Ein Wechselbad der Gefühle
Der Klassiker ist zu Ende, die Abfahrt auf der Saslong hat auch dieses Jahr zahlreiche Menschen nach St. Christina geführt, um den Speedkönigen der Skiwelt dabei zuzusehen, wie sie den Kamelbuckel und der Ciaslat trotzen und mit Spitzengeschwindigkeiten von rund 110 km/h im Zieleinlauf von einem Meer an Fans und Skibegeisterten empfangen werden.
Die Stimmung im Zieleinlaufwar vor dem Rennen ausgesprochen gut. Zahlreiche Sportbegeisterte fanden in das kleine improvisierte Stadion, Fan-Clubs verschiedener Fahrer sorgten für eine Atmosphäre, die so wohl nur wenige Events in Südtirol erzeugen. Und dieses Jahr hatte es der Event mehr als in sich, die Zuschauer bekamen eine Palette der Emotionen geliefert, die so im Skizirkus wohl nur bei einem Speedrennen möglich ist.
Man konnte die Hoffnung spüren, als zuerst Christof Innerhofer mit der Startnummer acht und dann Dominik Paris mit der Nummer 13 an den Start gingen. Man wartet schon lange sehnlichst auf einen Sieg eines Italieners bei der Abfahrt in Gröden. Fast auf den Tag genau vor 17 Jahren war es Cristian Ghedina, der das letzte Mal nach der Abfahrt auf das oberste Treppchen steigen durfte, um von seinen tifosi gefeiert zu werden. Südtiroler schaffte es bisher ohnehin nur einer: 1977 war es Herbert Planck, der das prestigreiche Heimrennen für sich entscheiden konnte. Doch die Saslong erweckt den Anschein, sie läge den Erben Ghedinas und Plancks nicht gut.
Hoffnung, Ernüchterung und der Überflieger
Tatsächlich wichen die Hoffnung, die Begeisterung, als Innerhofer und Paris an den Start gingen, schnell einsichtiger Ernüchterung. Man konnte keine Fehler feststellen, die Läufe schienen geschmeidig, kontrolliert, grobe Schnitzer waren nicht zu erkennen. Dennoch konnte man schon nach dem oberen Streckenabschnitt an der Stoppuhr ablesen, dass heute wohl kein gutes Ergebnis herausschaut. Es waren gute Läufe, aber zu brav, folgt man der Meinung vom vierfachen Gröden-Sieger Ghedina: "Prendiamo Innerhofer: è molto bravo a mantenere la traiettoria e la linea ideale. Ma proprio qui spesso è meglio lasciare la liniea ideale, andare più larghi. Soprattutto con una neve gessosa come oggi.” Diese zu brave Herangehensweise kostete Hundertstel und schließlich eine Platzierung, die zumindest das Attribut zufriedenstellend verdienen würde. Am Ende sind es die Plätze 17 und 18 für Paris (+1,72 sek) und Innerhofer (1,75 sek).
Emotional im Stadion wurde es auch, je länger man dem Lauf des späteren Sieger folgte. Mit Nummer sechs ging Alexander Aamodt Kilde an den Start. Auch er geschmeidig, auch er ohne Schnitzer – auf dem ersten Blick schien der Norweger einen soliden Lauf hinzulegen. Dennoch hatte seine Fahrt das gewisse Etwas, das nicht nur den Italienern, nicht nur dem großen Aksel Lund Svindal (7.) oder dem Abfahrts-Weltcupführenden Beat Feuz (3.), sondern dem ganzen Feld heute gefehlt hatte. Offensichtlich wurde die schiere Überlegenheit, als er eine Zwischenzeit nach der anderen pulverisierte. Jedes Mal, als die Uhr stoppte, wurden die Ausrufe der Überraschung und Perplexität im Publikum lauter. Kilde kam zwar schon als sechster Fahrer ins Ziel, dennoch war klar, dass er heute Besonderes geleistet hatte. Das wusste jeder: die Menschen, die spontan aufstanden und applaudierten; die Fahrer im Zielraum – und natürlich jene, denen der Absprung vom Starthaus noch bevorstand.
"Kilde è stato leggero sugli sci ed ha fatto scorrere, è questo il segreto” – Cristian Ghedinas Geheimnis der Saslong klingt einfach, dennoch konnte es heute nur Kilde entschlüsseln. Soweit entschlüsseln, dass er dem zweitplatzierten Österreicher Max Franz um 86 Hundertstel davonfuhr. "Ich weiß selbst nicht, wie ich das gemacht habe. Ich hatte schon ein gutes Gefühl auf der Piste und war auch zufrieden, als im Ziel war. Aber da ich als Nummer sechs gestartet war, wollte ich mich nicht zu früh freuen. Dass ich dann mit so einem Abstand gewinne, hätte ich nicht erwartet“, erzählt ein über beide Ohren strahlender Kilde bei der anschließenden Pressekonferenz.
Der Sturz
So groß die Begeisterung für die sportliche Leistung der Fahrer war, so getrübt war sie jedoch, nach dem Sturz von Marc Gisin. Kurz vor dem Kamelbuckel rutschten dem Schweizer bei voller Geschwindigkeit die Ski weg, er flog unkontrolliert über den Sprung hinaus und krachte mit dem Rücken wieder auf die Piste. Man konnte eine Stecknadel im Zieleinlauf fallen hören, für ein paar Sekunden herrschte Schockstarre. Bezeichnend eine Aufnahme von Kilde im Bereich des Führenden, der sich vor Ungläubigkeit die Hand vor dem Mund hielt. Betreten kündigte der Kommentator eine Rennunterbrechung an, die erst nach einer halben Stunde und mit dem von tosenden Applaus begleiteten Abflug von Gisin mit dem Helikopter endete. Nach Informationen von salto.bz geht es dem Verunglückten den Umständen entsprechend gut. Zwar zog er sich mehrere Rippenfrakturen und viele Prellungen zu, jedoch blieben Kopf und Rückenmark verschont, es herrscht keine Lebensgefahr.
Sowohl während des Rennens, als auch später war das Thema in aller Munde, begleitet von der Frage, wieso so viele Fahrer noch ohne Airbags fahren. "Es gibt noch zu wenige Daten zu deren Funktionalität. Ich fühle mich momentan auch ohne sehr wohl, vorerst werde ich ihn nicht tragen“, meinte Kilde. Auch Beat Feuz, Teamkollege von Gisin, schlägt in die gleiche Kerbe: "Wir wissen, dass es unserer Sicherheit zugutekommen würde. Aber vorerst geht es noch gut so.-Ssollten sich neue Entwicklungen zeigen, werde auch ich darüber nachdenken.“ Einig ist man sich, dass man einer Verpflichtung von Seiten der FIS wohlwollend nachkommen würde, sollte der internationale Skiverband eine entsprechende Regel einführen.
Man durfte als neutraler Zuschauer heute ein Wechselbad der Gefühle durchmachen. Hoffnung, Freude, Ungläubigkeit, Fassungslosigkeit – der Klassiker auf der Saslong hat seinem Status wieder alle Ehre gemacht und man darf sich mit großen Erwartungen nächste Woche auf ähnliche Rennen freuen, wenn die Damen im Super-G und in der Abfahrt rund um Lokalmatadorin Nicol Delago an den Start gehen. Wenn auch dieses Mal hoffentlich ohne schlimmere Zwischenfälle.