Politica | Ukraine

Die Krim ist nicht Südtirol

Es ist ein Unding, die Ukraine oder die Krim mit Südtirol zu vergleichen, wo sich doch Geschichte, Sozialgefüge und Sprachensituation eklatant voneinander unterscheiden.

„Was würde bei uns passieren, wenn der italienische Staat so etwas tun würde?“, damit antwortete der russische Honorarkonsul Bernhard Kiem auf die Frage, wie die Spannungen in der Ukraine zustande gekommen seien. Was er dabei geflissentlich ignoriert: die gravierenden Unterschiede zwischen der ukrainischen und der italienischen Geschichte sowie die zwischen der deutschsprachigen Minderheit in Italien und der russischsprachigen Minderheit in der Ukraine. 

Sprache, Geschichte und Minderheitenschutz

Als erster, maßgebender Unterschied kommt jener in der Sprache selbst: Anders als die deutsche und die italienische Sprache sind die ukrainische und die russische sehr eng miteinander verwandt. Abgesehen von der Tatsache dass eine sehr breite Bevölkerungsschicht zweisprachig aufwächst – und das in der gesamten Ukraine – können Ukrainisch- und Russischsprachige einander verstehen, auch ohne dieselbe Sprache zu sprechen. Schon diese Tatsache erleichtert den Dialog. 

Anders als die deutsche Sprache in Italien hat die russische Sprache schon immer und noch immer eine sehr starke Stellung im  Alltag – und das auf dem gesamten ukrainischen Territorium: Es betrifft vor allem Medien, Populär- und Massenkultur. Übersetzungen ins Ukrainische sind gemessen am kleinen Markt kaum rentabel im Vergleich zu Übersetzungen ins Russische. 

Auch die Situation der Krimtataren oder etwa der russischsprachigen Minderheit auf der Krim kann nicht mit Südtirol verglichen werden: Die Krimtataren sind ein turksprachiges, muslimisches Volk, das unter Stalin 1944 nach Zentralasien deportiert wurde. Grund dafür war die angebliche Kollaboration einzelner mit den Nazis während des Zweiten Weltkriegs. Erst 1988 durften sie zurückkehren. Durch den Status der Krim als Autonome Republik innerhalb des ukrainischen Staates machte es möglich, Kultureinrichtungen und Bildungsinstitutionen zu öffnen. Das Krimtatarische wurde als dritte offiziellen Sprache auf der Halbinsel anerkannt, nachdem die krimtatarische Bevölkerung mehr als 10% der Gesamtbevölkerung ausmachte. Das heißt, wir sprechen im Zusammenhang mit den Krimtataren von einer Minderheit, deren Schutz nicht von einem anderen Staat (im Südtiroler Fall Österreich) kontrolliert wird, deren Schutz nicht auf internationaler Ebene abgesichert ist. 

Die Ukraine hat vor dem Europarat eine Charta zum Schutz der Regional- und Minderheitensprachen unterzeichnet und ist demnach einem regelmäßigen Monitoring-Prozess unterworfen. Diese Charta fordert beispielsweise, dass Unterrichtsmaterialien in der jeweiligen Sprache vorhanden sein müssten. Nach der Annexion der Krim haben die Krimtataren nun keinen Schutz mehr, da Russland diese Charta nicht unterzeichnet hat: Krimtatarische Bildungs- und Kultureinrichtungen wurden geschlossen, bereits im Juni meldete das Trientner Osservatorio Balcani e Caucaso einen Exodus der Krimtataren in Richtung Norden – zum größten Teil nach Lviv, das ironischerweise als Hochburg der nationalistischen, rechten Gruppierung „Rechter Sektor“  gilt. 

Die wissenschaftliche Perspektive

salto.bz hat die Aussagen des russischen Honorarkonsuls Bernhard Kiem Andreas Kappeler vorgelegt. Kappeler ist emeritierter Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Wien. 

„Die Aufgabe eines Generalkonsuls und jedes anderen Vertreters eines Landes ist es, dessen Interessen zu vertreten“, schreibt dieser in einer Stellungnahme. Dies betreffe auch die Informationspolitik, die Darstellung  von Geschehnissen in aller Welt, die von der Sicht anderer Staaten abweichen könne. „In diesem Sinn“, so Kappeler weiter, „kann man das Interview von Honorarkonsul Kiem als offiziöse Meinungsäußerung zur Kenntnis nehmen. Wenn es nicht nur um die Interpretation der Ereignisse in der Ukraine geht, sondern offensichtliche Unwahrheiten verbreitet werden, ist allerdings Kritik notwendig. Dies will ich im Folgenden tun.“

Im Folgenden sind Kappelers Kritikpunkte an den Aussagen Bernhard Kiems im Interview mit salto.bz im Wortlaut wiedergegeben. 

„Verirrt haben sich vielleicht auch die Panzerkolonnen, die im August vergangenen Jahres über die russisch-ukrainische Grenze rollten und die Stadt Novoazovsk eroberten.“

1. Es ist vielfach nachgewiesen, dass sich zahlreiche russische Freiwillige und Soldaten der Armee an der Annexion der Krim und vor allem am Krieg in der Südostukraine beteiligten. Einer unter zahlreichen Beweisen sind die zahlreichen Särge, in denen tote russische Soldaten in ihre Heimat zurückgebracht wurden. Ein anderer, dass Separatistenführer mehrfach bestätigt haben, dass sie von russischen Soldaten und von aus Russland gelieferten Waffen unterstützt wurden. Als russische Fallschirmjäger in der Ukraine festgehalten wurden, war die offizielle Auskunft aus Moskau, dass sie sich verirrt und versehentlich die Grenze überschritten hätten. Verirrt haben sich vielleicht auch die Panzerkolonnen, die im August vergangenen Jahres über die russisch-ukrainische Grenze rollten und die Stadt Novoazovsk eroberten.

2. Das Unabhängigkeitsreferendum auf der Krim entsprach nicht den internationalen Standards, und es fand unter den Bedingungen der russischen militärischen Intervention statt. Die Stationierung russischer Soldaten auf der Krim war auf die Flottenbasis Sevastopol‘ beschränkt, sie hatten kein Recht, in andere Gebiete der Krim, die Teil der Ukraine sind, einzudringen. Selbst wenn die 97 Prozent Zustimmung den Tatsachen entsprechen sollten, geben sie nicht die Wahlbeteiligung wieder, sondern sie beziehen sich nur auf diejenigen, die an der Wahl teilnahmen. Zahlreiche Bewohner der Krim, unter ihnen die meisten Krimtataren, blieben der Wahl fern.

„Aus der Luft gegriffen“

3. Als die Regierung versuchte, die zivilgesellschaftliche Massenbewegung des Euro-Majdan mit Gewalt zu zerschlagen, wehrten sich die Demonstranten und forderten den Rücktritt von Präsident Janukovyč. Dieser floh nachts aus Kiev in die Ostukraine und dann weiter nach Russland. Darauf enthob das demokratisch gewählte Parlament den Präsidenten seines Amtes, wählte einen Interim-Präsidenten und eine provisorische Regierung. Im  Mai 2013 wurde in fairen Wahlen ein neuer Präsident gewählt, im Oktober ein neues Parlament, das die heutige Regierung einsetzte. Soviel zur sogenannten „Junta“.

„Das gute Verhältnis ist durch die Intervention Russlands nachhaltig beschädigt worden. Dies ist eine der tragischsten Folgen des von Russland vom Zaun gebrochenen Krieges.“

4. Völlig aus der Luft gegriffen ist die Behauptung , dass die neue Regierung die russische Sprache, die russischsprachigen Schulen und die orthodoxe Kirche verboten habe. Zwar hob die Regierung (unklug und voreilig) das im Jahre 2012 unter Präsident Janukovyč erlassene Sprachgesetz, das die Stellung des Russischen in den Regionen stärkte, auf und stellte das zuvor seit der Begründung des unabhängigen ukrainischen Staates geltende Recht wieder her. Abgesehen davon, dass dieser Beschluss sofort widerrufen wurde, hatte auch unter dem alten Gesetz die russische Sprache ihre dominante Stellung in den Städten der Ukraine und in den östlichen und südlichen Regionen behalten. Etwa die Hälfte der Bevölkerung der Ukraine hat Russisch als Muttersprache, und die meisten sind zweisprachig. Die Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft darf aber nicht gleichgesetzt werden mit der politischen Orientierung. Unter den Demonstranten auf dem Majdan wurde viel Russisch gesprochen, in der ukrainischen Regierung und in den ukrainischen Streitkräften sind zahlreiche russischsprachige Ukrainer. Haltlos ist die Behauptung, dass die orthodoxe Kirche verboten worden wäre. Sie ist sogar von der russischen Propaganda nicht erhoben worden.

5. Ja, Ukrainer und Russen stehen sich in Sprache, Religion und historischer Tradition nahe. Es gab auf persönlicher Ebene kaum je Konfliktpunkte, man kam gut miteinander aus und ging unzählige Mischehen ein. Wie Generalkonsul Kiem richtig sagt, werden die Spannungen von außen geschürt. Das gute Verhältnis ist durch die Intervention Russlands nachhaltig beschädigt worden. Dies ist eine der tragischsten Folgen des von Russland vom Zaun gebrochenen Krieges.“

Andreas Kappeler ist emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien. Seine „Kleine Geschichte der Ukraine“ ist eben in vierter Auflage erschienen und erfasst die Ereignisse bis zum September 2014. 

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Salto User
Sepp.Bacher Sab, 01/17/2015 - 19:54

..."der russischsprachigen Minderheit auf der Krim"... - müsste wohl heißen "..der ukrainisch-sprachigen Minderheit auf der Krim";, denn die russisch-sprachige Mehrheit auf der Krim, war ja für Putin der Vorwand, die Krim zu annektieren.

Sab, 01/17/2015 - 19:54 Collegamento permanente
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Stephan H. Lun, 01/19/2015 - 10:42

Der Titel, dass die Krim und die Ostukraine nicht Südtirol seien stimmt sicherlich. Ich will hier nicht dauernd als "Putinversteher" auftreten, weil ich schon bei anderen Beiträgen der Autorin meinen Senf dazugegeben habe. Vorausgeschickt, dass ich die teils autoritäre Politik Putins sicher nicht immer teilen kann, bin ich trotzdem verwundert wie einseitig man hier aus "naiver" europäischer Sichtweise Russland die alleinige Schuld an den Eskalationen gibt. Mittlerweile gibt es soviele Prominente Experten und Zivilpersonen, die den Stellvertreterkrieg (denn um nix anderes handelt es sich bei dem Ukrainekonflikt, das schreiben Sie aber nie) zwischen den USA und Russland in der Ukraine durchschaut haben, dass ich nicht verstehe wie man noch immer so einseitig darüber berichten kann.
Die sog. Odessa-Tragödie mit zig Toten, wo von ukrainischen Battalions ein Gewerkschaftshaus in Brand gesetzt wurde, oder aber die Sniper-Schüsse auf dem Maidan, oder aber die 5 Milliarden US-Dollar (das hat "Fuck-theEu"- Victoria Nuland ja zugegeben!) die die USA für den Putsch bereitgestellt hat sind nur einige Ungereimtheiten, die Sie nie erwähnen. Der bekannte amerikanische Regisseur Oliver Stone etwa macht zur Maidan-Revolution eine Dokumentation, worin er behauptet, dass die CIA am Maidan ganz klar Regie führte:
https://www.facebook.com/TheOliverStone/posts/901387646552202
Ich denke genauso wie irgendwas an den kritischen Stimmen gegenüber Russland dran sein wird, wird auch irgendwas an den kritischen Stimmen gegenüber den USA und der ukrainischen Regierung dran sein...

Hier die vielen kritischen Stimmen zur einseitigen Berichterstattung, ARD und ZDF mussten bereits viele Beiträge zurücknehmen, die nicht der Wahrheit entsprachen:

https://publikumskonferenz.de/forum/viewforum.php?f=30

Lun, 01/19/2015 - 10:42 Collegamento permanente