Mehr Genossenschaft wagen
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Salto: Frau Devilli, die Welt hat sich in den letzten 20 Jahren sehr verändert. Sie ist unsicherer und soziale Kälte und Gewalt gegen Frauen hat in den westlichen Gesellschaften scheinbar eine neue Dimension erreicht – sind das sie Herausforderungen, mit denen Sie sich beschäftigen müssen?
Monica Devilli: Wenn ich so auf unsere Aktivitäten als Organisation zurückblicke, muss ich eigentlich sagen, dass wir immer versucht haben, uns den äußeren Umständen anzupassen. Das ist eigentlich unser A und O. Wir müssen im ständigen Dialog mit unseren Mitgliedsgenossenschaften sein, denn sie vermitteln uns die gesellschaftlichen Bedürfnisse und Herausforderungen. Die Rolle, die wir heute haben, ist immer mehr eine politische Rolle, ohne dabei natürlich an irgendeine Partei gebunden zu sein. Wir versuchen auf eine sehr inklusive Art, unsere Mitgliedgenossenschaften zu unterstützen…
Die sozialen Probleme sind heute viel größer und viel schwieriger zu bewältigen und gleichzeitig haben wir weniger öffentliche Mittel, um diese Probleme anzugehen.
…aber was sind denn die Herausforderungen, vor denen Sie stehen?
Genossenschaften sind Kapitalgesellschaften. Damit haben sie mit den gleichen wirtschaftlichen Herausforderungen zu kämpfen, wie andere Unternehmen auch – mit der zusätzlichen Herausforderung, dass sie ohne Gewinnabsicht sind und immer den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Das heiß: Genossenschaften müssen nicht nur mit dem höheren Kostendruck klarkommen, sondern auch mit den gesellschaftlichen Veränderungen. Und hier muss man schon sagen: Die Menschen sind nicht mehr so, wie sie vor 15 Jahren waren. Die sozialen Probleme sind heute viel größer und viel schwieriger zu bewältigen und gleichzeitig haben wir weniger öffentliche Mittel, um diese Probleme anzugehen. Hinzu kommt: der Wandel der Zeit hat es mit sich gebracht, dass wir viel mehr Personen haben, die sich in einer sehr schwierigen Lage befinden, aber nicht richtig eingeordnet werden können.
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Zur Person
Monica Devilli ist Juristin und seit 20 Jahren für Coopbund tätig. Seit 2021 ist sie dessen Präsidentin. Bevor sie die Präsidentschaft übernahm, war sie Revisorin, Rechtsberaterin und stellvertretende Präsidentin.
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Sie haben also mehr Bedürftige, weniger Geld und das in einer Gesellschaft, die immer weniger bereit ist Gutes zu tun?
Südtirol hat gottseidank ein gut organisiertes Ehrenamt. Jenseits davon stehen der Gesellschaft aber immer weniger Menschen zur Verfügung, die eigentlich noch das Potenzial hätten, ehrenamtlich tätig zu sein oder sich für das Ehrenamt einzusetzen. Das Thema ist, dass wir sehr viele neue Typologien von benachteiligten Personen haben. Wir Genossenschaften stützen uns auf ein Gesetz, das gut 40 Jahre alt und damit absolut nicht auf der Höhe der Herausforderungen unserer Zeit ist.
Die Politik sagt mehr oder weniger: „Irgendwie schafft ihr das schon“.
Machen Sie mal ein Beispiel für eine solche Typologie!
Kategorien von Benachteiligung, die vom Gesetz anerkannt werden, sind psychische oder psychiatrische Probleme, Körperbehinderungen oder Suchtprobleme. Wenn wir aber jetzt an Menschen aus Fluchtsituationen denken, spielt beispielsweise Analphabetismus eine große Rolle. Bei Menschen wiederum, die Gewaltsituationen ausgesetzt sind, ist es unbestritten, dass dies psychische Konsequenzen für Betroffen hat. Hier ist es allerdings sehr schwierig die psychischen Folgen der Gewalt zu – entschuldigen Sie das Wort – zu zertifizieren. Gleiches gilt für die Problematik der Langzeitarbeitslosigkeit. Auf europäischer Ebene hat sich da schon etwas getan, auf nationaler und lokaler Ebene fehlt das noch. Natürlich arbeiten wir daran, aber es scheint heute nicht die große Priorität zu sein. Die Politik sagt mehr oder weniger: „Irgendwie schafft ihr das schon“. Wir können aber nicht die Aufgaben der öffentlichen Hand übernehmen, ohne mit den entsprechenden Mitteln vernünftig ausgestattet zu werden.
Sie sagen, sie arbeiten „inklusiv“. Damit arbeiten Sie eigentlich gegen den Trend, denn wo man hinschaut, schotten sich die Gesellschaften eher ab und politische Parteien gewinnen an Bedeutung, die Populismus, Nationalismus – kurz: alles andere als Inklusion - predigen. Spüren Sie diesen Trend hin zu einfachen Antworten auf komplexe Fragen in Ihrer Arbeit?
In der Tat arbeiten unsere Genossenschaften gegen den Trend. Inklusion bedeutet nicht nur Menschen aufzunehmen, die nicht in die richtigen Kategorien passen. Genossenschaften geben Menschen Arbeit und kümmern sich auch um deren Privatleben. Wer heute eine andere Hautfarbe hat, als der durchschnittliche Südtiroler, hat es nicht leicht, in Südtirol eine Wohnung zu mieten. Genossenschaften helfen also auch in diesem privaten Bereich. Hinzu kommt, dass wir sprachgruppenübergreifend tätig sind und das ist schon mal ein Unikum. Dabei geht es nicht nur darum, alles zweisprachig zu machen, sondern es geht auch darum sich auf eine andere Mentalität und Kultur einzulassen. Viele Genossenschaften wurden von ausländischen Mitbürgern gegründet, zum Beispiel die Genossenschaft, die kulturelle Mediationen in den Schulen macht. Oder: wir haben einen Kurs veranstaltet, für Frauen mit Migrationshintergrund, die Fahrradfahren lernen wollen. Das ist viel mehr als nur Fahrradfahren – es bedeutet Unabhängigkeit.
Südtirol riskiert heute, ein ganz exklusiver Verein zu bleiben.
Haben Sie den Eindruck, dass die Politik in Südtirol gute Rahmenbedingungen schafft, damit Inklusion in Südtirol gelingen kann?
In den letzten 20 Jahren hat sich hier wenig getan. Ich sehe, beispielsweise was die Sprachgruppen anbelangt, eine ganz große Trennung. Wir werden auch immer gefragt, ob wir italienischsprachig oder deutschsprachig sind. Aber ich muss mich doch nicht identifizieren. Wir sind offen. Wir kommen mit allen Mentalitäten und Kulturen aus. Wir sehen das als Potenzial und nicht als Einschränkung. Die Politik sieht es eher noch als Einschränkung. Südtirol riskiert heute, ein ganz exklusiver Verein zu bleiben.
Sie finden aber noch Leute, die Ihre Idee von Genossenschaft noch mittragen?
Wir haben über 250 Mitgliedsgenossenschaften und sind damit der zweitgrößte Verband in Südtirol. Aber das ist jetzt nicht das Thema. Mich freut es einfach, dass unsere Genossenschaften wissen, wofür wir stehen und wie wir ticken und deshalb bei uns sind.
Was sind für Sie die größten Probleme, die Südtirol lösen sollte?
Wir dürfen die jungen Generationen nicht verlieren. Sie dürfen schon im Ausland studieren, aber sie müssen zurückkommen, denn sonst kann sich Südtirol nicht entwickeln, sonst bleibt Südtirol ein Tourismusland. Ich weiß nicht, ob es das politische Ziel ist, nur für den Tourismus und die Landwirtschaft tätig zu sein. Jungen Leuten können wir nicht viel anbieten. Wir haben wenig Wohnraum. Was die Gehälter anbelangt, gibt es auch Luft nach oben.
Mit nordeuropäischen Ländern können wir uns noch lange nicht vergleichen, aber es ist immer besser, etwas zu machen, als nichts zu tun.
Glauben Sie, dass Südtirol in Sachen Gleichberechtigung und „Diversity“ ein modernes Land ist, dass den Ansprüchen moderner Gesellschaften gerecht wird?
Auch da gibt es noch Luft nach oben. Aber es gibt viele Initiativen. Aber wenn ich an Sitzungen teilnehme, stelle ich immer noch fest, dass von zehn Leuten nur zwei Frauen sind. Da helfen auch Empowerment-Kurse für Frauen nicht viel, zumal die immer so einen therapeutischen Charakter haben. Aber ich selbst bin beispielsweise auch im Komitee für die Förderung des weiblichen Unternehmertums der Handelskammer, weil es auch darum gehen muss, Frauen ein bisschen Mut zu machen und ihnen Freiräume aufzuzeigen. Aber es entwickelt sich alles sehr langsam. Mit nordeuropäischen Ländern können wir uns noch lange nicht vergleichen, aber es ist immer besser, etwas zu machen, als nichts zu tun.
Und wie ist es um die Dialogbereitschaft in unserer Gesellschaft bestellt?
Wir versuchen Netzwerke aufzubauen, weil wir in allen Bereichen aktiv sind und deshalb ganz viele Berührungspunkte mit anderen Organisationen haben. Dazu muss man gut zuhören können und offen sein. Freiberufler zum Beispiel täten gut daran, sich besser zu vernetzen, mit ihren Kompetenzen gemeinsam aufzutreten und dadurch mehr Kunden erreichen zu können. Hier hat man noch nicht wirklich verstanden, dass man durch Kooperation, den Kuchen, von dem man isst, vergrößern kann. Wenn es um Kooperation geht, hat meiner Meinung nach das ländliche Gebiet auch einen gewissen Vorteil gegenüber der Stadt, denn in der Stadt herrscht mehr Anonymität.
Bald ist Weihnachten. Wenn Sie sich vom Geist der zukünftigen Weihnacht was wünschen dürften – was wäre das?
Dass unsere Genossenschaften ein bisschen mehr über sich erzählen, ein bisschen mehr offenlegen, was sie für unsere Gesellschaft alles leisten. So sympathisch Bescheidenheit ist, so wichtig ist es aber auch, dass die Menschen im Land erfahren, was Genossenschaften zu leisten in der Lage sind.
Frau Devilli, ich danke für das Gespräch.