Fotografische Unschärfe
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Die eine oder der andere, die älter sind als ich und in der Nähe des Klosters Muri-Gries aufgewachsen sind, erinnern sich vielleicht selbst noch an den 1974 verstorbenen Pater Ambros Trafojer. Noch weniger Personen dürfte bekannt sein, dass Trafojer ab den 1920ern als Fotograf des Klosters fungierte, trotz starker Kurzsichtigkeit. Dass die zahlreichen von Trafojer kategorisierten Fotoalben neben Zweckfotografien, wie etwa Passbildern, auch einzigartige Blickwinkel auf die Lokalgeschichte freigeben, ist ein Glücksfall. Dass sich dieses Archiv erst langsam öffnet und öffnen kann, ist wohl auch den Regeln des heiligen Benedikt fürs Klosterleben geschuldet: Gehorsam, Schweigen und Demut.
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Obwohl sich der Pater mit seinen Fotos nicht an die Öffentlichkeit drängte, entsteht bei der Betrachtung einiger der Bilder auch das Gefühl, dass der Fotograf an sich selbst auch künstlerische und nicht rein dokumentarische Anforderungen stellte. Trotz oder auch gerade durch einige unscharfe Aufnahmen, entsteht ein auch für den Historiker teilweise voyeuristischer Blick.
Zu den wohl eindrucksvollsten Bildern, die Eingang in die 39 Abbildungen des 120 Seiten schlanken Buches finden, dürfte schon das - ebenfalls leicht unscharfe Umschlagmotiv (innen groß abgebildet), zählen. Das Foto auf Glasplatte von 1933 blickt aus dem verschwundenen Gasthof Badl auf das noch junge Siegesdenkmal. Obermairs, dem Bild zur Seite gestellter Text, der nach einem Vorwort bei ebendiesem Bild ansetzt, versteht es, einen Kontext für das Bild zu schaffen und den „verschwundenen“ Bildrahmen lebendig zu machen. In der aus dem Stadtbild entfernten Gaststätte und Badeanstalt war früher, 1802 bis 1827, kein geringerer als Josef Eisenstecken „Badlwirt“, zur Zeit des Bildes leitete Ambros leiblicher Bruder Martin die Pension. Ein Ort, der für den im Gastbetrieb ein und aus gehenden Pater wie kaum ein anderer mit einem Gefühl der Heimat aufgeladen ist, sieht sich im starken Konflikt mit einer Bedrohung „von außen“.
Interessant sind auch die durch die große Ortstreue des Fotografen entstandenen Bildreihen, wie etwa der, fotografisch archetypische, Blick aus dem Fenster. Allein durch den ins Bild drängenden Rahmen denkt man dabei vielleicht an diese erste Fotografie, jener von Joseph Niépce aus dem Jahr 1826. Jenes von Pater Ambros Trafojers Zelle ging auf den Grieser Platz. Dort dokumentiert er deutsche Panzer in Lauerstellung im Mai des letzten Kriegsjahres, SVP Wahlkampagnen mit VW-Käfern auf der Straße 15 Jahre später oder das Bad von Olympiasieger Klaus Dibiasi 1968 in der Menge, das mit Milchglasunschärfe an die Bilder von Gerhard Richter erinnert.
Die Unschärfe um den Pater vermag der Autor des Bandes aufzulösen, der mit seinen Einblicken ein Bild des Mannes hinter der Kamera entstehen lässt und auch ein Bild bei der Tätigkeit, sowie ein Selbstportrait dalässt. Das hilft bei der Lektüre der Bilder mindestens so sehr, wie die Arbeit anhand von Datierung und Ortsbestimmung. Den dafür erforderlichen Spagat, der die Bilder im Spannungsfeld von Geschichtsdokument und einer ausgesprochenen Persönlichkeit, versteht Hannes Obermair mit teils essayistisch anmutenden Gedankensprüngen zu meistern.
Obermair wurde Zugang zu einem besonderen Bildschatz gewährt, der vom Verlag digitalisiert und später öffentlich gemacht werden soll. Der kleine Einblick auf wertigem Papier macht Lust auf mehr.