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"So viel Platz hat man im Gehirn nicht einmal"

Unser Bildungssystem aus der Perspektive einer Südtiroler Maturantin. Michaela Golser über Leistungsdruck, vorgefertigte Konzepte und ihren derzeit größten Wunsch: nie mehr Schule.

Ich bin Maturantin, stecke gerade voll im Lernstress und finde der Text passt sogar sehr gut zum italienischen Schulsystem: So begann ein Facebook-Kommentar der Pusterer Oberschülerin Michaela Golser auf den salto-Gastkommentar Bildung – Burnout mit zehn Jahren.  Der Hintergrund? Die aktuelle Diskussion rund um den Film Alphabet des österreichischen Dokumentarfilmers  Erwin Wagenhofer. Unser Bildungssystem macht starke wie schwache Schüler zu Verlierern ist seine These. Besonders weit davon entfernt ist auch die subjektive Wahrnehmung einer Südtiroler Oberschülerin am Ende ihrer Schulkarriere nicht.

Michaela, Du besuchst die Maturaklasse eines Pädagogischen Gymnasiums. Was heißt Schule für dich?
Michaela Golser: Ich muss ehrlich sagen, ich hoffe, dass ich diese Jahr noch irgendwie schaffe und dann nie mehr in die Schule gehen muss. Ich kann mich erinnern, dass ich schon in der Grundschule mit Lehrern aneinander geraten bin, weil ich immer schon ein ziemlich anders denkender Mensch war und nie habe akzeptieren können, dass ich die Sachen genau so machen muss, weil sie es so wollen. Deshalb war ich auch recht schnell als aufsässig verschrien. Aber in Wirklichkeit habe ich einfach nicht verstanden, wieso ich zum Beispiel für etwas, das ich mit Freude gemacht habe, eine schlechte Note bekommen kann.

Das heißt die Noten standen schon früh im Vordergrund?
Auf jeden Fall. Wir waren einer der ersten Jahrgänge, wo man nicht mehr sitzen hat bleiben können in der Grundschule, und das war damals für uns alle ein Riesenthema, weil wir so erleichtert waren darüber. Dabei ist das doch ohnehin ein Witz, wieso soll ich aufgrund einer schwachen Leistung sitzen bleiben. Lernen ist schließlich ein Prozess, und man kann nicht etwas falsch lernen, manche brauchen einfach ein bissl länger.

Oder wollen es  auf ihre Art machen?  
Ja, weil wenn man jung ist, versucht man schließlich sich selbst ein bissl auszuprobieren. Doch wenn man Schimpfe bekommt, weil etwas nicht genau den Vorstellungen der Lehrer entspricht, hemmt das die Schüler einfach schon in jungen Jahren. Auch in der Mittelschule hat zu mir eine Mathelehrerin einmal gemeint, ich wäre auf einem guten Niveau, aber laut ihrer Meinung, zu faul und zu stur, um es zu heben. So etwas finde ich einfach nicht richtig. Man ist nur mehr eine Note und kein Mensch mehr.  Das spüre ich auch jetzt in der Oberschule,  wenn Lehrer reinkommen, wo man schlecht ist, die schauen einen schon anders an. Aber nicht so in dem Sinne, ich helfe dir, du bist halt anders, sondern da weiß ich sofort:  Oje, jetzt habe ich wieder eine schlechte Note. Und es ist extrem demotivierend, schlechte Noten zu bekommen. Da hilft es auch nichts, wenn die Lehrer sagen, lern mehr, im Gegenteil, das nervt nur. Ich verstehe auch vollkommen, dass viele Schüler in ein Trotzverhalten gehen und sagen, dann tu ich gar nichts mehr.

Und was würde Dir statt schlechter Noten helfen?
Dass sie mir als Individuum helfen. Also nicht hergehen, und sagen, Ihr seid alle gleich, wieso könnte Ihr das nicht alle? Es wäre wichtig, dass ein Lehrer sieht, wo wir unsere Stärken haben und die anerkennt, und dann gemeinsam mit uns versucht, dass wir eben auf der anderen Seite auch ein bissl nachkommen. Aber da wird dann auch gleich wieder gewertet: Wenn zum Bespiel jemand gut ist in Musik, zählt das nicht, weil das ist nur Musik. In Chemie heißt es dagegen gleich: Wow, super.  Ich tu mir einfach allgemein schwer mit den Wertungen in unserer Gesellschaft.

Und offenbar mit vielen LehrerInnen?
Ich war letztes Jahr auf Austauschjahr in England und dort hatte ich einen ganz anderen Bezug zu ihnen. Dort gibt es schon mal nicht den Herrn oder und  die Frau Professor, wie bis uns, dort sind alle per Du.  Aber ich habe auch viel eher mit Problemen zu ihnen kommen können, sie fragen selber nach was man braucht, oder setzten sich nach der Schule noch mit Dir zusammen, wenn es ein Problem gibt. Das ist ein anderes System, dort wollen die Lehrer auch gute Beurteilungen durch die Schüler bekommen. Doch bei uns ist man entweder Integrationsschüler, dann bekommt man Stützunterricht. Aber bei allen anderen, die keine super Leistungen bringen, aber eben auch keine vorzeigbare Schwäche haben, heißt es dann einfach Ihr seid faul – oder dumm.

Bei Dir heißt es auch noch du hättest ADHS?
Ja, das habe ich denke ich auch, also zumindest laut einer Psychologin. Ich bin schon ein bissl laut oder hyperaktiv, und lasse mich  ganz schnell ablenken von etwas.

Und wirst Du dabei in der Schule unterstützt?
Nein, eigentlich nicht. Es heißt halt, konzentriere dich mehr, passe besser auf und lasse dich nicht so ablenken. Das hilft natürlich sehr, so  einfach ist das eben nicht. Aber ich bin trotzdem immer durchgekommen und habe auch nie eine Nachprüfung gehabt.

Und wo bist Du richtig gut?
Am besten in Deutsch. Das gefällt mir, das tu ich richtig gerne, dort kann man auch nicht wirklich etwas falsch machen. Denn wenn du schreibst, sind das einfach Ideen, die aus dem Kopf heraus kommen, und da sollte mir auch niemand sagen können, ob die falsch oder richtig sind.  Weil wenn wir damit beginnen, wundert es mich nicht, dass wir in einer Gesellschaft leben, wo bestimmte Gruppen ausgegrenzt sind, weil andere sagen, sie machen etwas falsch oder glauben beispielsweise an den falschen Gott.

Eine Kritik, die immer wieder am aktuellen Schulsystem geäußert wird, ist dass der Stoff viel zu viel geworden ist. Wie erlebst Du das?
Genau so. Das beginnt schon mit so Sachen wie dem Englischunterrich, in der Grundschule, der inzwischen eingeführt wurde. Wir haben seit der zweiten Volksschule Italienisch gehabt, und in der Maturklasse können wir es noch immer nicht gescheit. Ich finde in der Grundschule sollte man sich auch noch ein bissl auf das Kindsein konzentrieren können und ordentlich Lesen und Schreiben lernen können. Das können heute schließlich auch viele nicht mehr gescheit, einfach deswegen, weil so viel anderes verlangt wird.

Bis hin zur Oberschule?
Absolut.  Wie wir jetzt von den Herbstferien zurückgekommen sind, haben wir alle am ersten Tag schon gesagt: Wahnsinn , bitte wieder Ferien. Wir haben gleich in der ersten Woche wieder fünf Tests gehabt, da ist nicht einmal in den Ferien einmal Zeit, wirklich abzuschalten. Und dann höre ich dieses Jahr auch von vielen Klassen, dass es überall heißt, man könnte jeden Tag in jedem Fach geprüft werden und deshalb sollen wir auch immer überall kontinuierlich mitlernen. Aber das ist einfach nicht möglich, so viel Platz hat man im Gehirn nicht einmal, dass man sich das alle merken kann. Und außerdem hätte jede und jeder von uns vielleicht auch gerne zumindest ein bissl soziales Leben.

Und das ist schwierig, neben der Schule zu haben?
Ja, weil die ganze Woche ist einfach steckvoll. Allein, was man Nachmittag investieren muss, um für Hausaufgaben und Tests zu lernen, da kommen wir in der Schule sicher auf die selbe Stundenanzahl wie jemand, der normal arbeitet. Am Montag haben wir zum Beispiel immer bis 16.30 Uhr Schule. Wenn ich dann nach Hause komme, ist es schon finster jetzt, und dann sollte ich für fünf verschiedene Fächer lernen und Hausaufgaben machen. Ich gehe da manchmal wirklich bewusst in Streik vor lauter Druck, und sage mir: So, jetzt tu ich einfach überhaupt nichts.

Du bist in einer Musikklasse, gibt es da nicht wenigstens einen musischen Ausgleich?
Ja, schon. Aber das nimmt halt auch alles viel Zeit und Nachmittage in Anspruch. Wenn es dann zum Beispiel ein Weihnachtskonzert gibt, finden die Proben immer in unserer privaten Zeit  statt, und das wird dann zur Pflicht, weil es eben schulisch ist. Oder ich habe zum Beispiel das Wahlfach Theater total gerne gemacht, aber jetzt habe ich es bleiben lassen, weil es  auch alles zu viel wird mit den Proben. Das kann man sich gar nicht leisten, wenn man nicht so gute Noten hat. 

Was willst Du machen, wenn Du dieses letztes Schuljahr hinter Dich gebracht hast?
Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich studieren gehe, weil eigentlich will ich nach dem Jahr einfach mal meine Ruhe haben von dem Gelerne. Und in vielen Studienrichtungen müssten wir ja jetzt mit der Matura auch noch die Uni-Aufnahmeprüfungen unter einen Hut kriegen. Da geht der Druck ja schon wieder weiter. Weil ob ich jetzt bei der Matura mit 70 Punkten oder summa cum laude durchkomme – für mich persönlich ist es wichtig, dass ich sie schaffe. Aber wenn ich zum Beispiel Medizin studieren will, bräuche ich schon mindestens 90 Punkte. Das finde ich einfach nicht okay, ob ich eine gute Ärztin werde, hängt wohl von ganz anderen Dingen als von 90 Punkten ab.

Wie sollte das  also in der Schule aussehen, die Du Dir wünschen würdest?
Das ist gar nicht so leicht. Wenn ich jetzt sage, die Bewertungen sollen weg, kann ich mir vorstellen, dass viele wieder nicht zufrieden wären, weil sie ja Lob für ihre Arbeit bekommen wollen. Aber, was wir jetzt schon versuchen durchzubringen, ist, dass wir zumindest nicht jeden Tag oder am Montag und nach Ferien geprüft werden können. Da gäbe es ohnehin eine Schülercharta, wo so etwas schon festgelegt ist, doch das ist unserer Lehrern total egal.  Also es sollte einfach dieser ständige Stress weg, und dieser Druck der Lehrer, dauernd Noten zu brauchen. Weil sonst wundert es mich nicht, wenn wir alle irgendwann einen Burnout kriegen.