Berliner Gedanken
Berlin ist ein Ort, der einschneidende zeithistorische Momente auf sich vereint. Auf schillernde 1920er Jahre folgten der Aufschwung antidemokratischer Kräfte und die Schrecken der Nationalsozialisten beginnend mit den 1930er Jahren, die in einem verheerenden Krieg enden sollten. Bald nach dem Krieg sah sich die Stadt geteilt, in Ost und West, 13 Jahre darauf durchzogen von einer Mauer.
Ich selbst habe den Kalten Krieg, die Teilung Berlins und Deutschlands nicht miterlebt, wusste folglich wenige Gefühle damit zu verbinden. Außer jene, die während des Geschichtsunterrichts, im Fernsehen und Radio, im Gespräch mit Zeitzeugen aufkamen. Doch mein unmittelbarer Bezug fehlte. Und es fehlte lange eine gewisse Nähe, die man mit Ereignissen, Orten und Menschen verbindet.
Wer Berlin besucht, kommt nicht umhin, Straßen, Plätze und Viertel zu besichtigen, die einstmals Schauplatz bewegender Jahre waren. Einer dieser Orte ist die Bernauer Straße, wo der Grenzstreifen zwischen Ost- und Westberlin verlief. Sie war ein berüchtigter Abschnitt. Zahlreiche Fluchtversuche aus Hausfenstern und über selbstgegrabene Tunnel wurden hier getätigt. Heute erinnert eine Gedenkstätte an den fast dreißigjährigen Bestand der Mauer. Und an deren Opfer.
Was muss jemand empfinden, der von Familie, Freunden und Verwandten, von Liebschaften und Kindern, durch massiven Beton und Stacheldraht getrennt, sein Leben in einem fristet? Einem Gefängnisinsassen gleich. Jemand, dessen Freiheitsbestrebungen nicht selten fatal sein sollten. Was fühlen die Angehörigen und Freunde derer, die ihr Leben ließen, weil der Drang nach Freiheit schlicht zu groß war? Was passiert dagegen in den Köpfen derer, die sich für den Tod vieler Tausend Menschen verantwortlich zeichnen?
Ich konnte Derartiges lange nicht nachvollziehen. Ebenso wenig war es mir möglich, das Leid von Krieg und Unterdrückung, von Ausgrenzung und Isolation zu beschreiben. Es fühlt sich so fern an. Fern von einem friedlichen Europa. Einem Europa der offenen Grenzen unter blauem Sternenbanner.
Ich habe damals Tagebuch geführt und versucht, meine Eindrücke zu Papier zu bringen. Vieles, was ich nun lese, empfinde ich als pathetisch. Aber ich kann noch immer gut nachvollziehen, was ich damals spürte. Zugegeben, es sind bloß drei Jahre vergangen, keine Jahrzehnte. Und doch versetzen mich wenige Zeilen in die Gefühlslage dieser Tage zurück.
Drei Tage dauerte mein Aufenthalt in Berlin. Das war beileibe nicht ausreichend, um auch entlegenste Winkel der Stadt zu erkunden. So fiel die Auswahl der zu besichtigenden Gegebenheiten, auf Orte des öffentlichen Gedächtnisses und der Aufarbeitung vergangener Zeiten. Einer dieser Orte war das Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“. Dieses steht auf dem Gelände in der ehemaligen Wilhelm- und Prinz-Albrecht-Straße, von wo aus zwischen 1933 und 1945 Gestapo und SS ihre Gräueltaten planten und ausführten.
Unzählige Zeitdokumente aus besagten Jahren, Bilder, Briefe, Zeitungsberichte - aus Polen, dem Baltikum, der Sowjetunion – zeugen von der Ruchlosigkeit und unbeschreiblichen Traurigkeit nationalsozialistischen Vorgehens.
Man denkt, man wisse mehr oder weniger Bescheid über den Völkermord der Nazis vor und während des 2. Weltkriegs. Doch hier vor Ort zu stehen, wo vor 80 Jahren die größten Verbrechen der Menschheit geplant wurden, wo Menschenrechte und Humanität mit Füßen getreten wurden, nimmt mich ganz schön mit.
Wenige hundert Meter Luftlinie entfernt, steht das Holocaust-Mahnmal. Ein „Denkmal der Schande“, in der Rhetorik der neuen Rechten in Deutschland, die gerade im Osten Deutschlands einen Höhenflug erleben. Ich versuche zu verstehen, warum. Nach all den bitteren Perioden des 20. Jahrhunderts. Ich kann nicht nachvollziehen, dass „ein Vogelschiss der deutschen Geschichte“ offenkundig bei Vielen in Vergessenheit gerät. Das Leid der Unterdrückung und des Totalitarismus scheint gewichen, scheint Platz gemacht zu haben für neue Ängste und Sorgen.
Im selben Jahr meiner Reise erschütterte ein Terroranschlag auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin die besinnliche Vorweihnachtszeit. Einen Monat zuvor bewunderte ich noch die Gedächtniskirche, daneben lief der Aufbau der Stände auf Hochtouren. Unvorstellbar, dass nur wenig später ein Lastkraftwagen durch das Gelände rasen und elf Menschen töten sollte. Es war ein islamistischer Akt des Terrors, wie sich später herausstellte. Gefundenes Fressen für nationalistische Stimmungsmacher. Instrumentalisierung trat schnell an die Stelle von Trauer und Solidarität.
Vor 30 Jahren zerbröckelte der eiserne Vorhang. Heute wird der Ruf laut nach mehr Mauern, nach Schutz und Sicherheit. Dabei sollte das Jahr 1989 eine Wende sein für Europa. Doch eine Wende wohin?