Società | Coronavirus
Wenn der Virus zum Politikum wird
könnte sichDie Lombardei ist Italiens grösste und reichste Region. Sie hat mehr Einwohner als Österreich und ihr Sozialprodukt nähert sich dem der benachbarten Schweiz. Mailand ist eine der attraktivsten europäischen Städte, die Wohnungspreise sind die höchsten der Halbinsel. Gleichzeitig ist die Lombardei mit ihren 10,5 Millionen Einwohnern die am massivsten vom Coronavirus heimgesuchte Region - und jene, wo die folgenschwersten Fehler begangen wurden.
Kein Ort verkörpert diese Verirrungen so krass wie das geschichtsträchtige Pio Albergo Trivulzio, jene legendäre Seniorenresidenz, die von den Mailändern Baggina genannt wird, weil sie
im Stadtviertel Baggio liegt.
Gegründet wurde sie 1756 vom Fürsten Antonio Tolomeo Trivulzio in seinem ehemaligen Palast. Mit über 1000 Patienten ist es Mailands grösstes Altersheim und geriatrisches Krankenhaus.
Unglaublich, aber wahr: dem Pflegepersonal war dort das Tragen von Gesichtsmasken verboten, um die Patienten nicht zu verunsichern. "Sono stata cacciata perché mi sono rifiutata di
togliere la mascherina", erzählt eine Pflegerin. Die Direktorin habe ihr befohlen, ihren Arbeitskittel sofort auszuziehen und die Anstalt zu verlassen.
"Eine betroffene Krankenschwester: "E´come se li avessimo uccisi, solo noi potevamo portare il contagio da fuori." Wie all das passieren konnte, soll nun eine Untersuchungskommission klären, der auch der bekannte Mani-Pulite-Richter Gherardo Colombo angehört.
Doch nicht nur das Pio Albergo Trivulzio war Schauplatz krasser Fehlleistungen - auch viele andere Altersheime der Region, die italienweit unter der Bezeichnung Ras bekannt sind (residenze sanitarie assistite).
So bleibt unerklärlich, warum in der Provinz Bergamo nicht rechtzeitig eine rote Zone ausgerufen wurde - hier entstand der grösste Infektionsherd Europas mit über2500 Toten.
Mittelpunkt der Gefährdungszone war das Krankenhaus von Alzano, wo bereits am 23. Februar zwei Patienten positiv auf Corona 19 getestet wurden, nachdem sie bereits eine ganze Woche im Spital gelegen hatten. Die
Notaufnahme wurde nur vorübergehend geschlossen. Das Spital blieb geöffnet, das Virus konnte ungehindert zirkulieren. Das notorische Fehlen von Gesichtsmasken wirkte sich zusätzlich erschwerend aus.
Die Ärztekammern der lombardischen Provinzen übten mehrmals massive Kritik an der Regionalregierung - vor allem an den Opferzahlen:
"La mancanza di dati sull`esatta diffusione dell'epidemia, legata all'esecuzione di tamponi solo ai pazienti ricoverati e alla diagnosi di morte attribuita solo ai deceduti in ospedale. I dati sono sempre stati presenti come "numeri degli infetti" e come "numero dei deceduti" e la mortalità calcolata è quella relativa ai pazienti ricoverati, mentre il mondo si chiede le ragioni dell'alta mortalità registrata in Italia, senza rendersi conto che si tratta solo dell'errata impostazione della raccolta dati, che sottostima enormemente il numero dei malati e discretamente il numero dei deceduti". Ein folgenschwerer Vorwurf an die Regionalregierung, das verheerende Bild mit
geschönten Zahlen zu übertünchen.
Dazu kam die Profilierungssucht der regionalen Politiker. Da man sich nicht mit dem staatlichen Zivilschutzbeauftragten begnügen wollte, pochte die Lombardei auf einen eigenen, regionalen Koordinator. Man entschied sich für Berlusconis alten Freund Guido Bertolaso. Doch der war kaum aus Afrika angereist, als er auch schon positiv getestet wurde. Der Präsident der Region, Attilio Fontana, kündigte ebenfalls nach wenigen Tagen an, dass er positiv getestet worden sei.
Die Quarantäne werde er im Palazzo della regione verbringen.Vor laufender Kammer versuchte er vergeblich, eine Gesichtsmaske anzulegen eine Kabarettnummer. Fontana polemisierte fast täglich gegen die römische Regierung, der er Benachteiligung der Lombardei unterstellte: "Ci arrivano soltanto le briciole, il numero di mascherine era assolutamente insufficiente."
Nur: die Gesichtsmasken waren bekanntlich überall Mangelware - von Sizilien
bis zum Brenner. Der Regionalassessor für Wirtschaftsentwicklung, Alessandro Mattinzoli, ging so weit, Premier Conte bei einem Besuch in der Lombardei sogar mit physischer Gewalt zu drohen: "Non sono mai stato per la
pena di morte. Ma vi dico che se Conte viene in Lombardia ne prende tante. Bergamaschi e i bresciani hanno voglia di dargliele. Abbiamo lavorato tanto. Qualche errore potremo anche averlo commesso. Ma qui c'è una intera regione che va male e lui sta seduto dietro alla scrivania."
Mit grosszügigen Spendengeldern (10 Millionen allein von Berlusconi) verwirklichte Fontana seinen Plan zur Errichtung eines Notlazaretts für 1500 Patienten am Mailänder Messegelände. Doch dort sind
bisher kaum zwei Dutzend Patienten untergebracht. Der Grund: die fehlenden Ärzte und Krankenpfleger. Über die gegenwärtigen 48 Betten wird man kaum hinauskommen. Der leitende Kardiologe
des Niguarda-Krankenhauses, Giuseppe Bruschi: "L´idea di realizzare una terapia intensiva in fiera non sta né in cielo nè in terra. Una terapia intensiva funziona solo se integrata con tutte le altre strutture complesse di un ospedale." In zahlreichen lombardischen Altersheimen wurden in den letzten Tagen Hausdurchsuchungen durchgeführt, die Anzeigen der Überlebenden häufen sich. Wäre sie nicht so fanatisch und selbstgefällig, könnte sich die lombardische Lega durchaus an ihrem Parteikollegen Luca Zaia orientieren, der die Probleme im Veneto erfolgreich mit grösstmöglichem Konsens zu lösen versucht.
Mit einer bisherigen Rekodzahl von über 11.000 Toten zahlt die Lombardei einen hohen Tribut für eine Serie unglaublicher Fehlleistungen, die in den kommenden Jahren Gegenstand Dutzender Gerichtsverfahren sein werden.
Dass die Lega nach der letzten Regionalwahl in der Lombardei hartnäckig auf dem Gesundheitsressort bestanden hat, könnte schon bald für Salvinis Partei zum gefährlichen Bumerang werden.
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