Last (Br)Exit?
Großbritannien wählt sein Unterhaus, zum dritten Mal in fünf Jahren. Dabei ist der diesjährige Wahltermin während der Vorweihnachtszeit ungewöhnlich, wählt man auf der Insel doch in aller Regel im Frühjahr. Die Wichtigkeit dieser vorgezogenen Neuwahl, schmälert dies allerdings nicht.
In 650 Wahlkreisen sind mehr als 45 Millionen Wahlberechtigte von 7 bis 22 Uhr aufgerufen, zur Urne zu schreiten. Gewählt werden die 650 Abgeordneten des ‚House of Commons‘, dem Unterhaus des britischen Parlaments.
Bei den EU-Wahlen im Mai lag die Wahlbeteiligung lediglich bei 37 Prozent. Die Conservative Party und die sozialdemokratische Labour-Partei wurden abgestraft. Die Brexit-Partei als stärkste Kraft ergatterte ein Drittel aller Stimmen. Dieses Bild wird sich aber nach der Auszählung der heutigen Stimmzettel nicht wiederholen. Ebenso wenig wird es Parteien wie den Grünen gelingen, ähnliche Achtungserfolge wie in diversen anderen europäischen Ländern zu landen.
Schuld daran ist das in Großbritannien praktizierte relative Mehrheitswahlrecht. Ähnlich wie die Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten, funktioniert die heutig Wahl nach dem „the winner takes it all“-Prinzip. Wer in einem Wahlkreis die einfache Mehrheit der Stimmen auf sich vereinen kann, erhält einen der 650 Sitze im Unterhaus. Stimmen der unterlegenen Gegenkandidaten sind buchstäblich wertlos.
Aufgrund dessen kommt es, dass mit den Tories und Labour schlussendlich zwei Parteien das politische Tagesgeschäft in Westminster dominieren. Die Liberaldemokraten spielten in den letzten Jahren eine zweitrangige Rolle, könnten nun jedoch der entscheidende Faktor für eine Mehrheit werden. Um eine konservative Regierung zu verhindern, wird es laut Guardian in umkämpften Wahlkreisen auf taktisches Votieren ankommen.
Premierminister Boris Johnsons Tories liegen zwar in Umfragen mit derzeit 43% deutlich vor Labour mit 34%, allerdings sichert ihnen das nicht zwingend eine erforderliche Mehrheit von 326 Sitzen. Und die braucht Johnson, um ein arbeitsfähiges Parlament zu gewährleisten, das seinen Fahrplan für die nächsten Monate und Jahre absegnet.
Wir haben diese Wahl, weil das Parlament nichts bewirken konnte. Nur die Konservativen können Brexit zum Abschluss und das Parlament wieder zur Arbeit bringen, an Themen, die für euch wichtig sind. Boris Johnson
Sitzgewinne der Liberaldemokraten und der schottischen SNP könnten Johnsons Visionen allerdings einen Riegel vorschieben. Glaubt man den Umfragen, gilt zwar eine Mehrheit für Labour als praktisch ausgeschlossen. Eine mögliche sozialdemokratische Minderheitsregierung mit zeitweiliger Unterstützung der „Anti-Brexit-Fraktionen“ ist hingegen nicht unwahrscheinlich.
Dauerbrenner Brexit
Als Boris Johnson Ende Juli dieses Jahres Theresa Mays Amt als britischer Premierminister übernahm, versprach er das Land zu einen, Kontrahent und Labour-Chef Jeremy Corbyn zu besiegen und den Brexit abzuschließen. Letzteres gelang ihm bis dato nicht; ein neuerlich ausgehandelter Austrittsdeal mit der EU bekam nicht die nötige Mehrheit im Parlament. Die heutigen Neuwahlen waren die Folge.
Auch die Gegensätze in Großbritannien vermochte Johnson nicht zu beseitigen. Das Land ist nach wie vor gespalten; Johnsons Brexit-Deal würde der Errichtung einer Grenze in der irischen See gleichkommen und den Konflikt in Nordirland anstacheln, Schottland hingegen würde seine Unabhängigkeitsbemühungen wohl verstärken.
Boris Johnsons Motto für den Wahlkampf blieb aber unverändert: „Get Brexit done. Entfessle Großbritanniens Potenzial.“ Seine Botschaft also klar: Wählt konservativ und wir sind endlich raus und starten durch. Aber so einfach stellt sich die Lage nicht dar - entgegen Johnsons Aussagen.
Bei einer konservativen Mehrheit dürfte Boris Johnson zwar ziemlich sicher Premierminister bleiben und Großbritannien zum 31. Januar tatsächlich aus der EU führen. Das Brexit-Drama wäre dann jedoch keineswegs überwunden. Nach dem formalen Austritt folgt eine Übergansperiode, in der es für Großbritannien und die EU gilt, eine Einigung in zukünftigen Handelsfragen zu treffen.
Morgen könnt ihr das Establishment erschüttern, indem ihr für Hoffnung stimmt. Jeremy Corbyn
Nach aktuellem Stand endet diese Übergangsphase mit 31. Dezember 2020. Bis dahin will Boris Johnson in jedem Fall ein fertiges Handelsabkommen mit der EU aushandeln. Angesichts des Umfangs und der Komplexität eines solchen ‚Agreements‘, wird es wohl unvermeidlich zu einem weiteren Aufschub kommen müssen. Wie der Independent berichtet, halte EU-Chefverhandler Michael Barnier Jonsons Pläne für unrealistisch. Der Brexit wird die britische Öffentlichkeit also nicht voreilig loslassen.
Dass dieser aber ein leidiges Thema ist, bestätigt auch der Fall der britischen Brexit-Beauftragten in Washington, Alexandra Hall, die erst kürzlich resigniert ihren Posten verlassen hatte. „Ich war zunehmend bestürzt über die Art und Weise, wie unsere politischen Führer versucht haben, den Brexit über die Bühne zu bringen."
Den EU-Ausstieg zur erneuten Diskussion stellen will Labour, falls sie es zu einer regierungsfähigen Mehrheit bringen sollten. Partei-Chef Jeremy Corbyn selbst gilt als früherer EU-Gegner, hüllt derzeit aber in Schweigen, wie er zum Brexit steht. Zieht er in Downing Street Nummer 10 ein, will er binnen sechs Monaten einen neuen Austrittsvertrag mit der EU aushandeln und dem Volk zur Abstimmung vorlegen – gemeinsam mit der Remain-Option, also einem schlussendlichen Verbleib in der Union.
Gesundheit, Klima, Sicherheit
Doch es gab auch Themen abseits des Brexits, welche die Bevölkerung in Großbritannien beschäftigten. Ein am Montag veröffentlichtes Foto eines offensichtlich kranken Kindes, das auf dem Boden eines Krankenhauses liegend auf ein Bett warten muss, befeuerte kurz vor der Wahl noch einmal heftig die Debatte um das staatliche Gesundheitssystem.
Während sich die Tories in erster Linie dem Brexit verschrieben, machte Labour eben diesen National Health Service, kurz NHS, zu seinem Steckenpferd. Corbyn fordert Investitionen in Milliardenhöhe und verweist darauf, dass eine zehnjährige konservative Regierungspolitik zu - einem alles andere als zufriedenstellenden – fast desolaten Zustand der öffentlichen Gesundheitsversorgung geführt habe.
Weiters strebt Labour zahlreiche Verstaatlichungen an. Bereiche wie Wasser- und Energieversorgung oder Telekommunikation sollen durch die öffentliche Hand besorgt werden. Zudem wird eine höhere Besteuerung der Spitzenverdiener und eine „grüne industrielle Revolution“ gefordert. Auch die Liberaldemokraten und die Grünen forcierten die Thematik Klimaschutz in ihren Wahlkämpfen. Kaum Beachtung fand sie hingegen bei den Konservativen, die wiederum die Sicherheitsproblematik ansprechen, nicht zuletzt auch aufgrund der Messerattacke auf der London Bridge Ende November.
Erste akkurate Hochrechnungen werden um 23:00 Uhr (MEZ) erwartet. Zeitnahe Updates gibt es unter anderem bei BBC und The Guardian.
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Wieso vermuten Sie das? Die negativen Folgen eines anbahnenden Brexit sind schon jetzt zu spüren.