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Licorice Pizza

Paul Thomas Anderson kehrt mit seinem neuen Film in die vom ihm hochgeschätzte Ära der 1970er zurück. Er tut dies anders als bisher, stiller als gedacht.
Licorice Pizza
Foto: Universal

Mit der Wahrnehmung ist es so eine Sache. Wir sehen, was uns umgibt, dazu nutzen wir die uns geschenkten Augen, doch das Auge ist nicht genug, es bedarf der Aufmerksamkeit und der Wahrnehmung, um zu filtern. Alles zu sehen und gleichzeitig wahrzunehmen, würde uns wohl heillos überfordern. So nehmen wir nur das wahr, was wichtig erscheint. Dieses Credo verfolgt der US-amerikanische Autorenfilmer Paul Thomas Anderson („There Will Be Blood“, „Boogie Nights“...) in seinem neuen Film „Licorice Pizza“. Darin erzählt Anderson die Geschichte des fünfzehnjährigen Gary, der sich in die einige Jahre ältere, und darum unglaublich faszinierend erscheinende Alana verliebt. Fortan lebt er sein jugendliches, von Irrungen und Wirrungen bestimmtes Leben, verfolgt jedoch stets das Ziel, Alana zu erobern, die, man kann es ihr kaum verübeln, zunächst Schwierigkeiten hat, den quirligen Gary ernst zu nehmen, und wie einen Gleichaltrigen zu behandeln. Das möglicherweise fehlende erwachsene Verhalten ist da nicht das Problem. Gary ist ob seines jungen Alters bereits unternehmerisch tätig, heute würde man vom Konzept Start Up sprechen. So beginnt er etwa, Wasserbetten zu verkaufen. Später wird er eine Spielhalle betreiben. Ach und als Schauspieler war er auch schon tätig, genauso übrigens wie Alana, die im Laufe der Handlung einen Ausflug an ein Filmset unternimmt, Hollywood-Stars über den Tisch zieht und einen Bürgermeisterkandidaten bei dessen Wahlkampf unterstützt.

 

Anderson erzählt im Grunde einen Episodenfilm. Viele kleine Geschichten bilden das Kaleidoskop, in dem sich die 1970er Jahre spiegeln. Es ist ein Jahrzehnt, das in Anderson Filmen bereits mehrmals beleuchtet wurde, der Unterschied zu etwa „Boogie Nights“ ist jedoch, dass sich der Regisseur in diesem Fall zurücknimmt und sich kaum für das große Ganze interessiert. Die 70er sind Kulisse und Nährboden zugleich. Und doch erzählt der Film nicht von diesen Jahren, sondern von den Figuren, die in dieser Zeit leben. Verschiedene historische Ereignisse werden in die Handlung eingewebt, so erfahren wir von der Ölpreiskrise und wie Gary darauf reagiert. Das Ereignis selbst ist aber nicht wichtig, Anderson geht es in diesem Film nicht darum, ein Bewusstsein für die Ära zu schaffen. Um dies zu erreichen, müsste man wesentlich mehr erzählen, Enden finden. Darauf verzichtet „Licorice Pizza“ und schafft so ein zentrales Stilelement, welches manche vor den Kopf stoßen wird, den persönlichen Charakter der Geschichte aber umso mehr hervorhebt.

 

Das Subjekt steht im Mittelpunkt. Gary und Alana erleben ihr Umfeld aus völlig subjektiven Standpunkten. Das schließt ein, dass sie nur das wahrnehmen, was für sie relevant ist, und dass sie vergessen, was sich der Relevanz entzieht. So enden Episoden oft sprunghaft und ohne befriedigenden Abschluss. Man erfährt nicht, wie es mit der Ölpreiskrise zu Ende geht, ob der Bürgermeisterkandidat die Wahl gewinnt, oder was sonst noch im Trubel der 70er vor sich geht. Das Publikum sieht, was für die beiden Protagonisten wichtig ist – und das hauptsächlich wichtige sind sie selbst, respektive die keimende Liebe zwischen ihnen. Im Kern ist „Licorice Pizza“ Paul Thomas Andersons erster wahrer Liebesfilm. Die Subjektive schließt jedoch nicht aus, dass die Welt des Film von allerlei skurrilen Figuren bevölkert wird. Im Gegenteil tummeln sich Schauspielgrößen an der Seite der eher unbekannten Hauptdarsteller*innen (in der Hauptrolle spielt Cooper Hoffman, der Sohn des verstorbenen Philip Semour Hoffman, ein Stammschauspieler Andersons). Tom Waits, Sean Penn oder Bradley Cooper und viele weitere sammeln sich um die junge Liebe. Doch trotz all des versammelten schauspielerischen Talents reicht keine der Leistungen an die von Cooper Hoffman als Gary und Alana Haim als Alana heran. Selten natürlich und lebensecht gespielt wirken die beiden Figuren wie tatsächliche, realistische Jugendliche. Eine Ausnahmeerscheinung, insbesondere im US-amerikanischen Kino.

 

Doch was hatte man sich erwartet? Es ist nun mal ein Film von Paul Thomas Anderson. Der Meister lässt sein neues Werk wie eine Fingerübung wirken, zur Inszenierung, die wunderbar fließend auf 35mm Film festgehalten wurde, muss man kaum Worte verlieren. Sie ist auf gewohnt hohem Niveau. Das Publikum sollte diesem ganz und gar subjektiv erzählten Film seine Aufmerksamkeit schenken. Nehmen Sie wahr, was wahrzunehmen auserkoren wurde.

 

Licorice Pizza | Official Trailer