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Geben und Nehmen

Die Verbindung von Drinnen und Draußen als Schwellen der Lebendigkeit mit der bildenden Künstlerin Ulrike Bernard.
Giving Taking
Foto: Kathrin Köster
  • Ulrike Bernard ist bildende Künstlerin. Innerhalb von künstlerischen Settings, die sie für den Außenraum konzipiert, setzt sie das Leseformat "Etwas wagen (Herz, Hand, Verstand)" um, indem sie Ökofeministinnen, Umweltaktivistinnen und Biologinnen vorstellt (u. a. in der Gartenarbeitsschule Tempelhof - Schöneberg, BASIS Vinschgau '21, Floating University und Seeding Freedom Festival Berlin '22, A.T.E.N.A Garten Sète, 2023). Innerhalb des Ateliers der Lebendigkeit entwickelt sie künstlerisch – umweltpädagogische Workshopformate und gestaltet in Zusammenarbeit mit kulturellen und gemeinschaftsorientierten Initiativen künstlerische (Außen-)Räume, die die Verbindung von Drinnen und Draußen als Schwellen der Lebendigkeit und als Unterbrechung zu gewohnten Lernschemas feiern.

     

    SALTO Artstore: Erst kürzlich warst du anlässlich des Workshops *HÖHLE, Unterschlupf & Baldachin* in Südtirol. Kannst du mehr über die Zusammenarbeit mit Claudia Aimar erzählen?

    Ulrike Bernard: Es ist das zweite Jahr in Folge, dass ich zusammen mit Claudia, dieses Workshopformat umsetze. An einem Wochenende bauen wir mit den Kindern eine/n„Höhle, Unterschlupf, Baldachin“. Fast alle Kinder haben bereits ein simples Refugium aus Decken oder Holz im Innenraum oder im Wald gebaut. Sie kennen das wohlige Gefühl sich darin aufzuhalten. Bei dieser Grunderfahrung setzen wir an.

    Wir vermitteln den Kindern, wie man von einer Ausgangsidee in Form von Skizzen, in die dreidimensionale Ebenen kommt. Also von der Vorstellung zur baulichen Umsetzung. Aufgrund der kurzen Dauer des Workshops haben Claudia und ich viel Vorarbeit bei den Skizzen und der 3D Visualisierung geleistet. Im Workshop konzentrieren wir uns darauf mit den Kindern zu bauen und ihnen handwerkliche Techniken zu zeigen. Wir erschaffen alle eine gemeinsame Konstruktion. Jede:r trägt dazu bei, dass eine kollektive Architektur entsteht. Die Kinder messen, bohren, schleifen, schneiden, hämmern, malen, flechten und bauen auf und ab.

    Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das erste Mal einen Akkuschrauber in der Hand hielt. Es war auf jeden Fall nicht mit sieben Jahren. Hier geht es also auch um Empowerment! Früh zu lernen, dass ich selbst gestalten und die Maschinen bedienen kann.

    Sobald der Unterschlupf steht, wird er sofort von den Kindern bezogen. Hier, im Inneren der Höhle, öffnen wir dann weitere Vorstellungsräume, indem wir aus Kinderbüchern vorlesen. Dieses Jahr hatten wir eine Kollaboration mit ÓPLab Meran, das uns wunderbare, thematisch passende Bücher, für die Vorlesehöhle ausgeliehen hat.

    Dieses Format weicht von meiner sonstigen Workshoptätigkeit ab, die im künstlerisch-ökologischen Bereich angesiedelt ist. Die Zusammenarbeit mit der Architektin Claudia Aimar empfand ich als bereichernd. Mir macht es große Freude, interdisziplinär zusammen zu arbeiten, diverse Perspektiven kennenzulernen und voneinander und miteinander zu lernen.

     

    Seit einigen Jahren betreust du die geschichtsträchtige *Gartenarbeitsschule*, ein großes grünes Klassenzimmer direkt hinter dem Tempelhofer Feld, nähe Berlin Südkreuz.Wie sieht dein Alltag dort aus? Wie nimmt dieser Ort Einfluss auf deine künstlerische Praxis?

    Alltag in dem Sinne habe ich dort keinen. Ich arbeite vor allem in den Ferienzeiträumen in der Gartenarbeitsschule und konzipiere und leite künstlerisch-umweltpädagogische Workshopformate für Kinder und Erwachsene. Unter den Teilnehmer:innen sind auch Menschen mit und ohne Fluchterfahrung und junge Erwachsene aus betreuten Wohnformen. Ich gestalte dort auch ein Mischkulturbeet. Unter dem Namen „Atelier der Lebendigkeit“ entwickle ich diverse Workshops, die sich mit saisonaler, regionaler Ernährung, Bodenlebewesen und künstlerischen Sicht- und Ausdrucksweisen beschäftigen. Bei all diesen Angeboten verbinde ich fachliche Kenntnisse mit sinnlichen Erfahrungen und vertiefe das Erlernte durch künstlerische Methoden.Wir ernten zum Beispiel Gemüse aus dem Beet oder sammeln Früchte, kochen und essen gemeinsam. Wir schauen uns an welche Bodenlebewesen im Kompost leben, entwickeln Tischdecken mit Motiven von Tieren, die wir gesehen haben. Wir stellen so Zusammenhänge her, zwischen den Lebewesen im Boden und dem was wir essen. Im Grunde ist es eine holistische Blickrichtung, die wir einnehmen und auf eine Art ist es auch eine Beziehungsarbeit mit dem Lebendigen. Die Gartenarbeitsschulen gibt es seit den 20er Jahren in Berlin. Sie wurden in Zeiten der Reformbewegung gegründet, mit der Prämisse, dass vor allem Kinder Gemüse selbst anpflanzen können.

    Die 2,5 ha große Gartenarbeitsschule Tempelhof - Schöneberg, an der ich arbeite, ist durch ihre Vielfalt an Biotopen wahnsinnig lebendig und in ständiger Veränderung. Das zu beobachten, beeinflusst mein Denken und Handeln. Hier findet handlungsorientiertes Lernen statt. Ich habe in erster Linie gelernt genau zu beobachten, geduldig zu sein und Transformationsprozesse zu erleben. Ein Beispiel: im Dung habe ich eine 12 cm große Naßhornkäferlarve gefunden, die bis zu fünf Jahre braucht, um sich als Käfer auszubilden. Die Käfer leben nachdem sie geschlüpft sind 4-6 Wochen. Das ist beeindruckend! Es ist von großer Bedeutung, solche grüne Oasen in der Stadt zu haben, sie zu pflegen und zu beleben. Die Menschen die dort hin kommen, lieben den Ort. Vor allem die Begeisterung der Kinder ist inspirierend und ansteckend. Diese Begeisterungsfähigkeit lag uns als Kinder allen mal inne, auch diese gilt es im späteren Leben zu kultivieren wie einen Garten.

    Wie nimmt der Ort Einfluss auf meine künstlerische Praxis? Ich glaube mehr als ich mir vorstellen kann. Grabend in der Erde bekomme ich Ideen und Lust auf Narrationen und Erzählweisen, die sich mit dem Lebendigen, der Verbundenheit und dem Nährenden beschäftigen. Gerade in Zeiten wie diesen möchte ich meine Energie dafür einzusetzen, eine Gegennarration zu Gewalt, Eskalation und rechter Hetze zu schaffen.

    Und ganz langsam, so wie sich die Naßhornkäferlarve herausbildet, arbeite ich seit langer Zeit mit zwei Kolleginnen an einem Kinderbuch. In der Geschichte geht um einen Transformationsprozess und um die Beziehung zwischen einem Menschen und einem Tier. Möge das Buch sobald es „geschlüpft“ ist, länger als 4-6 Wochen leben!

     

    In deinen Arbeiten tauchen die Begriffe „*Giving*“ und „*Taking*“ häufig auf. Diese beiden Handlungen scheinen am Rande eines empfindlichen Gleichgewichts zu stehen, das durch das Motiv der Waage visuell hervorgehoben wird. Wie integrierst du dieses Gleichgewicht in deine Arbeit? Kannst du mehr über deine Ausstellung in der La Chapelle du Quartier Haut im Rahmen der Artist in Residency A.T.E.N.A in Sète erzählen.

    Ich habe einen ganzen Werkkomplex den Handlungen „Geben und Nehmen“ gewidmet. Dieser umfasst künstlerische Lesungen im Außenraum, eine Audioinstallation und textile Arbeiten. Seit mehreren Jahren beschäftige ich mich mit dem ökofeministischen Schreiben und Handeln. Robin Wall Kimmerer erzählt in ihrem Buch „Braiding Sweetgrass: Indigenous Wisdom, Scientific Knowledge and the Teachings of Plants“(dt. Titel: Geflochtenes Süßgras), viele Geschichten in denen es, um das sensible Gleichgewicht von Geben und Nehmen in ökologischen Zusammenhängen geht. Die Autorin betont, dass es verschiedene Praktiken gab und gibt, nicht nur zu nehmen, sondern der Erde etwas zurück zu geben, sie zu pflegen und zu ehren. Es handelt sich um eine Form der Beziehung zwischen uns Menschen und der Natur, deren Teil wir sind. Also: Beziehungsarbeit. „Geben und Nehmen“ als Akt der Reziprozität (Wechselseitigkeit) zu verstehen hat nichts mit der Tauschlogik, also dem Geben und Nehmen im 1:1 Sinne, zu tun. Es ist vielmehr ein tiefes Verständnis davon, dass wir in Beziehung zueinander stehen und uns gegenseitig brauchen.

    Gleichgewicht in der künstlerischen Arbeit zu finden, ist nicht immer leicht. Die Kunstszene ist vielfach von Konkurrenzstrukturen, Alleinstellungsmerkmalen und Vereinzelung durchzogen. Gerade deshalb suche ich mir immer wieder Kontexte, die Beteiligung und Austausch ermöglichen. Wie die Artist in Residency A.T.E.N.A in Sète. Über die Dauer von drei Jahren wurde ich eingeladen, immer wieder nach Sète zu reisen und mich dort länger aufzuhalten und künstlerisch zu arbeiten. Über die Zeit hat sich so viel entwickelt und ich wurde gefragt, ob ich das Außengelände der Residenz mit gestalten möchte. Mittlerweile haben wir dort einen Mittelmeergarten angelegt, Außenskulpturen realisiert, ein Außenatelier entwickelt und Veranstaltungen durchgeführt. Zum Abschluss der dreijährigen Residenzzeit gab es die Ausstellung „Lisières“ in der La Chapelle du Quartier Haut, bei der alle Künstlerinnen dieses Zyklus ausgestellt haben. Zwischen der Leiterin der Residenz und uns Künstlerinnen ist über die Zeit ein Band entstanden. Auch dieses Jahr war ich wieder in Séte und unsere Zusammenarbeit geht weiter. Hier ist das Geben und Nehmen im Gleichgewicht, es entsteht eine Wechselwirkung mit dem (sozialen) Ökosystem vor Ort. Meine Textilarbeit „Giving Taking (passage)“, ein 4 m hoher Vorhang, mit den aufgestempelten Worten „giving taking“, durch den die Besucher:innen die Ausstellung betraten, leitete die Grundhaltung der ausgestellten Arbeiten ein. Auch zeigte ich die Installation „Lines of Life (Lisìeres)“, die wie ein Boot in der ehemaligen Kapelle platziert wurde. Darauf konnten die Besucher:innen Platz nehmen und in ein Audiostück eintauchen. Sie hörten einen vibrierenden Stimmteppich aus Möwengeschrei, Hummelnbrummen, Zikadenzirpen, Taubengurren und einer menschlichen Stimme, der von perkussiven Elementen begleitet wird. Zwei Waagen rotierten langsam und kontinuierlich im Kreis, während auf den Steppdecken die Waage als Motiv für Gerechtigkeit und Gleichgewicht wieder auftaucht. Im Rahmen der Ausstellung ist die Edition „GIVING TAKING“ erschienen, in der ich neben einer neuen Arbeit auf Buchleinen, eine Kinderzeichnung von mir aus dem Jahr 1991 integriert habe.

  • *Giving Taking (Balance)* Foto: Kathrin Köster
  • Werkangaben

    Künstlerin: Ulrike Bernard

    Titel des Werks: *Giving Taking (Balance)*

    Material: Steppdecke, Zeichnung, Stempel- und Stepptechnik auf Stoff, 

    Dimension: 2x2m, 

    Jahr: 2023

    Preis: 1.955 € + Transportkosten

  • Foto: Dorothea Dittrich
  • Werkangaben

    Künstlerin: Ulrike Bernard

    Titel des Werks: *Giving Taking*

    Material: Stempel- und Nähtechnik auf Buchleinen, Siebdruck (Rückseite Buchleinen), Digitalprint einer Zeichnung

    60 Stück

    Dimension: 30×40 cm

    Jahr: 2023, Éditions Méridianes

    Preis: 172,50 € + Transportkosten

  • SALTO hat mit dieser digitalen Galerie einen speziellen Raum für Künstler aus dem Euregio-Tirolo-Gebiet geschaffen.
    Die Kunstwerke werden exklusiv im Artstore von SALTO präsentiert.

    Artstore ist ein Projekt, das von der Kulturvereinigung BAU entwickelt wurde. Heuer liegt die Kuratorenschaft in den Händen von Eau&Gaz, ein Residenzprogramm für KünstlerInnen, KuratorInnenund andere im Kulturbereich tätige Personen. Seit 2022 organisiert es auch das Kultur- und Bildungsprogramm auf Schloss Gandegg in Eppan. Für den Artstore hat sich das Team von Eau&Gaz entschieden, künstlerische Positionen vorzustellen, die sie dieses Jahr in Südtiroler Ausstellungen anzutreffen sind. Eau&Gaz wird von Kathrin und Sarah Oberrauch sowie Johannes Nowak kuratiert.

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    Foto: SALTO