Das Ballett der Wendehälse
Der langjährige Berlusconi-Intimus Denis Verdini liebt das Hasardspiel am politischen Parkett. Mit seiner 10-köpfigen ALA-Fraktion hat er Renzis Partito Democratico im Senat schon oft das politische Überleben gesichert - nach dem altbewährten Prinzip des do ut des - keine Gefälligkeit ohne Gegenleistung. Nun bröckelt seine Gruppierung. Nach hartnäckigen Gerüchten könnten sieben seiner Parlamentarier in den kommenden Tagen zu Forza Italia überwechseln. Was sie lockt, ist ein möglicher Listenplatz bei den Neuwahlen im Februar. Die Zahl der Wendehälse im Parlament hat mit 506 Parteiwechseln einen neuen, kaum beneidenswerten Rekord in der Geschichte der Republik erreicht: 10 pro Monat. Über 30 Prozent der Abgeordneten und 41 Prozent der Senatoren haben mindestens einmal Partei gewechselt, andere gleich bis zu fünf mal. Wie der Fünf-Sterne-Parlamentarier Adriano Zaccagnini: von seiner Bewegung in die gemischte Fraktion, dann zur ultralinken SEL, zurück in die gemischte und weiter in D'Alemas neue Linkspartei mit dem kurzen und einprägsamen Namen Articolo 1 - Movimento dei democratici e progressisti. Die Zahl der Überläufer hat sich im Vergleich zur vorherigen Legislatur fast verdoppelt.
Vieles deutet darauf hin, dass das Ballett der politischen Wendehälse in den kommenden Wochen erheblich zunehmen wird. Allein am 10. Juli haben sechs Abgeordnete das Lager gewechselt - aus Montis regelrecht implodierter Partei Scelta civica in den gruppo misto.
Die gemischte Fraktion ist zur drittstärksten Kraft in der Kammer angewachsen und hat mit fast 70 Abgeordneten Forza Italia überholt.
Ihr gehören Überläufer aus fast allen Parteien an, ihr Vorsitzender ist der Zentrumspolitiker Pino Pisicchio. Der ehemalige Staatssekretär gilt als gewiefter Kenner der Geschäftsordung – und der vielen Tricks, um sie zu umgehen. Es handelt sich um eine "Kraut und Rüben"-Fraktion, die von den anderen Parteien wegen ihrer Stimmenzahl häufig umworben wird. Pisicchio: "C'è chi vota a favore del governo, ch si astiene, che si esprime sempre contro."
Das Phänomen der voltagabbana ist in anderen EU-Ländern inexistent und stellt eine besorgniserrendende Pervertierung der Demokratie dar. Denn von den 21 Gruppierungen, die es derzeit im Parlament gibt, standen bei den letzten Wahlen nur vier auf dem Stimmzettel: M5S, PD, Lega und Fratelli D'Italia. Die Wanderbewegung kommt einer massiven Missachtung des Wählerwillens gleich. Denn die neuen Fraktionen tragen Namen, die kein Wähler kennt und die zum Zeitpunkt der Wahl gar nicht existierten: civici e innovatori, Alternativa libera, Direzione Italia, Alternativa popolare, Fare!
Italiens Urübel trasformismo
Das Phänomen der voltaggabbana ist der eklatatanteste Ausdruck des trasformismo, des Urübels der italienischen Demokratie und Ursache ihrer permanenten Instabilität. In der laufenden Legislatur hat Italien bereits drei Regierungschefs verheizt, in 70 Jahren haben sich 60 Ministerpräsidenten abgelöst. Der bizarre Rekord gebührt der ersten Regierung Andreotti, deren Lebensdauer 1972 ganze neun Tage währte. Alle Versuche, das Treiben der politischen Chamäleons einzudämmen, sind bisher gescheitert. Die Fünfsterne-Bewegung hat es mit Geldstrafen von 150.000 Euro für Überläufer versucht und damit endlose Rechtsstreitigkeiten ausgelöst.
In anderen Ländern existiert dagegen ein bewährtes Mittel: tritt ein Abgeordneter zurück oder missbraucht er das Vertrauen der Wähler, ist eine Nachwahl fällig. Dieses als recall bekannte System gibt es in vielen US-Bundesstaaten und Schweizer Kantonen, in Japan und anderen Ländern. In der Antike wurde es bereits in Athen praktiziert. Die Bevölkerung kann damit Volksverteter abwählen, die nicht ihren Erwartungen entsprechen oder in Skandale verwickelt sind. Der Haken daran: in Italien wäre dafür eine Verfassungsänderung nötig. Die hat in Kammer und Senat kaum Chancen, weil die Parlamentarier sich alle Möglichkeiten offenhalten wollen.
Diese politische Unsitte bleibt somit bestehen - auf Kosten der Glaubwürdigkeit. Etwa jene des Berlusconi-Intimus Nicoló Ghedini, der nach dem Vorbild seines Parteichefs Silvio Berlusconi 99,2 Prozent aller Sitzungen schwänzt und dennoch immer wieder auf der Liste steht. Kaum verwunderlich, dass bei solchen Misständen die Beteiligung der Bürger– wie bei den jüngsten Gemeindewahlen – unter die bedenkliche 50-Prozent-Marke sinkt.