Società | salto Gespräch

“Freiheit ist kein Maß aller Dinge”

Freiheit muss verhandelt werden – mit sich selbst und auf gesellschaftlicher Ebene, sagt die Wissenschaftlerin Barbara Plagg. Und ohne Verantwortung gibt es sie nicht.
Barbara Plagg
Foto: Jörg Oschmann

Einfache Antworten hat Barbara Plagg keine. Als Wissenschaftlerin gehören kontroverse, komplexe Debatten zu ihrem Alltag. Doch auch abseits ihrer Arbeit gibt sie sich mit simplen Lösungen nicht zufrieden. Erst wenn sie versteht, fühlt sie sich frei, sagt die Brixner Humanbiologin.

salto.bz: Frau Plagg, aktuell ist der Freiheitsbegriff in vieler Munde – nicht zuletzt jenem der Gegner von Green Pass, Covid-Impfung oder Corona-Regeln. Manche sehen sich als Kämpfer für eine vermeintliche Freiheit, die sie durch die Pandemiebekämpfung eingeschränkt sehen. Stellt sich die Frage: Was ist Freiheit überhaupt? Woran kann man festmachen, ob man frei ist oder nicht?

Barbara Plagg: Das Konzept von Freiheit beruht kollektiv auf der Annahme von Entscheidungsfreiheit. Also dass ich mich frei entscheiden kann, etwas zu tun oder nicht zu tun oder anders zu tun. Wenn man sich das aber genauer anschaut und dort hinschaut, wo Entscheidungen passieren – in unserem Gehirn – stellt man schnell fest: Huch, die ultimative Freiheit gibt es ja gar nicht. Erstes Semester, Neurobiologie. Ich war übrigens ziemlich beleidigt und fühlte mich angegriffen, als ich das zum ersten Mal hörte (lacht). Genau genommen steht aber nicht der freie Wille am Anfang der Kausalkette bzw. der Entscheidung, sondern die Summe unserer kognitiven Prozesse, Erfahrungen und Glaubenssysteme, die uns suggerieren, wie wir uns fühlen, handeln, denken und letztlich auch entscheiden sollen. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass wir abhängig sind von unserer Sozialisierung, unserem Milieu, der kulturellen Prägung. Eben von dem, was uns beigebracht wurde, von den Informationen, die uns zugespielt wurden, von den Erfahrungen, die wir machten. Das ist unser kognitives Koordinatensystem, das wir auch brauchen, um in der Welt zurecht zu kommen. Damit bleibt uns immerhin eine “relative” Freiheit übrig, nach diesen subjektiven Parametern “frei” zu entscheiden. Schopenhauer hat das gut auf den Punkt gebracht: “Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.”

Wenn sich jemand in seiner individuellen Freiheit beschnitten sieht, muss das also nicht tatsächlich so sein?

Zugespitzt würde ich sagen: Die “individuelle” Freiheit ist eine neurobiologische und phylogenetische Unmöglichkeit. Sie wäre außerdem sinnlos, weil sie uns lebens- und gesellschaftsunfähig machen würde. So viel zur Mikroebene – dann gibt es noch die Makroebene, die im Moment ja heiß diskutiert wird, weil wir müssen ja als Menschen zusammenleben: Wir konstruieren einen gesellschaftlichen Konsens darüber, wo die Grenzen dieser sogenannten “individuellen” Freiheit liegen und leben in “relativer Unfreiheit” in einer Gesellschaft zusammen. Und innerhalb dieser Gesellschaft wird definiert, was ok ist und was es eben nicht ist. Das ist aber ein gesellschaftlicher Prozess, das ist etwas, das man verhandeln muss.

Meine eigene Freiheit einzufordern bedeutet eben auch, die Freiheit der anderen auszuhalten

Findet diese Verhandlung aktuell auch statt?

Was mich bei der aktuellen Diskussion mit am meisten beeindruckt ist, wie pauschal und kategorisch alle Seiten Antworten für komplexe medizinethische Themen parat haben. Ich lehre seit fünf Jahren Sozial- und Präventivmedizin an der Uni und kann von mir selbst nicht behaupten, auf medizinethisch schwierige Themen wie z.B. ob Menschen mit schweren Beeinträchtigungen Kinder kriegen dürfen, inwieweit Raucher den zweiten Stent selbst bezahlen sollten, oder ob man Menschen in der Prävention “nudgen” darf, einfache Antworten zu kennen. Natürlich muss man trotzdem eine gesellschaftliche Entscheidung treffen, und dabei gilt zumindest in den westlichen Staaten der klassische liberalistische Imperativ, dass meine Freiheit dort aufhört, wo die des Nächsten beginnt. Das klingt einfach, ist aber auch wieder sehr komplex.

Inwiefern?

Wo genau beginnt denn jetzt die Freiheit meines Nächsten und wer genau ist denn eigentlich mein Nächster? De facto beschneide ich etwa zukünftige Generationen in ihren Entfaltungsmöglichkeiten und damit in ihren Freiheiten, wenn ich als Großkonzern denen jetzt schon die Lebensgrundlage verseuche – aber weil der gesellschaftliche Konsens von Freiheit auch über Prioritäten, Lobbyismus und Machtbegriffe definiert wird, verschwimmen die äußeren Grenzen der Freiheit irgendwo im Graubereich. Aber um auf die Frage zurückzukommen: Die Freiheit ist die kleine Schwester der Verantwortung, auch wenn die beiden Haudegen auf den ersten Blick nicht blutsverwandt scheinen. Freiheit ohne Verantwortung ist eine gruselige Vorstellung, in so einer Gesellschaft möchte wohl niemand leben – und würde auch nicht lange überleben. Es ist ein weit verbreiteter Trugschluss zu glauben, man hätte zwar Anrecht auf irgendwelche gottgegebenen und angeborenen Freiheiten, aber keine Pflichten.

Genießen Männer in unserer Gesellschaft, unserer Kultur mehr Freiheiten als Frauen?

Der gesellschaftliche Konsens gesteht einem Mann mehr Privilegien als einer Frau zu. Ob diese Privilegien allerdings “freier” machen, ist eine philosophische Fragestellung, die wir wohl länger diskutieren müssten – und das hat vor allem auch damit zu tun, dass der gesellschaftliche Konsens vorwiegend von Männern selbst gemacht wird. Vorhin habe ich gesagt, dass innerhalb einer Gesellschaft definiert wird, was ok ist und was nicht: Es sind seit jeher vorwiegend Männer aus Politik und Kirche, die an der gesellschaftlichen Norm drehen. Und natürlich entscheiden sie damit auch über Frauenthemen, z.B. über Vergütung von Mutterschaft, Anerkennung von Care-Tätigkeiten, Abtreibungen, Bestrafungen von Gewaltverbrechen gegen Frauen und über die eigenen Privilegien. Nun ist natürlich jede*r frei, diese statistischen Tatsachen subjektiv anders zu empfinden – wie wir in den Kommentarspalten unter diesem Interview sicherlich plastisch illustriert bekommen werden (lacht) – aber auch das ist eine Lehre der Gegenwart zum Thema Freiheit: Nur weil es einem “frei” steht, jedweden Blödsinn im Netz zum Besten zu geben, wird er deswegen nicht wahrer.

Es ist heuchlerisch, wenn man hierzulande einerseits viel Wert auf den Freiheitsbegriff legt, andererseits Sexismus, Rassismus, Homophobie und Xenophobie schulterzuckend hinnimmt

Macht das Mutter-Sein, machen Kinder unfreier? Immerhin müssen Frauen dann auf einen Teil ihrer bisherigen Freiheiten verzichten. Bzw. es wird von ihnen erwartet – mehr als von Männern.

Puh, Mutterschaft ist ein großes Thema der Unfreiheit, kulturell, historisch und evolutionsbiologisch bedingt. Judith Holofernes hat mal gesagt, Kinder zu haben, ist die “erbarmungsloseste Form der Liebe”. Und eine solch intensive Form der Bindung ist natürlich mit einer gewissen Selbstaufgabe verbunden. Objektiv macht es jetzt ja nicht wirklich freier, nachts alle zwei Stunden geweckt zu werden, ungeduscht und übermüdet ein brüllendes Baby im Tragetuch durch den Tag zu schleppen und erstmal jahrelang seinen Arbeitsalltag an Kinderbetreuungseinrichtungen anzupassen, um dann abends noch Dinkelkekse zu backen, während im Hintergrund Peppa Wutz läuft, man ins Duplo tretet und mit dem Partner über die Hausarbeit streitet, anstatt Wein zu trinken und Sex zu haben – aber weil “Freiheit” nicht das Maß aller Dinge ist und auch nicht der Garant für ein erfülltes Leben, kann Unfreiheit auch ein Mehrwert sein. Einige unserer “Gefängnisse” sind nicht nur notwendig, sondern sogar sehr schön, in die wir uns freiwillig reinsetzen (lacht). Der Evergreen von Janis Joplin “freedom is just another word for nothing left to lose” ist insofern gar nicht mal so verkehrt: Wer bestimmte Freiheiten zugunsten von Verantwortungen aufgibt, kann viel gewinnen. Allerdings gibt es gerade im Bereich Mutter- und Elternschaft zahlreiche Unfreiheiten, die gesellschaftlich bedingt sind und dringend aufgelöst werden müssten.

Welche – und wie?

Das ganze Thema rund um Vergütung, Anerkennung, Wiedereinstieg in den Beruf und Altersarmut. Letztlich ist mein Entscheidungsspielraum als Mutter sehr klein: Ohne signifikante Einschnitte auf finanzieller Ebene kann ich mich nicht für einen längeren Verbleib beim Kind oder eine reduzierte Teilzeitstelle entscheiden. Für meine Vollzeitarbeit kann ich mich bei mittlerem Gehalt auch nicht entscheiden, weil die Kinderbetreuung nach wie vor lückenhaft und unflexibel ist und private Kinderbetreuung kostet. Es ist allerhöchste Zeit, dass der Staat bzw. das Land endlich kompromisslos dafür Sorge trägt, dass Mama oder Papa finanziell adäquat abgesichert die Erziehungsarbeit übernehmen können und dass ein lückenloses und flexibles Betreuungssystem inklusive angemessener Vergütung der Erzieher*innen zur Verfügung gestellt wird. Allerhöchste Zeit.

 

Insofern lastet auf einer Frau, einer werdenden bzw. seienden Mutter ein großer Druck?

Ja, ein enormer Druck. Abgesehen von den suboptimalen strukturellen Rahmenbedingungen sind es dann noch die gesellschaftlichen Rollenerwartungen, die einem um die Ohren fliegen: Entweder man bleibt zu lange beim Kind und arbeitet zu wenig oder man geht zu schnell wieder arbeiten und sorgt sich zu wenig um das Kind. Wie Mami es auch macht, macht sie es verkehrt. Das Muttersein ist mit unfassbar vielen Rollenerwartungen und -vorstellungen unterfüttert und weil es faktisch unmöglich ist, allen zu entsprechen, kann man es als Mutter nur falsch machen. Das Unangenehme ist, dass wir als Mitglieder einer Gesellschaft vor der gesellschaftlichen Erwartungshaltung an uns nicht gefeit sind, unser Milieu entscheidet ja mit uns mit, weil es uns prägt. Und dann ist die Frage: Wird die Unfreiheit draußen zur Unfreiheit in mir drinnen? Ich muss gesellschaftliche Normen und Narrative ja mit mir verhandeln, da kommt kaum wer drum rum: Widme ich meinem Kind zu wenig Zeit? Oder zu viel und verwirkliche mich nicht selbst? Bin ich eine schlechte Mutter? Mache ich etwas falsch? Das ständige Abgleichen mit meinen Möglichkeiten, meinen Wünschen, der Erwartungshaltung und den strukturellen Rahmenbedingungen ist schon ein enormer Druck.

Was braucht es, um Frauen zu ermächtigen, bei jedweder Entscheidung mehr mit sich im Reinen zu sein? Politische Maßnahmen? Gesellschaftliches Umdenken?

Beides. Veränderung auf der individuellen Ebene kann nur mit sozialpolitischen Maßnahmen einhergehen und muss von einem gesellschaftlichen Umdenken begleitet werden. Das alles beeinflusst sich ja gegenseitig. Auf allen Ebenen ist auch schon einiges passiert: Gemessen an der Zeit, seit der es beispielsweise staatliche Kinderbetreuung gibt, konnte vieles erreicht werden, aber seit einigen Jahren stagniert es. Hier muss mehr investiert werden, gerade nach der Corona-Krise, wo Frauen und Kinder natürlich die großen Verlierer*innen waren. Es kann z.B. schlicht nicht sein, dass 98 Prozent aller Personen, die 2020 in Italien die Arbeit verloren haben, Frauen sind. Auf gesellschaftlicher Ebene hingegen erlebe ich vor allem bei den SUSIs (Plagg hat die Onlineplattform SUSI, über die sich Frauen in Südtirol austauschen und vernetzen, mit gegründet, Anm.d.Red.), dass es auch über die sozialen Medien zu gegenseitigem Empowerment kommt, und alte Muster trotzig aufgebrochen werden, weil sich Frauen hinstellen und sagen: Ich mach das jetzt einfach so, ob es euch nun passt oder nicht. Und wenn eine beginnt, traut sich vielleicht eine zweite. Veränderung war und ist nur im Kollektiv möglich, allein kommt man nicht weit.

Der politische Druck auf Wissenschaftler*innen und akademische Institutionen steigt überall

Freiheit ist ein Begriff, der in Südtirol nicht erst seit der Corona-Pandemie gerne verwendet wird. Wir verstehen uns, vor allem aufgrund der Geschichte des Landes, als Freiheitskämpfer und freiheitsliebend. Andererseits müssen Personen, die den Erwartungen und Ansprüchen des “Systems” nicht entsprechen (wollen), nicht selten mit Konsequenzen rechnen. Ein Beispiel: Gynäkologen, die Abtreibungen durchführen, haben keine Chance auf eine größere Karriere – weil die Kirche und eine katholisch geprägte Partei in Südtirol maßgeblich das Sagen hat. Ist Südtirol ein scheinheiliges Land?

Es ist in der Tat heuchlerisch, wenn man einerseits hierzulande historisch viel Wert auf den Freiheitsbegriff legt, andererseits alltäglichen Sexismus, Rassismus, Ageismus, Homophobie und Xenophobie – und ganz viele andere -ismen und Phobien – schulterzuckend hinnimmt. Interessanterweise werden diese Abwehrhaltungen häufig mit dem Freiheitsbegriff begründet: Man darf ja bitteschön sagen, schreiben, meinen und rumbrüllen, was man will. Dabei zeigen genau genommen diese Tendenzen erst auf, wie wenig frei und wie sehr beschränkt man doch ist: Sobald der individuelle Lebensentwurf von irgendetwas in Frage gestellt wird – etwa einer Person, die ein innovatives Familienmodell lebt –, fühle ich mich angegriffen, weil ich mein individuelles Konzept von Identifikation und damit auch die Grenzen meiner Freiheit hinterfragen müsste. Einzusehen, dass es vielfältige Menschen, Möglichkeiten und Lebensentwürfe gibt, scheinen viele Menschen häufig als Affront aufzufassen, weil es ihr individuelles Glaubenskonstrukt, von dem sie offenbar glauben, es sei das einzig gültige Modell, infrage stellt und sie durch die Konfrontation eventuell zu einem Reflexionsprozess mit dem Schluss kommen könnten, dass ihr Konzept möglicherweise nicht nur nicht das beste, aber auf jeden Fall nicht das einzige ist. Das scheint viele zu beängstigen. Akzeptanz wäre Freiheit, Ablehnung ist Unfreiheit. Meine eigene Freiheit einzufordern bedeutet eben auch, die Freiheit der anderen auszuhalten.

In Italien führen nur wenige Ärzte und Krankenhäuser Abtreibungen durch. Einerseits ist jeder Arzt frei, sich dagegen zu entscheiden. Zugleich aber wird damit Frauen, die sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden sollten, die Freiheit genommen, ihn durchzuführen. Es ist doch ein Problem – unabhängig, wie man zu der Frage steht –, wenn Frauen ihre Freiheit, die noch dazu gesetzlich festgeschrieben ist, nicht garantiert wird?

Ja, das ist es. Auch hier ist das Problem, dass die Individualebene konstant mit der Makroebene verwechselt wird und sich keiner drum schert, das daraus entstehende Dilemma zu beheben: Natürlich kann ich als einzelner obiettore di coscienza eine Abtreibung ablehnen, das ist ja meine “individuelle” Freiheit. Aber wenn das alle tun, schaffe ich gleichzeitig eine Situation der gesellschaftlichen Unfreiheit. Betroffene Frauen haben dann nicht mehr die Wahl oder landen im schlimmsten Fall bei irgendwelchen Scharlatanen oder unsicheren Abtreibungstechniken, weil sie es sich nicht leisten können, einmal quer durchs halbe Land zu touren oder privat jemanden zu finden. Ungewollte Schwangerschaften sind eine Realität, die es in allen Kulturen immer gab und geben wird, ob mir das nun passt oder nicht und ob ich das nun traurig finde oder nicht – und das modernen Gesundheitssystem muss sichere und den Normen entsprechende Abtreibungen garantieren können. Neben einer adäquaten Primärprävention natürlich, also dass möglichst wenige ungewollt schwanger werden und auch der Zugang zu medikamentöser und unmittelbarer “Notfallverhütung” erleichtert wird. Wenn es keine Ärzte gibt, die Abtreibungen durchführen, liegt es in der politischen Verantwortung, diese gesetzlich festgeschriebene Möglichkeit zu garantieren, mehr in die Ausbildung, Aufklärung und Sensibilisierung vom Fachpersonal zu setzen und Primärprävention deutlich zu stärken. Neulich habe ich mal irgendwo ein Meme gesehen, dass wenn Männer ungewollt schwanger werden würden, gäbe es Abtreibungen an jedem Bankomat. Das ist natürlich zugespitzt, aber wir haben vor Kurzem auch rausgefunden, dass es sehr viel einfacher ist, als Mann mit Mitte 30 eine Vasektomie zu bekommen – als Frau im gleichen Alter macht dir hingegen kaum jemand eine Tubenligatur. Frauenspezifische Themen werden im Gesundheitsbereich viel zu oft mit kulturellen Narrativen und Vorurteilen aufgeladen und ganz insgesamt muss die Gendermedizin noch massiv ausgebaut werden.

Ich fühle mich frei, wenn ich verstehe

Wie frei sind bzw. fühlen Sie sich als Wissenschaftlerin bei Ihrer Arbeit in Südtirol?

Jetzt muss ich diplomatisch antworten, sonst bin ich bald nicht mehr so frei, wie ich es gerne wäre. Hm, genau genommen war das jetzt wohl schon die Antwort auf Ihre Frage. (lacht)

Also haken wir sie ab?

Nein, warten Sie, ich nehme noch einen Anlauf: Also, Forschung muss unabhängig sein, das ist die Grundvoraussetzung, damit sie valide ist. Ich habe dabei sehr, sehr viel Glück mit dem Institut für Allgemeinmedizin (der Landesfachhochschule für Gesundheitsberufe Claudiana, Anm.d.Red.), an dem ich tätig bin, mit meinen Kolleg*innen und meinen integren, verantwortungsbewussten und toughen Vorgesetzten. Allerdings ist deutlich zu sagen: Der politische Druck auf Wissenschaftler*innen und akademische Institutionen steigt überall. Und wo Politik Druck auf Wissenschaftler*innen ausübt, ist die Unabhängigkeit der Themen- und Methodenwahl, der Ressourcen und Durchführbarkeit nicht mehr grundsätzlich gewährleistet. In der Wissenschaft gibt es zahlreiche Kontrollsysteme, Ethik- und Expertenkommissionen und Peer-Review-Prozesse, die die Güte von Methodik und Ergebnis kontrollieren. Die Politiker*innen haben sich da gefälligst rauszuhalten. Sie können sich am Ende dann die Resultate anschauen und überlegen, ob und was sie als Entscheidungsgrundlage verwenden wollen. Genau da und keinen Schritt vorher beginnt ihr Mandat und da hört meines als Wissenschaftlerin auch auf.

Sie beharren auf Ihre wissenschaftliche Unabhängigkeit und äußern sich immer wieder kritisch. Ecken Sie gerne an?

Nein. Ich würde lieber harmonisch und im sachlichen Dialog auf gerader Strecke zu Gesundheitsgerechtigkeit, Gleichberechtigung, Umweltschutz und einer demenzfreundlichen und krebsfreien Welt durchmarschieren. Ich habe absolut keine Lust, mich nach Feierabend mit nervigen Nachrichten, versuchten Einschüchterungen und missgünstigen Seitenhieben abzugeben. Da schaue ich noch lieber Peppa Wutz oder backe ein paar Dinkelkekse.

 

Erfahren Sie Solidarität von Frauen?

Im Großen und Ganzen ja, aber dann gibt es noch den kleinen, meist sehr subtilen  Nein-Anteil. Das Überraschende dabei ist: Bei den SUSIs gibt es viel Solidarität, spontanes Engagement und große Hilfsbereitschaft unter fremden Frauen aus allen Schichten, Sparten und Tälern. Allein in diesem Jahr haben wir zig Anfragen zu allen möglichen Themen beantwortet, öffentliche Debatten zum Thema Bodyshaming oder Kinderbetreuung losgetreten, offene Briefe geschrieben, die Situation von berufstätigen Frauen im Lockdown erhoben, eine Mahnwache für Barbara Rauch organisiert, Unterschriften gegen Homophobie in den Medien gesammelt, den Südtiroler Umgang mit Sterilisation und Vasektomie “aufgedeckt”, Reportagen und Artikel angestoßen, Jobs vermittelt, Spenden gesammelt, Sticker designed und gedruckt. Ich finde das ist ein beachtliches Tätigkeitsprotokoll dafür, dass das alles ehrenamtlich von unterschiedlichen, sich nicht kennenden Frauen losgetreten und getragen wird – und mehr als viele Vereine mit einem Budget schaffen. Bei all diesen Aktionen stand nie ein Name, sondern immer die Sache im Vordergrund. Und so muss es sein.

Ist es aber nicht immer?

Es gibt interessanterweise auch die paar üblichen Verdächtigen, die unter der Fahne des Feminismus segeln, ein Monopol auf das Thema beanspruchen, sich durchaus auch im Bereich engagieren, aber irgendwie klappt es mit der Solidarität dann doch nur theoretisch und nicht praktisch. Ich finde es unglaubwürdig, wenn man sich gegen Gewalt an Frauen medial stark macht, aber im konkreten Fall die Betroffene noch nicht mal fragen kann “Kann ich was für dich tun?”, das Thema parteipolitisch spaltet, oder Aktionen organisiert, wo die, um die es eigentlich gehen sollte, durch ihre Abwesenheit glänzen, weil sie gerade irgendwo den Boden wischen, Kinder füttern oder in unbezahlten Care-Tätigkeiten Schichten schieben. Albright hat bekanntlich mal gesagt: “There is a special place in hell for women who don’t help other women” – und ich würde ergänzen: Ein ganz besonderes Plätzchen ist für jene reserviert, die sich über das Thema Gleichberechtigung und Feminismus öffentlich profilieren, aber konkret kaum etwas tun, außer darauf zu achten, mit den üblichen Parolen regelmäßig irgendwo in der Zeitung zu stehen. Das gilt aber natürlich auch für Männer.

Freiheit ohne Verantwortung ist eine gruselige Vorstellung

Ihr Fazit also?

Zusammengefasst würde ich sagen, ich sehe ganz viel Solidarität, aber es gibt zwischendrin leider auch schwesterliche Missgunst. Und es ist manchmal doch einigermaßen überraschend, dass das auch von jenen kommt, die sich groß “Feministin” auf die Schürze schreiben.

Beobachten Sie auch Bevormundung?

Manchmal ist es in der Tat nicht weniger paternalistisch, wenn Frauen sich gegenseitig die Welt erklären, als wenn es Männer tun. Aber ja, wie Feministinnen aus dem gutbürgerlichen, linken Milieu miteinander umgehen, gehört meiner Meinung nach intern breiter diskutiert.

Männer haben Frauen da einiges voraus?

Schwierig. Frauen den ewigen Zickenkrieg zu unterstellen und dass sie deswegen nichts weiterbringen, ist letztlich auch ein patriarchales Narrativ, das pauschal natürlich so nicht stimmt. Es gibt ja sehr viel Solidarität unter Frauen und Frauen sind auch in den sozialen Berufen und Care-Tätigkeiten sehr viel mehr vertreten als Männer. Aber es stimmt auf jeden Fall, dass, wer Seilschaften bilden kann, entwicklungsbiologisch definitiv im Vorteil ist und dass Männer diesen Vorteil oft intuitiv nutzen, während z.B. Frauen in Führungspositionen weiblichen Nachwuchs eher kaltstellen.

Haben Sie einen Erklärungsansatz dafür?

Weil Frausein mit so vielen Rollenerwartungen aufgeladen ist, ist eine Spaltung zwischen den Lebensentwürfen auch irgendwie die logische Konsequenz – und halt sehr schade: Bessere Aufstiegschancen hätten wir Frauen bekanntlich, wenn wir uns gegenseitig unterstützen, egal ob wir uns für Kinder oder ein kinderloses Leben, für die Karriere oder für die Familie, für eine Ehe oder für wechselnde Partner, für Tragetuch oder für Liegewagen, für Impfung oder gegen Impfung, für attachment parenting oder dagegen entscheiden.

Aktuell beeindruckt mich mit am meisten, wie pauschal und kategorisch alle Seiten Antworten für komplexe medizinethische Themen parat haben

Wann oder wo fühlen Sie sich am freiesten?

Hm. Meine persönliche Freiheit verbinde ich weniger mit irgendeinem materiellen Gut, Ort oder Privileg. Am freiesten fühle ich mich dann, wenn es mir gelingt, auf das neurobiologische Korrelat von Freiheit direkt Einfluss zu nehmen und es in eine andere Richtung zu lenken (lacht): also der erfolgreiche Reflexionsprozess. Jetzt nicht alle Überzeugungen grundlegend ständig über Bord zu werfen, sondern den eigenen Handlungsrahmen flexibler zu machen, ihn verschieben und justieren zu können, wo er zu sehr reduziert und abgleicht. Das kostet das Gehirn zwar einiges an Glucose und ist Arbeit – aber es ist das nächste an “Freiheit”, was unser Zentralnervensystem uns zu bieten hat.

Können Sie das vielleicht etwas einfacher erklären?

Wenn ich mir etwa in oder nach einer unangenehmen Situation die Frage stelle, warum bin ich da jetzt so verletzt oder warum habe ich jetzt so und nicht anders auf etwas oder jemanden reagiert oder was genau triggert mich da jetzt so – wenn ich es ehrlich schaffe, mich damit auseinanderzusetzen, warum das so ist und auch auf Gründe stoße, dann fühle ich mich frei. Weil ich dann das Gefühl habe, jetzt verstehe ich es. Und das Verstehen macht mich insofern frei, weil ich dann möglicherweise beim nächsten Mal in derselben Situation freier in der Wahl meiner Reaktion bin. Das klappt natürlich nicht immer, aber immer öfter, je mehr wir uns die Freiheit nehmen, unsere eigene Unfreiheit zu hinterfragen. Weil Freiheit – so abgedroschen das klingen mag – beginnt im Kopf. Und da hört sie auch auf.

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Peter Gasser Dom, 09/12/2021 - 08:31

(Wann oder wo fühlen Sie sich am freiesten?) “Wenn ich mir etwa in oder nach einer unangenehmen Situation die Frage stelle, warum bin ich da jetzt so verletzt oder warum habe ich jetzt so und nicht anders auf etwas oder jemanden reagiert oder was genau triggert mich da jetzt so – wenn ich es ehrlich schaffe, mich damit auseinanderzusetzen, warum das so ist und auch auf Gründe stoße, dann fühle ich mich frei. Weil ich dann das Gefühl habe, jetzt verstehe ich es. Und das Verstehen macht mich insofern frei, weil ich dann möglicherweise beim nächsten Mal in derselben Situation freier in der Wahl meiner Reaktion bin”.

Was für ein schöner Schlussgedanke für ein hervorragendes “Gespräch”, zu dem ich mir die “Freiheit” nehme, dankeschön zu sagen.
Der Tag beginnt gut.

Dom, 09/12/2021 - 08:31 Collegamento permanente
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Paolo Ghezzi Dom, 09/12/2021 - 09:47

“Freiheit ist kein Maß aller Dinge”. Genau gesagt. Und trotzdem, Freiheit ist unsere tägliche Luft. Sehr interessantes Gespräch. Freiheit ist kein Absolutes. "Are birds free from the chains of the skyway?" (Bob Dylan).

Dom, 09/12/2021 - 09:47 Collegamento permanente
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△rtim post Dom, 09/12/2021 - 10:23

"Freiheit ist kein Maß aller Dinge." Gewiss, wenn nichts (im physikalischen Sinne) und niemand (im philosophischen-politischen Sinne) frei ist. Insbesondere auch, wenn jemand nach "Maß aller (wiedergegebener) Dinge" andere Antworten (Positionen) als "Blödsinn im Netz" und "in den Kommentarspalten unter diesem Interview" ausmacht.
Ein interessantes Interview zum Thema "freier Willen" als aus dem weltweiten Netz:
https://www.srf.ch/play/tv/sternstunde-philosophie/video/gerhard-roth--…

Dom, 09/12/2021 - 10:23 Collegamento permanente
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Peter Gasser Dom, 09/12/2021 - 10:30

In risposta a di △rtim post

Darf ich differenzieren?
Nicht “andere Antworten (Positionen)” werden als “Blödsinn im Netz”, sondern Blödsinn wird als “Blödsinn” bezeichnet.
Das ist ein Unterschied, nicht wahr - und dass es im Netz vor Blödsinn, Fakes, absichtlich falschen Interpretation zum Zwecke der Provokation, logischen Fehlschlüssen und Ungebildetheit nur so wimmelt, ist doch unschwer erkennbar.

Dom, 09/12/2021 - 10:30 Collegamento permanente
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Salto User
Anonymous (non verificato) Dom, 09/12/2021 - 18:04

Freiheit er-lebt man dann, wenn man in keiner leben musste. Im Schurkenstaat wurde bevormundet und Angst verbreitet, Selbstdenkende als Konterrevolutionäre entlarvt, weggesperrt und gebrochen, Anstehen für Lebensmittel war Tagesordnung, Partei-Pässe entschieden über Privilegien und Frauen arbeiteten wie die Männer, weil es anders nicht ging. Da ist es einfach zu verstehen, was Freiheit ist; als Individuum, als Respektierender, als Pflichtenversteher... als Mensch.

Dom, 09/12/2021 - 18:04 Collegamento permanente
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Martin Streitberger Dom, 09/12/2021 - 19:24

Mir fällt auf, daß bei einem Artikel der subtil, vielleicht zu wissenschaftlich, ja doch psychologisch auf das Freiheitsgefühl eingeht, besonders von der fraulichen Warte aus, nur Männer was zu kommentieren haben. Schade!
Als Biologe finde ich die Freiheit auf Transmittersubstanzen reduzieren zu wollen als reduktiv. Es gibt eine objektive Freiheit, denn die Freiheit eines Sklaven ist eine andere als die eines Königs, unabhängig davon ob sie im Kopf stattfindet oder nicht. Und im Grunde wollen dies auch die Frauen, sowie die Männer. Denn die Freiheit ist jeden Tag zu erobern. In diesem Sinne ist für mich der Begriff Freiheit nicht von dem der Macht zu trennen.

Dom, 09/12/2021 - 19:24 Collegamento permanente
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Oliver Renzler Lun, 09/13/2021 - 19:58

Frau Plagg ist Marianne live! Toll. Und gerade das zitierte Albright-Zitat unterstreicht den erwähnten, meist doch sehr eng gesetzten Rahmen subjektiven Freiheitempfindens und altruistischen Gedankenansatzes - aller. Denn dieselbe Albright hat das durch US-Sanktionen bewirkte Dahinsterben einer halben Million Kinder im Irak - Kinder von Müttern und Frauen -, so kommentiert: "We think the price is worth it." Als sie dann Jahre später Wahlwerbung für Clinton machte, ahnte sie wohl dass: "There is a special place in hell for women who don’t help other women.”

Lun, 09/13/2021 - 19:58 Collegamento permanente