Das unsterbliche Licht
Als ich in Kurt Mosers Atelier am Kalterer See eintreffe, entfaltet sich über den Bergen gerade ein Tag von jener Sorte, auf die der Künstler sonst begierig wartet, um die Dolomiten für sein Lightcatcher-Projekt fotografisch einzufangen. Die Mendel erscheint in surrealer Klarheit, vereinzelte Cumulus-Wolken über dem Trudner Horn zerstreuen sich im Nordwind und der Mittag tunkt den Kalterer See in silbern schimmernden Sonnenglast. „Obwohl es ja mehrere solcher Tage gibt, unterscheiden sich die Dolomiten von anderen Bergen dadurch, dass sie dennoch an jedem einzelnen Tag anders aussehen“, sagt Kurt Moser. Trotzdem gab es bisher nur wenige Versuche, dieses Naturwunder in einem anspruchsvolleren photographischen Werk zu verewigen. Diese Lücke will Moser nun füllen.
Es ist wohl der hohe Anspruch, der auch die außergewöhnlichen Mittel rechtfertigt. Denn die Technik, womit Moser die Dolomiten ablichten will, hat mit konventioneller Photographie nichts mehr zu tun. Beim Eintreten in das Atelier erblicke ich sie an der Wand sofort: die sogenannten Ambrotypien. Dem Griechischen Wort „ambròtos“ entlehnt, das auf Deutsch „unsterblich“ bedeutet, bezeichnet die Ambrotypie ein Direkt-Positiv-Verfahren, das bereits 1850 vom Foto-Pionier Frederick Scott Archer entwickelt wurde. Weil man aber so etwas – zumal als Laie – besser in der Praxis als durch theoretische Erklärungen versteht, führt mich Kurt Moser nach unten in den Keller des Ateliers, der ihm als geräumige Dunkelkammer dient.
Im spärlichen Licht, das aus dem Treppengang durchsickert, zeichnen sich sogleich verschiedene Ampullen und rätselhafte Geräte ab. „Die ersten Menschen, die Ambrotypien erstellt haben, waren keine Fotografen“, erklärt Moser, „sondern Wissenschaftler, Forscher.“ Angesichts des komplexen chemischen Vorgangs, der zur Erstellung einer Ambrotypie notwendig ist, verwundert das wenig. Edle schwarze Cathedral-Glasplatten werden mit einer selbstgemischten Kollodium-Emulsion beschichtet, dann in flüssigem Silber gebadet. „Nach der Ablichtung des Motivs habe ich fünf Minuten Zeit, um die Ambrotypie zu entwickeln“, erzählt Moser. „Dabei muss jeder Handgriff sitzen, sonst ist alles verloren“. Ein Debakel, das angesichts der reinen Materialkosten von ungefähr 400 Euro pro Ambrotypie alles andere als günstig zu stehen käme.
Dass etwas schiefgeht, passiert inzwischen selten. Der Erfolg ist das Ergebnis von zwei Jahren harter Arbeit: Da es kaum mehr jemanden gibt, der das Handwerk beherrscht, musste Moser in diesem Zeitraum uralte Bücher lesen und selbst experimentieren, bis die Ambrotypien gelangen. Was der Betrachter nun als fertige Ambrotypie bestaunen kann – das Produkt von ein bis zwei Tagen Arbeit –, ist rein materiell Silber auf schwarzer Glasplatte: eine Fotografie in absoluter Auflösung, ohne Pixel oder sonstige Strukturen, täuschend echt. Die Tiefenschärfe ist schwindend gering. So sieht man bei einem Portrait die Ohren oder die Nasenspitze kaum noch. Bei den Gesichtspartien, die im Fokus liegen – Mund, Augen, Stirn –, sieht man jedoch alles. „Eigentlich sogar noch mehr“, erklärt Moser. Da in der Ambrotypie nicht normales Licht, sondern das für unser Auge unsichtbare UV-Licht eingefangen wird, treten auf der Glasplatte plötzlich Details zutage, die wir in der Wirklichkeit nie sehen hätten können. „Nicht jeder Frau, die portraitiert wird, ist das recht“, lacht Moser.
Nach und nach entsteht der Eindruck, dass am Lightcatcher-Projekt so ziemlich alles einzigartig ist: Die schwarzen Glasplatten, die weltweit von einer einzigen Firma in Böhmen hergestellt werden; die Ambrotypie selbst, die nicht vervielfältigbar ist, und schließlich das Motiv des Lightcatcher-Projekts: die Dolomiten. Die Felskolosse treten nicht nur in jeder Minute anders in Erscheinung, sondern erscheinen auch jedem Augenpaar anders. „Die Ambrotypie hingegen fängt sie ein und zwingt dem Betrachter ihren eigenen Blick auf die Berge auf“, sagt Moser. Kunst sei immer eine Kampfansage an die Vergänglichkeit, ist sich Moser sicher. Doch in diesem Projekt wird das noch mehr als sonst deutlich: 800 bis 900 Jahre ist die Lebensdauer einer Ambrotypie.
Doch die fast zwei Meter große Holzkamera aus dem Jahr 1907, die Kurt Moser bisher benutzt hat, um seine Ambrotypien herzustellen, eignet sich kaum, um in der Gegend, dazu noch im steilen Auf und Ab der Dolomiten, umhergeschleppt zu werden. Außerdem – und das war das weitaus größere Problem – brauchte es eine transportfähige Dunkelkammer. Die Lösung fand Kurt Moser in Berlin, wo seit dem Abzug der russischen Truppen ein „Ural“, ein sowjetischer Militärlastwagen, zurückblieb. Mit dem alten Gefährt soll nun Großes passieren. Moser schwebt ein Umbau vor, der einer technischen Meisterleistung gleichkommt: Der Ural soll bald als gigantische Ambrotypie-Kamera und Dunkelkammer dienen, um unter die Felswände der Dolomiten gefahren zu werden. In einem Video veranschaulicht Moser, welcher Aufwand hinter diesem Umbau steckt. Die Finanzierung wird gerade auf die Beine gestellt.
„Ich hatte bestimmt tausend Mal den Gedanken, alles hinzuschmeißen“, begleitet Mosers Stimme das Video. Er sagt es mit der Stimme des Siegers, der auf eine Erfolgsgeschichte zurückblickt. Dabei steht die eigentliche Arbeit des Projekts noch an. Nach dem Umbau des Urals wird Moser mit seiner russischen Riesenkamera die Dolomiten befahren, um sie in 50x60-Ambrotypien einzufangen. Doch der Künstler selbst ist nicht der Einzige, der an großartiges Gelingen glaubt. Die UNESCO hat dem Projekt bereits ihr Patronat verliehen. Und obwohl die Ambrotypien noch entstehen müssen, hat Moser bereits Verträge für Ausstellungen weltweit unterschrieben. Im Jahr 2019 werden die Dolomiten auch nach London, Berlin und Mumbai gebracht.