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Ein Wintermärchen

Aber ein wahres: 100 Freiwillige führen einen Winter lang ein Haus für Obdachlose und schreiben das Erlebte in einem Buch nieder. Der Erlös geht an ein neues Projekt.
Winterhaus Buch 1
Foto: Winterhaus Team

„Wann immer ich obdachlose Menschen, vor allem junge, auf der Straße traf und in deren Augen schaute, kam mir der Gedanke, es könnte auch meinen Sohn treffen und ich versetzte mich in die Lage ihrer Mütter. Ich spürte tiefen Schmerz.“

Anna Raster, Freiwillige. Ausschnitt aus: „Winterhaus- Geschichten aus einem warmen Haus im Kalten Winter“  

Am 10. Dezember 2019 öffnet das Winterhaus in Bozen seine Tore. Das ehemalige Altenheim und leerstehende Immobilie des Unternehmers Heiner Oberrauch bietet mehr als 50 Menschen ohne Dach über dem Kopf einen warmen Schlafplatz, eine Dusche. Kinder, Frauen und Männer sammeln sich seitdem jeden Abend um acht vor dem Winterhaus, um sich von den eisigen Klauen der Dezemberluft zu befreien. Den ganzen Tag waren sie ihr ausgesetzt, nun erwartet sie ein warmes Bett, ein paar Kekse, eine Tasse Tee. Zumindest bis zum nächsten Morgen. Einige Bewohner müssen früh zur Arbeit, und wecken die Freiwilligen am Morgengrauen aus ihrem Nachtschicht-Schlaf:

„Das Klopfen an der Tür unseres Zimmers reißt mich aus einem erschöpften Schlaf. Ich drehe den Schlüssel um und öffne die Tür. Vor mir steht ein hochgewachsener, schlanker Mann. Auf der Unterschriftenliste sehe ich, dass er von der Elfenbeinküste stammt. Wie ich erfahre, arbeitet er den ganzen Tag für einen Kurierdienst und kann sich von seinem Lohn keine Wohnung in Südtirol leisten, was ihn ins Winterhaus gebracht hat. Obwohl ich seit geraumer Zeit nichts mehr online bestelle, schäme ich mich stellvertretend für die vielen arglosen Online-Schnäppchenjäger. Ihre Käufe haben einen hohen Preis. Ich drücke die Holztür zu und verspreche ihm im Kopf, dass ich diese Episode weitererzählen werde.“

Marion Maier, Freiwillige, Ausschnitt aus dem Buch „Winterhaus“

Das Winterhaus wird zu einem scheinbar unmöglichen zivilgesellschaftlichen Projekt. Fast 100 Menschen melden sich freiwillig, organisieren Bettwäsche, sorgen für warmes Wasser, erarbeiten Hausregeln und übernehmen Nachtschichten. Das Winterhaus schenkt ihnen dafür eine kostbare Bereicherung: eine neue Perspektive. Einblicke in diese Perspektive, gibt das Buch zum Projekt: Winterhaus- Geschichten aus einem warmen Haus im Kalten Winter. 21 Freiwillige erzählen darin Geschichten aus dem Winterhaus:

"Wenn ich an das Winterhaus zurückdenke, sehe ich vor meinem inneren Auge die dankbaren Blicke der Bewohner*innen: Dankbarkeit für einen sicheren Ort, einen warmen Tee oder eine Gelegenheit, sich waschen zu können. Vor allem aber hatte ich den Eindruck, dass sie dafür dankbar waren, dass sie als Mensch wahrgenommen wurden. Nicht als unbekannte Randfigur unserer Gesellschaft, nicht als Außenseiter oder Sonderling, sondern als Mensch mit einer Geschichte, mit Gefühlen und Bedürfnissen."

Barbara Bertagnolli, Freiwillige

 

Das Zusammenleben im Winterhaus funktioniert ohne große Zwischenfälle fast fünf Monate lang; trotz der individuellen Schicksale, unterschiedlichen Bedürfnisse und bunten Kulturen: Insgesamt 19 Nationalitäten sind im Winterhaus vertreten. Auch Familien sind darunter, mit Kindern, die in die Schule gehen. Viele Freiwillige berührt deren Schicksal besonders:

Lei, avrà avuto 6 o 7 anni, con due occhi neri grandi come il mondo, è stata l’ultima ad uscire dalla porta. Le ho dato il suo bicchiere di tè, informandomi su come fosse andata la notte e cercando di offrirle il sorriso più rassicurante che potevo assieme a qualche biscotto. Quando è arrivata sulla porta, stringendo ancora un biscotto tra le piccole dita, si è fermata un attimo. Ha alzato la testa, fissandomi in silenzio, con quei grandi occhi scuri. Di corsa è tornata indietro con la cartella che saltava sulle spalle e mi ha gettato le braccia attorno alla vita stringendomi forte in un abbraccio così intenso e pieno di significato assolutamente impossibile da dimenticare. Poi via, a far finta di avere una vita normale come gli altri bambini. Le avevo offerto solo un biscotto.

L., Freiwilliger

Doch nicht alle Bedürftigen finden Platz im Winterhaus, die Kapazitäten dafür reichen nicht aus. So ergibt sich für die Freiwilligen der schwerste Teil ihrer Arbeit- „Nein“ zu sagen, Menschen zurück auf die Straße schicken:

„Als ich die Tür öffnete, trat mir ein junger, aus Afrika stammender Mann entgegen. Verzweifelten Blickes bat er mich, sich bei uns waschen zu dürfen. Immer wieder kamen Menschen mit dieser Bitte zu uns. Wir mussten sie jedoch Mal schweren Herzens darauf hinweisen, dass es uns zum Schutze der Bewohner*innen nicht möglich war, nicht in der Struktur wohnende Personen hereinzulassen. Der junge Mann ließ nicht davon ab, mich anzuflehen. In einem kurzen Moment der Unaufmerksamkeit huschte er an mir vorbei und lief die Treppen hinauf. Nach einigen Minuten stand er erneut vor mir, frisch geduscht. Er fiel er auf die Knie und bedankte sich für die Möglichkeit, sich gewaschen zu haben. Obwohl er sich mit seiner Geste selbst herabwürdigte, fühlte ich mich in diesem Moment selbst erniedrigt. In was für einer Gesellschaft leben wir, in der es Menschen verwehrt wird, ihren Grundbedürfnissen nachzugehen, in der eine ganze Gruppe von Menschen in einer Notsituation vergessen wird?“

Paul Tschigg, Freiwilliger im Kernteam des Winterhauses

7.000 Nächtigungen später, am 30. April 2020 schließt das Winterhaus. Heute lebt es als warme Erinnerung in den Köpfen der Freiwilligen und der Bewohner*innen weiter, als Wintermärchen. Es steht in Kontrast zur kalten Realität, in die Bozen in diesem Winter wieder zurückkatapultiert wurde: Zwar haben einige Winterhausbewohnerinnen Arbeit und Stabilität gefunden, doch nach wie vor leben um die 150 Menschen auf den Straßen der Südtiroler Hauptstadt.

 

Bis Juli 2020 stellte die Stadt auf Anfrage des Kernteams vom Winterhaus das Messegelände als Unterkunft zur Verfügung, doch die Struktur schloss im Juli wieder; wie es diese Wintersaison für Menschen auf der Straße aussehen wird, ist noch unklar. „Es geht nicht, dass die Politik sich wieder aus der Verantwortung zieht und Vorwände sucht, wie Hygienevorschriften und so weiter, um zu entschuldigen, warum die Messe nicht aufgemacht werden kann,“ sagt Caroline von Hohenbühel vom Kernteam des Winterhauses. Laut Kernteam hat die Gemeinde jedoch zugesagt, ab Januar das Messegelände als Obdachlosenunterkunft zu öffnen. Offizielle Bestätigung gibt es noch keine.

Stadt- und Land spielten sich seit Jahren die Verantwortung für Obdachlose und Flüchtlinge gegenseitig zu, heißt es immer wieder von Aktivisten und Sozialarbeitern, Lösungen würden so keine gefunden, Menschen verweilten weiterhin auf der Straße. „In einer modernen und reichen Stadt wie Bozen darf das nicht sein!“ empört sich das Kernteam der Freiwilligen. Aus diesem Grund entschlossen sie sich, die Erfahrungen dieses einmaligen zivilgesellschaftlichen Projektes der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, seine Geschichten zu sammeln, und damit an die Politik zu appellieren.