Società | menschliche abgründe

„Ich würde mich sehr, sehr schämen“

Am K2 wird ein Hochträger sterben gelassen. Die Alpinistin Tamara Lunger verurteilt das Geschehene scharf: „Das ist krank und Ausdruck unserer Leistungsgesellschaft.“
Tamara Lunger
Foto: tamaralunger.com

Tamara Lunger reflektiert meist intensiv, bevor sie sich öffentlich äußert. Doch dann findet die Südtiroler Alpinistin und Skibergsteigerin stets deutliche Worte. So auch jetzt.Ich könnte kotzen – dass Menschen in der Lage sind, so gleichgültig, egoistisch, gierig und ohne Mitgefühl zu handeln.“ So kommentiert die 37-Jährige das, was sich vor wenigen Wochen am K2 abgespielt hat.

Ohne Rücksicht auf Verluste, es muss der Gipfel sein. Egal, ob jemand stirbt oder ich andere Menschen durch meine Überanstrengung in Gefahr bringe!
Wie wir in Südtirol sagen: A gueter hebs und umen letztn isch net schou!
(Tamara Lunger)

Am Dienstag (8. August) sind die menschlichen Abgründe bekannt geworden, die sich Ende Juli am zweithöchsten Berg der Welt aufgetan haben. Aufnahmen einer Drohne des österreichischen Privatsenders Servus TV zeigen, wie zahlreiche – rund 70 – Bergsteigerinnen und Bergsteiger auf dem Weg zum Gipfel des K2 über einen verunglückten Höhenträger steigen, der im Seil hängt – wohl um den eigenen Erfolg nicht zu gefährden. Der Pakistaner starb später.
Der Standard berichtete am Dienstag Abend: „Wie Augenzeugen später bestätigten, war der pakistanische Hochträger Mohammad Hassan nachts um 2.30 Uhr im vorderen Bereich der Gruppe ein paar Meter im nahezu senkrechten Gelände abgestürzt. Er hing kopfüber mit entblößten Beinen in einem Fixseil, das er selbst mit Kollegen für die tausende Dollar zahlende Kundschaft installiert hatte. Nach dem Unfall, berichtet (der Servus-TV-Kameramann Philip, Anm.) Flämig, sei an der Absturzstelle ein neues Seil fixiert worden, damit die Leute weitergehen konnten, während Hassan darunter festhing. Nach seinen Nachforschungen habe es rund eine Dreiviertelstunde gedauert, bis Hassan zumindest hochgezogen wurde. Ihn ins Tal zu bringen dürfte nicht versucht worden sein.“
An diesem Tag war auch die Expedition der Norwegerin Kristin Harila unterwegs auf den K2. „Die Norwegerin vollendete mit der Besteigung des zweithöchsten Berges binnen 92 Tagen ihre umstrittene Rekordjagd auf alle 14 Achttausender – unter Einsatz von Flaschensauerstoff, mit Unterstützung unzähliger Sherpas und Hubschraubern, die sie von einem Basislager ins nächste geflogen hatten“, schreibt Der Standard, der mit dem Tiroler Hotelier und Bergsteiger Wilhelm Steindl gesprochen hat, der vor Ort, aber frühzeitig umgekehrt war, „weil die Verhältnisse zu gefährlich waren“.
„Was da passiert ist, ist eine Schande. Da wird ein lebender Mensch liegen gelassen, damit Rekorde erzielt werden können
, sagt Steindl. Später sei der Triumph noch im Camp der Norwegerin gefeiert worden – er sei eingeladen gewesen, meint Steindl: „Ich bin nicht hingegangen, es hat mich angewidert. Da ist ein Mensch oben gestorben.“

Am Berg habe bis vor wenigen Jahrzehnten noch Solidarität vorgeherrscht – die sei mittlerweile steigendem Egoismus gewichen, sagt der Südtiroler Extrembergsteiger Reinhold Messner im Gespräch mit dem österreichischen TV-Sender PULS 24. Das habe damit zu tun, „dass an den großen Bergen kein Alpinismus, sondern Tourismus stattfindet“. In einem ausführlichen Interview mit Der Standard meint Messner: „Das Bergsteigen ist keine Massenveranstaltung, und wenn es eine Massenveranstaltung wird, dann nimmt es die gleichen Formen an, die die Masse an den Tag legt, wenn sie in großen Räumen ganz normal zusammenlebt. Der Selbsterhaltungstrieb ist der stärkste Trieb, den wir haben, aber wir haben auch Empathie. (...) Und diese Empathie ist in den letzten Jahren beim einzelnen Menschen weniger geworden. Und diese großen Berge sind zu banalen Naturerscheinungen geworden. Wenn ich da raufgebracht werde, wenn eine Piste da ist, wenn jemand hinter mir mehr als genug Sauerstoff herträgt, wenn ich den Berg dadurch zu einem Sechstausender mache, dann ist er eben ein banaler Sechstausender und nicht mehr der Everest oder der K2. Und dann – ich hoffe nicht, dass ich es täte – verhalte ich mich so, dass ich diesen anderen eben nicht sehen will. Weil ich will ja zum Gipfel, und wenn ich ihn sehen würde, müsste ich auf den Gipfel verzichten. Retten heißt nach unten bringen – und nicht mehr weiter nach oben.

Die schmerzliche Erfahrung damit, wie nahe Leben und Tod auf dem Weg nach oben sind, hat Tamara Lunger selbst des Öfteren gemacht – auch am K2. Anfang 2020 rettete die Südtiroler Skibergsteigerin ihrem Begleiter Simone Moro in Pakistan das Leben. Dabei wurde sie selbst schwer verletzt. Ein Jahr später, im Jänner 2021, verlor Lunger bei einer Expedition zum K2 fünf Bergkameraden. Sie selbst hatte die Seilschaft frühzeitig verlassen, weil ihr körperliche Beschwerden zu schaffen machten. Der Tod ihrer Begleiter, darunter ihr Seilkamerad Juan Pablo Mohr („JP“), war für die Alpinistin eine traumatische Erfahrung: „Ich fühlte mich schuldig, weil ich dachte, ich hätte hinaufgehen und ihm helfen können. „Aber“, meinte sie in einem Interview mehrere Monate nach dem Unglück im gleichen Atemzug, „ein Rettungsversuch dort oben wäre Selbstmord gewesen. Vielleicht musste alles so sein.“

Jetzt kommentiert Tamara Lunger das, was sich am K2 zugetragen hat, in einem langen Statement, das sie auf Englisch verfasst und am Donnerstag (10. August) auf Facebook veröffentlicht:

„IST DAS NOCH NORMAL?
Kann es wirklich so sein, dass ein Leben nicht mehr zählt?
Ich habe jetzt wirklich ein paar Tage gebraucht, um meine Gedanken zu sortieren, denn ich war zutiefst enttäuscht, traurig und mir kamen fast die Tränen, als ich das Video der K2-Gipfelbegehung vom 27. Juli in den Medien sah, in dem mehrere Bergsteiger über den sterbenden pakistanischen Hochträger Mohammad Hassan steigen, um einen weiteren 8000er auf ihrer Liste abzuhaken.
Ich will jetzt keine Namen nennen, aber auch sehr berühmte Bergsteiger haben an diesem Tag den Gipfel bestiegen!!! Und die Welt feiert sie. Sind das wirklich die Werte von heute?
Ich könnte kotzen – dass Menschen in der Lage sind, so gleichgültig, egoistisch, gierig und ohne Mitgefühl zu handeln.
Ihr (…) wisst vielleicht, wie mich solche Dinge mitnehmen. Das ganze Verhalten an diesen für mich heiligsten Orten der Welt verkörpert unsere kranke Leistungsgesellschaft.
Das sind für mich keine Bergsteiger, denn die sollten ein Mindestmaß an Respekt, Kameradschaft und Moral haben.
Sorry, aber heute kann ich nicht die nette Tamara sein, denn das bewegt mich einfach zu sehr...obwohl ich natürlich sagen muss, dass ich selbst nicht dabei war und daher die Situation nicht 100%ig beurteilen kann. Aber...: Es sind jetzt hauptsächlich Menschen auf diesen Bergen unterwegs, mit Sauerstoff, die ohne Träger keinen Schritt machen könnten und natürlich auch körperlich nicht in der Lage wären, jemandem zu helfen. Wenn sie weiter auf den Gipfel wollen, müssen ihre Träger natürlich mitgehen, und können deshalb schlecht anderen helfen (auch da: Der Gipfelbonus ruft).
Wie wir in Südtirol sagen: A gueter hebs und umen letztn isch net schou! – Ein Starker hält's aus und um den Schwachen ist's sowieso nicht schade!
Ohne Rücksicht auf Verluste, es muss der Gipfel sein. Egal, ob jemand stirbt oder ich andere Menschen durch meine Überanstrengung in Gefahr bringe!
Ich bin zutiefst betrübt, denn der Alpinismus, einst auch ein wenig romantisch, geht in eine Richtung, die für mich einfach nur noch krank und schrecklich ist!
Und zum Schluss: Ich könnte nicht mehr schlafen und würde mich sogar sehr, sehr schämen für dieses Verhalten!!!“