen von den Herausforderungen der Chöre, wie steht es um die Organisten?
Es gibt heute kaum noch Chöre, die jede Woche in der Kirche singen. Ein festangestellter Organist ist hingegen noch viel stärker in den Dienst der Kirche eingebunden, hat quasi keine Pause. Das schreckt ab. Die Generation jener Organisten, die viele Jahrzehnte ihres Lebens für den Dienst ihrer Kirche gegeben haben, sterben aus. Ich bin der Meinung, dass wir in Südtirol mittlerweile mehr Orgeln als Organisten haben – die Zahl der Organisten befindet sich leider in einem Abwärtstrend. Natürlich gibt es sie noch, auch junge. Bei den Organisten besteht aber oft genau dasselbe Problem wie bei den Chören: Die Bereitschaft zur Regelmäßigkeit, die früher selbstverständlich war, fehlt. Zudem ist bekannt, dass die Orgel eines der komplexesten Instrumente und somit nicht einfach zu spielen ist, schließlich muss mit allen vier Gliedmaßen gespielt werden. Wir haben es hier also mit keinem einfachen Lernprozess zu tun. Pianisten gibt es noch und nöcher in unserem Land, der Schritt hin zur Orgel wird aber nur selten gemacht. Auch das war früher anders. Als ich 16 Jahre alt war, wollte ich Pianist werden. Mein Vater sagte damals, dass man mit diesem Berufsbild in Südtirol nichts anfangen könne und ich stattdessen Orgelunterricht nehmen soll, denn als Organist habe man immer eine Gemeinde, die einem zuhört.
„Es gibt nichts Schöneres, als Orgel zu spielen.“
Ist die Orgel überhaupt noch ein zeitgemäßes Instrument?
Es gibt nichts Schöneres, als Orgel zu spielen. Man sitzt an seinem Instrument und ist komplett in den Klang, den man mit Händen und Füßen produziert, involviert. Dieser Klang trägt einen fort, die Orgel ist wahrlich ein faszinierendes Instrument. Die finanzielle Entschädigung für Organisten ist bei uns dagegen leider verbesserungswürdig.
Wie werden junge Organisten rekrutiert?
Der Verband der Kirchenmusik hat eine Reihe an Initiativen ins Leben gerufen, um die Kirchenmusik zu fördern. Speziell zum Thema Orgel gibt es das Projekt „Orgel Unlimited“, in dessen Rahmen wir in den Mittelschulen des Landes die Orgel vorgestellt wird. Dabei müssen die Kinder ein Quiz beantworten, dürfen selbst auf der Orgel spielen und können am Ende selbst eine Orgelpfeife zusammenbauen und mit nach Hause nehmen. Neben solchen Initiativen gibt es natürlich auch den zweijährigen kirchenmusikalischen Lehrgang. Aktuell haben wir im Rahmen dessen acht oder neun angehende Chorleiterinnen und Chorleiter. Des Weiteren gibt es auch Fortbildungen für Chorleiter und Dirigenten. Ein Problem, das ich sehe, ist, dass es den Beruf als Kirchenmusiker nicht gibt und dadurch die Hemmschwelle, eine dahingehende Ausbildung abzuschließen, steigt. Denn man muss sich natürlich immer die Frage: Was mache ich mit diesem Abschluss, diesem Diplom? Aus meiner Erfahrung als Professor für Kirchenmusik am Konservatorium kann ich sagen, dass auch bei der Berufsausbildung die Zahl der Interessierten abnimmt.
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Auch Chorleiter sind mittlerweile Mangelware in Südtirol.
Sie sagen es: Nicht nur Organisten werden händeringend gesucht, sondern auch Chorleiter. Beim Verband bekommen wir vermehrt Anfragen von Chören, die sich nach Chorleitern erkundigen. Ich vermute hier wie bei den Chören und den Organisten dasselbe Phänomen: die Bindungsverweigerung und die Entfremdung zur Kirche.
Sie waren selbst langjähriger Domkapellmeister in Brixen. Was gibt einem dieser Beruf?
Ich habe sowohl ein Diplom in Kirchenmusik als auch für die Orgel absolviert. Danach musste ich mir also die Frage stellen, ob ich Chorleiter oder Organist werden will. Ich habe mich dann für die Chorleitung entschieden, denn im Bereich der Chormusik ist die geistliche Musik einfach die schönste Musik, sie hat das reinste Repertoire. Das hat mich fasziniert. Als ich den Posten als Domkapellmeister bekommen habe, war ich überglücklich, denn durch den Domchor hatte ich die Möglichkeit, die großen Werke der Kirchenmusik aufzuführen. Ich denke heute noch gerne an diese Zeit voller Begeisterung und Freude zurück. Ich konnte meine Begeisterung für die Kirchenmusik in vollen Zügen ausleben.
„Mir ist egal, wenn ein Komponistenkollege zu mir sagt, ich sei reaktionär oder konservativ.“
Sie sind auch Komponist. Was bedeutet es im 21. Jahrhundert, Komponist für Kirchenmusik zu sein?
Ich habe erst im Alter von 60 Jahren mit dem Komponieren begonnen. Ich sehe mich selbst nicht als zeitgenössischen Komponisten. Ich weiß um den Geschmack der Sängerinnen und Sänger und schreibe deshalb Gebrauchsmusik. Ich schreibe nichts für die Schublade, meine Werke sind fürs Aufführen in den Kirchen gemacht. Und da ist mir egal, wenn ein Komponistenkollege zu mir sagt, ich sei reaktionär oder konservativ. Das Komponieren ist eine Genugtuung für mich, da ich mich erstens weiterhin musikalisch ausleben kann und zweitens ein geistiges Vermächtnis hinterlasse.
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