Economia | Gastbeitrag

Eine alte Idee mit hoher Aktualität

Genossenschaften sind Wirtschaftsmotoren, sie "stellen soziale, kulturelle und gesundheitliche Dienste bereit", sagt Professorin Susanne Elsen.

Weltweit tragen Genossenschaften zur Überwindung wirtschaftlicher Abhängigkeiten sowie zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Integration von Millionen von Menschen bei. Sie schaffen und sichern Arbeit und Wohnraum, stellen soziale, kulturelle und gesundheitliche Dienste bereit, organisieren Gemeingüter und gewährleisten lokale Wertschöpfung. Nach Angaben der UNO sind annähernd eine Milliarde Menschen Mitglieder von Genossenschaften in mehr als 100 Ländern. Ca. 100 Millionen Arbeitsplätze werden weltweit von Genossenschaften bereit gestellt und die Ernährungsgrundlagen der Hälfte der Weltbevölkerung wird nach Einschätzung der UNO durch Genossenschaften gesichert. Auch in der Europäischen Union tragen Genossenschaften mit über 100 Millionen Mitgliedern maßgeblich zum wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wohlstand bei.

Der Bestand und die Weiterentwicklung dieser alten, oft als „vormodern“ missverstandenen Unternehmensform, die in den vergangenen dreißig Jahren unter dem Siegeszug der Kapitallogik gerne marginalisiert oder ignoriert wurde, konnte nicht aufgehalten werden. Genossenschaften als Organisationsform nicht primär profitorientierten Wirtschaftens gewinnen vor dem Hintergrund der aktuellen, gesellschaftlichen Entwicklungen neue Bedeutung. Die Neugründungen sind nicht zu verstehen als Rückfall vor die industrielle Moderne, sondern als Vorgriff auf eine andere und zukunftsfähige Moderne, die Verantwortung für die ökologischen und gesellschaftlichen Lebensgrundlagen nicht dem schnellen und flüchtigen Kapital opfert. Genossenschaften sind Gegenentwürfe zur Steuerung durch die Kapitallogik, die mit Wachstums- und Wettbewerbszwängen verbunden ist. Das macht sie in einer Zeit, in der monetäres Kapital an Legitimation, Glaubwürdigkeit, Stabilität und Verfügbarkeit eingebüßt hat, in neuer Weise attraktiv.

Das ökonomische Potential genossenschaftlichen Wirtschaftens beruht auf der Bündelung von Kräften und der kooperativen Bewirtschaftung knapper Ressourcen. Die nutzer- versus investorenorientierte Ausrichtung ermöglicht auch eine andere Kalkulationsgrundlage, denn rein spekulative Gewinne werden verhindert. Die Einbindung in den lokalen Lebenskontext und die Zusammenarbeit von Menschen auf der Basis des genossenschaftlichen Demokratieprinzips gewährleisten Bedarfsspezifik, Transparenz und Verlässlichkeit.
Das gesellschaftliche Potenzial von Kooperativen beruht auf der Generierung und produktiven Nutzung von Sozialkapital, oder wie man es früher nannte „Vertrauen“, durch das Kooperations- und Solidaritätsprinzip. Diese Werte sind nicht hoch genug zu schätzen, denn Sozialkapital ist durch die Verbreitung des Ellenbogenprinzips in Wirtschaft und Gesellschaft zum knappen Gut geworden. Genossenschaftliches Wirtschaften ist aber nicht nur eine Antwort auf die Wirtschafts-und Finanzkrise, sondern auch auf die Erfordernisse des Klimawandels und der nachhaltigen Entwicklung. Die erhaltende Bewirtschaftung lokaler Ressourcen ist ein Schlüssel dazu.

Das gesellschaftliche Potenzial von Kooperativen beruht auf der Generierung und produktiven Nutzung von Sozialkapital, oder wie man es früher nannte „Vertrauen“, durch das Kooperations- und Solidaritätsprinzip. Diese Werte sind nicht hoch genug zu schätzen, denn Sozialkapital ist durch die Verbreitung des Ellenbogenprinzips in Wirtschaft und Gesellschaft zum knappen Gut geworden.

Es zeigt sich in Industrie-, Transformations- und Entwicklungsländern, dass Genossenschaften ein sehr hohes Potenzial der Anpassung an gesellschaftliche Bedarfslagen und Veränderungen bergen. Seit mehr als 150 Jahren sind sie weltweit treibende Kräfte wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung und Problemlösung. Sie sind erfolgreiche Akteure in der gewerblichen Wirtschaft, erhöhen in Form von kooperativen Zusammenschlüssen die Chancen von Einzelunternehmern bzw. von kleinen und mittleren Unternehmen im Markt oder ermöglichen in ihrer Pionierfunktion überhaupt erst den Schritt von informellen in formelle Strukturen. Unter dem Druck der Weltmärkte erkennen viele Regionen heute die Möglichkeiten, lokal-regionale Wertschöpfungskreisläufe durch genossenschaftliche Zusammenschlüsse zu fördern und so die eigenen Ressourcen nachhaltig zu bewirtschaften.

Besondere Bedeutung kommt der genossenschaftlichen Organisation der Daseinsvorsorge unter dem Druck auf die öffentlichen Haushalte zu. In Städten, Gemeindeverbünden und Regionen schließen sich öffentliche und private Institutionen in genossenschaftlichen Multistakeholder-Organisationen zusammen (Cooperative di Communità), um die Infrastruktur des Gemeinwesens und den Zugang der lokalen Bevölkerung in den Bereichen Kultur, Gesundheit, Bildung und Soziales sowie zu den Lebensgütern (z.B. Wasser und Boden) zu sichern. Derzeit antwortet der Genossenschaftssektor in Form lokal-regionaler Energiegenossenschaften („Energie in Bürgerhand“) auf die Erfordernisse der nachhaltigen Energieversorgung oder in Form von Seniorengenossenschaften in Verbindung mit Zeitbanken auf die Erfordernisse der veränderten demographischen Situation. Wie die Beispiele „Libera Terra“ im Süden Italiens oder Kooperativen indigener Bevölkerungsgruppen in Guatemala und Peru zeigen, sind Genossenschaften, wie in der Zeit ihrer Entstehung, auch wirksame politische Organisationsformen zur Durchsetzung und Verteidigung der Rechte benachteiligter oder bedrohter Gruppen und Gemeinwesen.

Die genossenschaftlichen Organisationsprinzipien bilden ein System von Normen und Werten, welches auf alle gesellschaftlichen Institutionen anwendbar und für eine zukunftsfähige Entwicklung richtungsweisend wäre. Südtirols Genossenschaftswesen, sowohl seine Unternehmen als auch die regionalen Dachorganisationen, die Rolle im Gesellschafts- und Wirtschaftssystem aber auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen gelten in Europa als beispielhaft und sind Modell für verschiedene Innovationsbemühungen in Europa. Das sollte Anlass sein, die besonderen Stärken des Südtiroler Genossenschaftswesens auch im eigenen Land noch stärker bewusst zu machen.