Politica | Heimspiel auf Rete 4

Keine Ohrfeige für die Reichen

Rete 4 hat vergangene Woche wieder ein Beispiel für professionelle Meinungsmache geliefert. Mit Roberto Poletti, Alessandro Sallusti und Nicola Porro als gut abgestimmte und bestens gelaunte Influencer.
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  • Die neue von Montag bis Freitag am Abend laufende Sendung von Rete 4 unter dem Titel „4 di sera“ hat den Anspruch, Themen zu vertiefen. Es ist ein Mix aus Reportage, Hintergrundberichten und Interviews. Dazu werden jeweils Gäste ins Studio eingeladen oder zugeschaltet. Am vergangenen Mittwoch ist die Talkshow der Besteuerung der Reichen gewidmet. Talkmaster Roberto Poletti umreißt dazu die Position, die Mediaset in den Köpfen der Zuschauer:innen als authentische Interpretation des Selbstverständnisses der Nation platzieren will. Er sagt es nicht direkt, aber bald ist zu erkennen: Neue Steuern sind generell ein Unding und die Reichen müssen davor bewahrt werden. An den Pranger gestellt wird die „Sinistra delle tasse“. Die mit emotionaler Verve verdeutlichte Stoßrichtung dieses Informations- und Meinungsbildungsformats ist als Anleitung für die Zuschauer:innen zu verstehen, die folgenden Berichte und Meinungen danach einzuordnen, inwiefern sie der Kernbotschaft entsprechen. Indem sie dies tun, sichern sich diese ein Erfolgserlebnis und bestätigen für jede einzelne Information oder Stellungnahme ihre Übereinstimmung mit der Linie des Medienkonzerns, der sich seit Jahrzehnten die Rolle als Top-Influencer gesichert hat. 

    Stammpublikum erwartet klare Ansagen

    Der Fernsehkanal ist so eindeutig auf eine redaktionelle Linie festgelegt, die die Weltanschauung von Berlusconi und Adepten verbreitet, dass sich ein Stammpublikum gebildet hat, das sich klare Ansagen erwartet. Diese bestehen einerseits in der Darstellung und Glorifizierung der Kernthemen Liberalisierung, Privatisierung und Entmantelung des Staates und andererseits in der Abgrenzung gegen die „Sinistra“ und deren gegen die ökonomische Vorteilsoptimierung und somit, wie suggeriert wird, gegen die praktische Vernunft und das nationale Identitätsgefühl gerichtete Vorstellungen von Gesellschaft. Mit Genuss werden in diesem Zusammenhang die individuellen Freiheitsoptimierungen in Form von aus dem Antidiskriminierungsverbot abgeleiteten bürgerlichen Rechten, die sich die „Sinistra“ in ihren unterschiedlichen politischen Formationen auf die Fahnen geschrieben hat, als dem Mainstream kultureller Traditionen zuwiderlaufendes Identitätsmodell angeprangert und somit niemals mehrheitsfähiges elitäres Nischenprogramm verballhornt.

    Plakative Thesen und Unterstellungen

    Ex-Minister Lupi durfte am Dienstag die großartige Botschaft „Ricchezza produce equità sociale“ verkünden. Am Mittwoch haben Alessandro Sallusti und der zugeschaltete Nicola Porro nachgelegt und Orientierungshilfen zur Steuerpolitik als zentralem politischem Steuerungsthema für die neoliberale Machtübernahme in der Gesellschaft geliefert. Eine Reichensteuer sei total abwegig erklärte Sallusti. Die Armut könne nicht mit der Schikanierung der Reichen bekämpft werden. Der eingeblendete Bericht untermauerte anhand der von linken Regierungsmehrheiten in den letzten 10 Jahren eingeführten Steuern die These, dass der Irrweg der steuerlichen Schröpfung der Bevölkerung gleichsam im DNA der Linken verfestigt sei. Poletti stellte die Vermutung in den Raum, dass diese alten Gewohnheiten wieder einreißen könnten, wenn die Linke an die Macht gelangt. 

    Ausblendung der europaweiten Debatte zur Vermögenssteuer 

    Beim Thema der Besteuerung der Superreichen hat sich gezeigt, dass an einer seriösen Darstellung der Problematik keinerlei Interesse besteht. Dabei benötigt der hochverschuldete italienische Staat dringend zusätzliche Einnahmen, um die Modernisierung der Wirtschaft, Dienstleistungen und Infrastrukturen für die Allgemeinheit zu finanzieren. Davon war in dem Bericht keine Rede. Im Fokus stand die europaweit geführte Diskussion, sehr hohe Vermögen einer jährlich zu entrichtenden Steuer zu unterwerfen. Damit sollen Positionen getroffen werden, die aktuell gar nicht steuerpflichtig sind oder im Vergleich zu anderen Steuerzahler:innen zu geringe Steuern entrichten. Ist eigentlich einfach eine Frage der staatsbürgerlichen Verantwortung, Solidarität und sozialen Gerechtigkeit. Überlegungen in diese Richtung werden weltweit angestellt. Erst kürzlich ist ein Manifest von über 130 italienischen Wirtschaftsexpert:innen[1] veröffentlicht worden, das die Notwendigkeit von entsprechenden Maßnahmen unterstreicht. In der Sendung von Rete 4 geht es nicht darum, zu überlegen, für welche eingegrenzte Kategorie von Multimillionären eine solche Steuer gerechtfertigt wäre und in welcher Höhe welche positiven Effekte damit für den Staatshaushalt erzielt werden könnten. 

    Angst vor dem Staat als Abzocker

    Nein, das Ziel ist einzig, den politischen Gegner zu delegitimieren, indem die Angst geschürt wird, dass die „Sinistra“, sollte sie jemals wieder an die Macht kommen, mit der Steuerkeule losschlagen und niemand schonen würde. Es wird als offenkundig kolportiert, dass die „Sinistra delle tasse“ auf das durch Fleiß verdiente Einkommen von den gutsituierten Mittelständler:innen bis hinunter zu den Normalverdiener:innen zugreifen würde und weder die Kontokorrente noch das eigene Haus gegen ausbeuterische Steueredikte gefeit wären. Es wird ein Szenario heraufbeschwört, wonach die Bürgerinnen und Bürger nur die Wahl zwischen einer politischen Formation hätten, die sich mit Händen und Füßen gegen zusätzliche Steuerbelastungen wehrt, und einer, die nur darauf wartet, sie systematisch abzuzocken. Dank der Insistenz, mit der dieses Bild verbreitet wird, schwingt immer deutlicher die Botschaft mit, dass Steuern generell eine Form nicht rechtfertigbarer Ausbeutung darstellen und als Fehlentwicklung bekämpft werden müssen. Da der Staat seine Ausgaben durch Einnahmen abdecken muss, geht die Zielrichtung dahin, die Rolle des Staates als Garant des Allgemeinwohls und des Allgemeininteresses auszuhöhlen. 

    Nicola Porro lieferte eine Argumentationsschiene, um die Absurdität einer „Reichensteuer“ zu untermauern: Da nur fünf Prozent der Steuerzahler:innen in Italien mehr als 200.000 Euro an Jahreseinkommen erklären, wäre eine solche vom erzielbaren Steueraufkommen völlig vernachlässigbar und somit nur eine Ohrfeige für die Wohlhabenden. Er schließt daraus, es sei offenkundig („…ma è ovvio…), dass solche Steuerpläne nur dann konsistente Einnahmen generieren können, wenn sie auch einen Zugriff auf die Bankkonten der Normalbürger:innen und deren Haus beinhalten. Wahrscheinlich sind ihm die Zahlen nicht bekannt, die aus Studien und Datenbanken hervorgehen: Es geht darum, die obersten 1-2% der größten Vermögen angemessen zu besteuern, die kaum zum Steueraufkommen beitragen. Laut Global Tax Evasion Report 2024 könnten weltweit 250 Milliarden Dollar pro Jahr eingehoben werden, wenn weniger als 3.000 Individuen besteuert würden. Mehr als 100 an der Studie beteiligte Forscher:innen schlagen dazu eine Reform des internationalen Abkommens zur Mindestbesteuerung vor und empfehlen vor allem folgende Maßnahmen: i) Die Festlegung eines Mindestsatzes von 25% auf Gesellschaften bei gleichzeitiger Bekämpfung der Steuerflucht, ii) die Festlegung einer globalen Mindeststeuer von 2% auf das Vermögen von Milliardären, iii) die Einhebung einer Sondersteuer im Falle des Wechsels in ein Land mit niedrigen Steuersätzen. Das sog. Profit Shifting betrug 2022 1.000 Milliarden Dollar, wobei 40% davon den internationalen US-Konzernen anzulasten sind. 

    Sauerstoff für notwendige Investitionen des Staates

    Europaweit könnte die Besteuerung der großen Vermögen zwischen 150 und 217 Milliarden Euro an Einnahmen bringen, dringend benötigter Sauerstoff für die Ankurbelung der Industrie, den Ausbau der Infrastrukturen, die Unterstützung des ökokompatiblen Umbaus des Wirtschaftssystems, die Sicherstellung des Zugangs der einkommensschwächeren Bevölkerung zu den ökofreundlichen Technologien sowie für die Festigung des Sozialsystems. Laut Oxfam-Daten könnte in Italien pro Jahr bis zu 15,7 Milliarden Euro an Steuereinnahme erzielt werden, wenn 0,1% der Bevölkerung mit einem Nettovermögen von über 5,4 Millionen Euro einen Steuersatz von 1% bis 3% entrichten müssten. Auf 23 Milliarden würden die Einnahmen steigen, wenn diese Regelung auf 0,5% der Bevölkerung angewendet würde. Eine markantere progressive Gestaltung des Steuersatzes würde noch höhere Einnahmen generieren. 

    Komplexität in einem binären Setting nicht vermittelbar

    In der Sendung von letzter Woche ist auch augenfällig, dass die eingeblendeten Stellungnahmen und die Interventionen der Gäste im Studio, sofern es sich um Vertreter:innen der Opposition oder um regierungskritische Expert:innen handelt, aus der Vielfalt ihrer politischen Verortung heraus vielfach spontan ihre Meinung zu den Stichworten äußern, die der Moderator liefert. Es ist jedoch schwierig, reflektierte Positionen zu komplexen Themen in einem eng konstruierten Debattensetting zu artikulieren und schlüssige Antworten auf stark vereinfachende Argumentationsmuster zu geben. Mangels systematisch durchdachter und entsprechend abgestimmter Grundsatzdokumente fällt ihre Positionierung teilweise widersprüchlich aus. Dies ganz im Gegenteil zum Moderator, der gezielt versucht, sie auf’s Glatteis zu locken und zu Aussagen zu verleiten, die die Meinung der eingeschworenen Influencerriege von Rete 4 oder das Bild der „Sinistra delle tasse“ bestätigen. 

    Emotional aufgeladenen Zusehern „Patentlösungen“ anbieten

    Ist die Meinungsmache zu diesem Thema einmal wie beabsichtigt abgespult und verankert, wird noch eine weitere Debatte angehängt. Porro beklagt die jahrelange Untätigkeit des Staates bei der Mikrokriminalität und zeigt sich enthusiastisch über die private Initiative einer Bürgerin in Venedig, Lady Pickpocket, die ähnlich wie die Sonderberichterstatter:innen von „Striscia la notizia“ seit Jahren die Tourist:innen in den Gassen von Venedig vor den anwesenden Taschendieb:innen warnt. Sallusti pflichtet ihm bei und bezeichnet dieses ausufernde Phänomen als schwerwiegende Straftat, da dadurch die Freiheit und Unversehrtheit der Personen gefährdet werden. Hier werden die Zuschauer:innen in ihrer emotionalen Entrüstung abgeholt und bestätigt. Das ist die Gelegenheit, um die von der Lega vorgeschlagenen Verschärfungen des Strafmaßes für Taschendiebstähle zu lancieren. Ein Teil der Gäste verweist richtigerweise darauf, dass angesichts des Mangels an Ordnungskräften ein höheres Strafmaß nicht das Präventionsproblem löst und die Gefängnisse bereits jetzt überfüllt sind. Doch die Rationalität der Vernunft wird nicht imstande sein, die besorgten und verärgerten Zuschauer:innen zu erreichen, zumal wenn die Sinnhaftigkeit zivilgesellschaftlichen Engagements in Frage gestellt wird. Geflissentlich überhört wird von der Moderation der Einwand, dass die Justizreform der Ministerin Cartabia dazu beigetragen hat, die Zugriffsmöglichkeiten der Ordnungskräfte abzuschwächen, indem sie Diebstahl nicht als von Amtswegen verfolgbares Delikt einstufte, sondern nur als Antragsdelikt: Die Bestohlenen müssen selbst einen Antrag auf Strafverfolgung einreichen - Abschreckung der Opfer anstatt der Täter.


     

    [1] https://angelomincuzzi.blog.ilsole24ore.com/2024/05/22/ecco-il-manifest…