Società | Sprachen in Südtirol

Momentaufnahmen

Zur Zoom Tagung am 13. März: „Gelebte, geliebte, gelittene Mehrsprachigkeit im Alltag. Momentaufnahmen aus der Südtiroler Sprachwirklichkeit“
Avvertenza: Questo contributo rispecchia l’opinione personale dell’autore e non necessariamente quella della redazione di SALTO.

„Momentaufnahmen aus der Südtiroler Sprachwirklichkeit“ ist der Untertitel einer Tagung, zu der eine Gruppe engagierter Mitglieder der mehrsprachigen Südtiroler Gesellschaft geladen hat. Ohne politische Kräfte im Hintergrund, ohne spezifischen Bildungsauftrag, nur dem Wunsch verpflichtet, in einem kritischen Moment die Gedanken von der Notsituation weg zu bewegen hin auf Menschen in Südtirol, die seit geraumer Zeit versuchen, mit ihrer Arbeit den Weg in die Zukunft zu bereiten.

Der Titel musste übersetzt werden. Und das geschah mit den Worten: “Gioie e dolori di una società multilingue. Testimonianze di vita quotidiana.”

„Gelebte, geliebte, gelittene (das heißt, tolerierte) Mehrsprachigkeit im Alltag. Momentaufnahmen aus der Südtiroler Sprachwirklichkeit“.

Die zwei Sprachen geben unterschiedliche Blicke frei, das Deutsche von außen betrachtend, das Italienische von innen, mit Bezügen zum emotionalen Erleben.

Das ist ein verheißungsvoller Beginn. Kein Titel ist die Übersetzung des anderen. Sie ergänzen sich und fordern nicht Homogenität, sondern lassen eine ursprüngliche Fremdheit bestehen. Diese Fremdheit kann produktiv gemacht werden, durch eine Feinanalyse des Schlüsselwortes „Momentaufnahme“, auf Italienisch „istantanea“. Claudio Magris hat seinem Buch mit Kurztexten aus dem Leben den Titel „Istantanee“ gegeben und seine Wahl durch ein Zitat aus einem Wörterbuch bekräftigt:

Istantanea

... eseguita con un tempo di esposizione molto breve senza l’impiego di un sostegno...

Salvatore Battaglia, Grande dizionario della lingua italiana.

Unaufdringlich entfaltet das Wort im Zitat seine metaphorische Kraft für Kreativität: der Verzicht auf eine stabile Unterlage, eine kurze Belichtungszeit. Meine frühesten Erinnerungen ans Fotografieren werden aufgerufen, als die Leica ihren Siegeszug begann und Profiphotographen die Rolleiflex noch mit einem Stativ benutzten. Das wäre alles, gäbe es dazu nicht das Wort in der anderen Sprache. Momentaufnahme war mir so vertraut, dass ich keinen Grund hatte, es im Wörterbuch nachzuschlagen. Meine persönliche Erfahrungen mit der deutschen Sprache und der Photographie deckten sich mit der Definition im italienischen Zitat. Aber ich wollte Claudio Magris, der zum Wörterbuch gegriffen hatte, nicht nachstehen und suchte die ältesten Belege für „Momentaufnahme“, die ich parallel zur ersten Leica vermutete. Die Recherche mit dem Google N-Gram-Viewer brachte aber ein überraschendes Ergebnis. Das Wort entstand lange vor der ersten Leica (1920).

Google bot auch gleich den Beleg an, im Aufsatz „Fortschritte in der Photographie“ von Fritz Anders in der Zeitschrift „Die Grenzboten“, IV, S. 281 aus dem Jahr 1884.

Dem Verfasser entgeht nicht die künstlerische Kraft des Potentials, in der Momentauf­nahme „die wirkliche, unbefangene Natur darzustellen“ (S. 281). Fasziniert ist er von den Aufnahmen von raschen Bewegungsabläufen:

Als man die Photographie zu Hilfe nahm und durch Momentaufnahme den Galoppsprung eines Pferdes in acht Bilder zerlegte, fand es sich, dass das Pferd Stellungen annimmt, die uns völlig unbekannt waren. Wie ein Vogel fliegt, glaubt jeder zu wissen, und doch ist es ein noch ungelöstes Rätsel, jeder glaubt es mit eigenen Augen zu sehen und sieht doch z. B. bei einer Taube nur die innere Hälfte des Flügels deutlich, während die äußere wegen der Schnelligkeit der Bewegung ins Unklare verschwindet. Und in der That haben Augenblicksphotographien von fliegenden Tauben Flügelstellungen zutage gefördert, von denen man keine Ahnung hatte. […] So haben wir in der Trockenplatte das authentische Protokoll von dem, was unser Auge sieht und während des Sehens vergißt“. (S. 282).

Die Momentaufnahme wird zur Metapher menschlichen Erkennens schlechthin und zu einer Metapher unterschiedlichen Sehens, eines Sehens, das Unterschiedliches wahrnimmt und Unterschiedliches beim Sehen „vergisst“ – und wird so zur Metapher für die Unverzichtbarkeit des Unterschiedlichen in der Gemeinschaft.

Link zur Tagung am 13. März 2021:

https://manifesto2019.wordpress.com/2021/02/23/gelebte-geliebte-gelittene-mehrsprachigkeit-im-alltag-zoom-tagung-der-gruppe-manifest-o-2019-am-13-marz-21/

Die Teilnahme an der Tagung ist kostenlos. Es genügt, sich am Samstag, 13.3. ab 9 Uhr im Internet unter folgender Adresse einzuklinken: https://us02web.zoom.us/j/86238387581. Ein Passwort ist nicht erforderlich.