Was tut mir gut? Gegentrend: "Slow Medicine"
Das Gesundheitswesen kostet viel Geld, auch, weil es zu viel verschwendet. Zu diesem Schluss kommt die WHO (Weltgesundheitsorganisation), ebenso wie verschiedene Studien. Andererseits haben sich die Bürgerinnen und Bürger daran gewöhnt, immer mehr zu verlangen: mehr Tests, mehr Medikamente, mehr Eingriffe, mehr Untersuchungen.
„Viel hilft viel – gerade wenn es ums Gesundwerden geht, glauben wir gerne daran. Doch tut es uns immer gut, möglichst viel untersucht und behandelt zu werden? Viele Fachleute und immer mehr Patienten kommen längst zu dem Schluss, dass weniger oft mehr ist“, sagt Martin Telser, Vorsitzender des Dachverbandes für Soziales und Gesundheit.
Zusammen mit der Vereinigung Slow Medicine hat der Dachverband dieses Thema in einer vollbesetzten Fachtagung am 12. September 2014 in Bozen aufgegriffen. Anwesend war das Who-Is-Who des lokalen Gesundheitswesens, unzählige Vertreter von Patientenorganisationen, sowie Experten aus Italien und dem Ausland. Das Treffen warf einen kritischen Blick auf das, was in der Verwaltung und Verteilung der Ressourcen für die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger geschieht, so schätzt die WHO, dass etwa 20 bis 40 Prozent der Ausgaben in den Gesundheitsdiensten verschwendet sind:
- viele verschriebenen Medikamente werden nicht benötigt, zu vieles landet im Müll;
- viele radiologische Untersuchungen sind unberechtigt;
- viele der Aufenthalts-Tage im Krankenhaus könnten vermieden werden, besonders bei älteren Patienten.
„Uns geht es nicht primär um die Kosten, sondern um das Wohl der Patienten“, betonte Telser. Es gehe darum, den Blick zu schärfen und dazu anzuregen, über die Nachhaltigkeit des Gesundheitswesens bzw. des medizinischen Handelns nachzudenken. „Die Tagung ist ein erster Schritt in diese Richtung. Der aktuelle öffentliche Diskurs ist leider zu sehr geprägt von Vorschlägen zur Kostenersparnis, begleitet von Defensive und Verängstigung, irgendeinem Patienten etwas ‚vorzuenthalten‘ oder eine mögliche Innovation in der Medizin zu übersehen“, so Telser.
Die anwesende Landesrätin Martha Stocker lobte die Tagungsinitiative und den dahinter stehenden Ansatz: „Wenn wir den Dingen die wir tun mehr Aufmerksamkeit und die nötige Zeit widmen, gelingt vieles einfach besser“, sagte sie und kündigte an, sich des Themas anzunehmen. Sie zeigte sich zudem sehr interessiert an Vergleichsdaten aus anderen Provinzen. Auch der Direktor des Südtiroler Gesundheitsbetriebs Andreas Fabi lobte das Leitmotiv der Tagung, sinnbildlich dargestellt durch das Logo zweier sich aufmerksam ansehenden Schnecken. Es sei allerdings kein leichter Weg, wegzukommen von der Schnelligkeit und dem hohen Tempo, so Fabi.
„Dieses andere Tempo und die jeweils richtige Methode immer wieder und für jeden Menschen individuell zu finden, ist die Herausforderung“, betonte auch der Gesundheitssprecher des Dachverbandes, Stefan Hofer: „Wir hoffen, dass es tatsächlich zu einer stärkeren Patientenorientierung kommt. Wir möchten, dass Gesundheitsleistungen stärker am tatsächlichen Bedarf der Patienten ausgerichtet und die begrenzten Ressourcen sachgerechter eingesetzt werden. Wir wollen die Menschen sensibilisieren, sich aktiv damit auseinandersetzen, welche medizinischen Leistungen ihrem Bedarf entsprechen und wie die Versorgung besser gestaltet werden kann.“
Die Initiative Slow Medicine bietet hier gute Ansätze. „Der Begriff steht für eine vernünftige, bewusste und menschengemäße Medizin. Gerade in der Allgemeinmedizin beschreibt der Begriff das eigentliche Urbild“, erklärte Antonio Bonaldi, Präsident von Slow Medicine.
Das interessante daran ist auch, dass es vor allem auch Ärzte selbst sind, die sich dort engagieren. „Auch wir Ärzte wollen uns mehr Zeit für den einzelnen Patienten nehmen können“, betonte Bonaldi.
Auf der Tagung wurde auch die Kampagne „Choosing Wisely – Klug entscheiden“ vorgestellt, die 2011 in den USA gestartet ist. Deren Ziel ist eine Reduktion der verschwenderischen Überversorgung und Überbehandlung durch eine gemeinsame Entscheidungsfindung zwischen Patient und Arzt. Zusätzlich geht es um Verbesserung der Betreuungsqualität und um mehr Sicherheit für die Patienten. Beispiele sind etwa die Überversorgung mit Antibiotika, chirurgische Interventionen, wenn eher Abwarten angesagt wäre, oder nicht mehr sinnvolle, oft auch dem Patientenwillen widersprechende Interventionen am Lebensende.
Am Rande der Tagung haben der Dachverband für Soziales und Gesundheit und die Vereinigung Slow Medicine eine weitere Zusammenarbeit vereinbart und gemeinsame Initiativen angekündigt.