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Riten und Rituale

Ja, alles, was wir über (weibliche) Genitalverstümmelung wissen und erfahren, ist wahr. Aber es ist nicht die ganze Wahrheit.
Avvertenza: Questo contributo rispecchia l’opinione personale dell’autore e non necessariamente quella della redazione di SALTO.

Es ist jetzt schon ein Weilchen her, da sagte jemand, es gehöre (seitens unserer Gesellschaft) viel mehr Aufmerksamkeit gelenkt auf das „Problem der Infibulation und anderer Grausamkeiten, die Frauen in Afrika erleiden müssen“. Abgesehen davon, dass ich erst einmal googlen musste, weil ich nur eine vage Ahnung hatte, was sich hinter „Infibulation“ versteckt (es stellte sich heraus, dass ich richtig geahnt hatte und diese Praxis so etwas wie die höchste Steigerung dessen ist, was in unseren Breiten unter „(weibliche) Genitalverstümmelung“ bekannt ist), irritierte mich der Tonfall, und die implizierte Aufforderung und Anmahnung, wir sollten uns, als Gesellschaft, doch mehr kümmern, um jene armen und rückständigen Völker, in Afrika. Übrigens: Ja, Infibulation wird auch an Männern praktiziert, aber um sie soll es hier und heute nicht gehen.

Ich vermute, dass bei fast allen, die „(weibliche) Genitalverstümmelung, Beschneidung, Infibulation“ hören, ähnliche Bilder erstehen vor dem geistigen Auge: (rückständiges) Afrika, dunkle Hütten, rostige Rasierklingen, verstümmelte Mädchen, Blut, Tod, Gewalt. Und nein, nichts daran ist unwahr und alles daran gehört gestoppt - aber es ist nicht die ganze Wahrheit.

Zum einen ist die Genitalverstümmelung keine ausschließliche „Afrika“- und nicht zwingend eine „dunkle“ Geschichte: Diese Praxis ist auf dem schwarzen Kontinent in unterschiedlichen Regionen unterschiedlich stark vertreten, hauptsächlich im Westen und Nordosten des Landes, aber keineswegs nur dort: Auch im Jemen, im Irak, in Malaysia und in Indonesien ist sie durchaus üblich (für weitere Länder, in denen sie vermutet wird, liegen keine aufbereiteten Daten vor). Und: Toughe, selbstbewusste kurdische Geschäftsfrauen und ägyptische Oberschichtlerinnen sind genauso beschnitten wie ihre ärmeren Schwestern in anderen Regionen der Welt, wenn auch unter anderen, also so genannten „medikalisierten“ Bedingungen. In Ägypten zum Beispiel werden knapp 50 Prozent der Beschneidungen von Ärzten durchgeführt.

Zum anderen ist diese – ja, sehr heikle! – Thematik gar nicht so weit weg von uns, wie wir gern tun oder wie wir’s gern hätten: Noch in den 1960er Jahren – der Vibrator zur Behandlung weiblicher Hysterie war längst erfunden! - wurden in Europa und Nordamerika Klitoridektomien und andere operative Eingriffe wie Kauterisationen und Infibulationen an weiblichen Genitalien durchgeführt, um vermeintliche weibliche „Leiden“ wie Hysterie, Nervosität, Nymphomanie, Masturbation und andere Formen so genannter weiblicher Devianz zu „heilen“. Auch ist es wohl nicht angebracht, dieses (und andere, uns fremde und befremdliche Riten) Ritual aus seinem kulturellen, traditionellen und religiösen Kontext heraus zu lösen, es zu betrachten, zu be- und zu verurteilen, als sei es etwas völlig Eigenständiges. Denn das ist es nicht: Unter anderen wird als einer der Hauptgründe für die Praxis der Genitalverstümmelung "Schönheitsideale" genannt, und ist sie jedenfalls in den meisten praktizierenden Kulturgruppen Voraussetzung für eine Heirat.

Ja, und hier insbesondere möchte ich mich gern noch ein wenig aufhalten, und an die eigene Nase erinnern: Oder sind es etwa nicht Eltern in Europa und den USA (also der „zivilisierten“ Welt), die ihren pubertierenden Töchtern Brustvergrößerungen schenken, zum Geburtstag, um damit den Mädchen bessere Chancen zu eröffnen, auf dem Heiratsmarkt? Sind etwa Intim-OPs und Genitaloperationen – auch hier, da schau an, hauptsächlich an weiblichen Genitalien – etwa nicht viel beachtete Mode und heftig befolgter Trend, auf unseren Breitengraden? Lassen sich etwa Frauen hoch entwickelter asiatischer Kulturen nicht ihre Beine verlängern - also erst zertrümmern und dann strecken -, unter höllischen Schmerzen und exorbitanten Kosten, auch sie der besseren Chancen auf dem Heiratsmarkt wegen? Gesichtsoperationen, Lippenaufspritzungen, Botox, Fettabsaugungen und was es noch alles gibt – all das, um schönheitlicher und gesellschaftlicher Ideale willen, die – nüchtern betrachtet - nur schwer bis gar nicht nachvollziehbar sind. Zugegeben, die Umstände hierzulande sind sehr bis maximal "medikalisiert" - aber die Gründe für die Behandlungen doch weitgehend dieselben wie in den "unterentwickelten" Ländern und Kulturen. Und ja, wahr ist auch,  dass hierzulande nicht wirklich oft  eine Frau ihr Leben lassen muss wegen einer modernen bzw. zivilisierten Schönheitsoperation, aber es kommt durchaus vor. Wie übrigens auch stümperhafte Arbeit, Verstümmelungen und andere, gravierende Nach- und Nebenwirkungen gar nicht selten sind. Und das alles, noch einmal, weil Frau „schön“ sein soll und schön sein will, in einer Gesellschaft, die dieses Schönheitsideal formuliert, nach welchen Maßstäben und Vorgaben auch immer. Ich weiß übrigens nicht, ob sich in Afrika und anderen, "unterentwickelten" Ländern Mädchen zu Tode hungern, um einem Schönheitsideal zu entsprechen.

Und die Moral von der Geschicht'? Eigentlich nur, dass wir uns letzten Endes vielleicht doch gar nicht so wahnsinnig weit entwickelt haben, wie wir gern glauben möchten, und uns gar nicht so sehr unterscheiden, von jenen Kulturen "in Afrika", und über die wir uns erhaben fühlen und gern erheben möchten.