Das Kündigungsrecht.
Ein Argument, das neben jenem der „Verfassungswidrigkeit“ stets gegen die katalanische Unabhängigkeitsbewegung – und nicht nur gegen diese – ins Treffen geführt wird, ist der befürchtete Dominoeffekt. „Wenn wir die Sezession erlauben, würden andere folgen und viele Staaten würden zerfallen“. Auf dieses Argument hätte ich zwei mögliche Antworten parat:
Antwort 1
„Na und? Wo liegt das Problem?“ Wenn wir alle eine konsequent demokratische Einstellung an den Tag legen und den Mehrheitswillen von Bewohnern nach Selbstbestimmung trachtender Territorien anerkennen, können wir Sezessionen doch ganz entspannt sehen. Die „Einheit der Nation“ ist ja kein physikalisches Gesetz, noch berührt sie irgendwelche Grundreche. Staatsgrenzen verändern sich laufend und warum sollten die meist durch Kriege entstandenen Verwaltungsgrenzen im 21. Jahrhundert in einem vereinten Europa nicht demokratisch festgelegt werden? Auch die Angst vor einem Rückfall in die mittelalterliche Kleinstaaterei wäre unbegründet, da es sehr unwahrscheinlich ist, dass sich die neuen (Klein)-Staaten angesichts der Globalisierung in irgendeiner Weise isolieren würden. Vielmehr haben sie ein verstärktes Interesse an einer auf den Prinzipien des Föderalismus und der Subsidiarität basierenden europäischen Integration als die großen Flächenstaaten, die bis zu einem gewissen Grad auch alleine überleben können. Die Europäische Union sollte solch „internen Erweiterungen“ also positiv gegenüberstehen, die Entwicklung als Chance gegen die derzeitige institutionelle Krise begreifen und die neuen Staaten umgehend als Mitglieder anerkennen (falls diese das möchten). Deren Bewohner sind ja bereits EU-Bürger, sie verwenden den Euro und sämtliches EU-Recht ist bereits umgesetzt. Es gibt keinen Grund für langwierige Beitrittsverhandlungen. Die EU bräuchte lediglich ein standardisiertes Prozedere.
Antwort 2
„Ein garantiertes Sezessionsrecht auf allen Ebenen ist ein guter Garant für stabil funktionierende Staaten und sozialen Frieden.“ Was auf den ersten Blick etwas paradox klingt, ist bei genauerer Betrachtung völlig logisch und in anderen Bereichen unseres Zusammenlebens (Ehe, Wirtschaft, Gesellschaftsleben usw.) längst umgesetzt. Die Feststellung beruht auf der in unseren Breiten gängigen Annahme, dass Zwang auf Dauer demotivierend und kontraproduktiv ist.
Stellen wir uns ein Unternehmen vor, in dem die Mitarbeiter zur Arbeit gezwungen werden und sie jeden noch so niedrigen Lohn sowie sämtliche widrigen Arbeitsumstände akzeptieren müssen, weil es kein Kündigungsrecht gibt. Mehr noch, sie sind vertraglich gezwungen, ihr ganzes Leben für dieses Unternehmen zu arbeiten.
Wie motiviert würden die Arbeiter in einem solchen Betrieb wohl zu Werke gehen? Welche „Incentives“ hätte die Unternehmensführung angesichts ihrer Machtposition ein angenehmes Arbeitsklima zu schaffen oder den Arbeitnehmern entgegenzukommen, wo sie doch stets nur darauf verweisen muss, dass der Arbeiter nicht kündigen kann? Würde es früher oder später nicht zu Aufständen kommen?
Was die Staatsorganisation betrifft, folgen wir somit einer Logik aus vorindustriellen Zeiten, in denen die nunmehrigen Errungenschaften der Arbeiterbewegung als herannahender Untergang interpretiert wurden.
Stellen wir uns nun ein zweites Unternehmen vor, in dem die Mitarbeiter freiwillig zur Arbeit kommen und jederzeit von ihrem Kündigungsrecht Gebrauch machen können. Sie haben die Möglichkeit zu einem anderen Betrieb zu wechseln oder sich selbstständig zu machen.
Wäre dieses Unternehmen nicht wesentlich produktiver und auch stabiler als das erste, da alle Seiten im Gegensatz zum Zwangsbetrieb ein inhärentes Interesse an konstruktiver Zusammenarbeit haben? Würde es je zu Rebellionen gegen die Unternehmensführung kommen? Wäre es nicht sogar wahrscheinlicher, dass in einem solchen Unternehmen die Mitarbeiter viel loyaler sind und auch einmal freiwillig Überstunden leisten, um für einen Kollegen einzuspringen oder eine Zeit lang auf Teile ihres Lohnes verzichten, wenn es im Unternehmen einmal nicht so gut laufen sollte?
Gleichzeitig wäre ein allgemeines Sezessionsrecht auch ein guter Parameter wo die Schmerzgrenze für eine konstruktive Kooperation liegt. Sollten sich die Partner trotz guter struktureller Voraussetzungen dennoch überworfen oder entfremdet haben – was durchaus passieren kann und nicht „Schuld“ einer Seite sein muss, macht es in letzter Konsequenz nämlich wenig Sinn, sie durch (einseitigen) Zwang beisammen zu halten. Dann wäre es Zeit für eine organisierte Scheidung.
Harald, ich bin ganz bei Dir,
Harald, ich bin ganz bei Dir, dass dort, wo es nur kleine Hürden gibt, sich Spannungen nicht zu ernsten Konflikten aufbauen können. Kleinere Hürden sind deshalb wünschenswert und vernünftig. Allerdings gibt es auch die Kehrseite der Medaille: Trennungen haben immer einen Preis, nicht nur finanzieller Natur, und können in einer geschlossenen Gemeinschaft wie der EU nie und nimmer das Aufkündigen der Solidarität bedeuten. In der jetzigen EU stemmen sich bekannte Stakeholder gegen eine Transferunion, ein Gebilde, das Dein Beitrag wohl implizit voraussetzt. Katalonien steht also im Verdacht, seinen "Unterhaltszahlungen" an Restspanien nicht nachkommen zu wollen, den Preis für die Trennung nicht selbst tragen zu wollen, weil derzeit die Solidarität der EU-Mitgliedsstaaten eher ein flüchtiger Begriff ist. Vielleicht sollte man sich eingehender mit den "Pflichten der Sezessionisten" auseinander setzen. Rechte und Pflichten gibt es halt nur im Doppelpack. Sympathien verdient man sich mit Einhaltung letzterer, nicht unbedingt mit dem Einfordern ersterer (an die Katalanen gerichtet).
In risposta a Harald, ich bin ganz bei Dir, di Benno Kusstatscher
ich denke, dass die von dir
ich denke, dass die von dir angekreideten haltungen, resultat des zwangssystems sind. man kennt das z.b. von veranstaltungen mit freien eintritt, die oft mehr geld lukrieren als solche mit fixem eintritt. das hat sehr viel mit vertrauen und selbstermächtigung zu tun. und wenn das nicht da ist, funktioniert eine solidargemeinschaft nicht - und auf zwang schon gar nicht.
In risposta a ich denke, dass die von dir di Harald Knoflach
Ich fürchte, das gegenseitige
Ich fürchte, das gegenseitige Vertrauen liegt derzeit hernieder. Um neues Vertrauen aufzubauen, wird man wohl etwas konkreter werden müssen.
In risposta a Ich fürchte, das gegenseitige di Benno Kusstatscher
stimmt. die jetzige situation
stimmt. die jetzige situation bedarf einer gesonderten behandlung. mein text ist dafür gedacht, wie man solche situationen verhindern könnte. und ich glaube eben nicht, dass man es mit sezessionsverboten in der verfassung schafft. wir brauchen das gegenteil. das zeigt meine analogie zum arbeitsrecht.
In risposta a stimmt. die jetzige situation di Harald Knoflach
Um bei der Analogie zu
Um bei der Analogie zu bleiben: Kündigungsfrist? Abfindung? Arbeitslosenversicherung? Arbeitsvermittlungsstelle? Rein auf Vertrauensbasis sind die wohl nicht entstanden. Mit Kündigungsrecht allein ist die Welt also noch nicht gerettet.
Dissensberechtigung ist eines
Dissensberechtigung ist eines, eine ständige Kündigungsoption zu jedem Thema für alle Beteiligten macht es unmöglich, gemeinsame Strategien zu entwickeln und Regeln festzulegen, wie gemeinsame Interessen dauerhaft nach innen und außen vertreten werden können. Wie soll z. B. die demokratische Legitimation von Entscheidungen auf EU-Ebene gewährleistet werden? Braucht es da künftig in einem - laut beschriebener Vision - Europa der vielleicht 80 Regionen eine ständige Rückkoppelung mit den einzelnen Regionen? Und ist es den Teilregionen dann immer noch möglich, eine Entscheidung zu blockieren? Oder sollen Mehrheitsentscheidungen getroffen werden? Die wären dann natürlich wieder anfällig für neuerliche Abspaltungen. Nehmen wir als Beispiel die Aufteilung der EU-Gelder für die Landwirtschaft, immerhin der Löwenanteil des EU-Budgets. Wenn es Einstimmigkeit braucht, scheint es fast unmöglich, einen Konsens zu erzielen. Irgendwer wird sich in der Minderheit vorfinden, wenn es nach dem Mehrheitssystem geht. Und so geht es bei jedem Thema. Wollen wir darauf verzichten, eine gemeinsame EU-Politik voranzubringen?
Mit der Legitimation der EU-Politik ist es ja so eine Sache: Wenn es uns nicht passt, dass die Landwirtschaftsförderung der EU den Lebensmittelkonzernen in die Hände arbeitet, ökologische Betriebsmodelle in ganz Europa in den Ruin treibt und mit eigenen Ausbeutungshandelsverträgen dazu beiträgt, dass den Bauern in Afrika schlicht die Lebensgrundlage weggenommen wird: Sollen wir da auf die ethische Innovationskraft der Regionen unsere Hoffnung setzen? Sind es die Regionen, die die Konzernsubalternität der EU-Politik stoppen können? Oder braucht es schlagkräftige internationale Organisationen, die dem ökonomischen Mainstream soziale und globale Verantwortlichkeit beibringen? Und wie können diese eine demokratische Legitimation erlangen?
In risposta a Dissensberechtigung ist eines di Karl Gudauner
"Dissensberechtigung ist
"Dissensberechtigung ist eines, eine ständige Kündigungsoption zu jedem Thema für alle Beteiligten macht es unmöglich, gemeinsame Strategien zu entwickeln und Regeln festzulegen, [...]"
Glaub ich nicht, denn eine Sezession ist nicht etwas, was man so zum Spaß einmal die Woche macht. Dafür braucht es schon gravierende Gründe. In der EU haben die Staaten bislang ja auch nicht reihenweise mit Austritt gedroht, wenn sie mit Entscheidungen nicht einverstanden waren. Liechtenstein mag jetzt zwar nicht ein perfektes Beispiel sein, aber dort hat jede Gemeinde ein festgeschriebenes Sezessionsrecht.
"Wie soll z. B. die demokratische Legitimation von Entscheidungen auf EU-Ebene gewährleistet werden?"
Über ein echtes Parlament und EU-Wahlen mit europäischen Parteien und einem Ausbau des Ausschuss der Regionen zu einer Art zweiten Kammer zu Beispiel
"Und ist es den Teilregionen dann immer noch möglich, eine Entscheidung zu blockieren?"
Nein. Einmal gewinnst du, einmal verlierst du.
"Oder sollen Mehrheitsentscheidungen getroffen werden? Die wären dann natürlich wieder anfällig für neuerliche Abspaltungen."
Abspaltungen wovon. Sprichst du jetzt von Staaten oder von der EU? Wenn du von Letzterer sprichst - warum sollte eine Region wegen einer "verlorenen" Mehrheitsentscheidung gleich davonrennen? In der Regel überwiegen doch die Vorteile der Kooperation. Auch wenn man hin und wieder "verliert". Mit meinem Vorschlag lässt sich wie gesagt auch gut die Schmerzgrenze ausloten.
"Oder braucht es schlagkräftige internationale Organisationen, die dem ökonomischen Mainstream soziale und globale Verantwortlichkeit beibringen?"
Genau die braucht es. Jedoch hat die EU in dieser Form hier nicht wirklich "geliefert", oder? Einzig das Parlament agiert hin und wieder in diese Richtung. Ergo: Parlament stärken und fragwürdige Nicht-Gewaltenteilung (Stichwort: Rat) aushebeln.
In risposta a "Dissensberechtigung ist di Harald Knoflach
Herrliche Träume. Realpolitik
Herrliche Träume. Realpolitik ist etwas anderes. Das sieht man schon jetzt in Katalonien.