Cultura | Salto Weekend

Alt Graun ganz neu

In einem Kurzfilm kann man nun durch das versunkene Dorf Graun spazieren. Gestern feierte der Film in unmittelbarer Nähe Premiere. Ein Gespräch an der Wasseroberfläche.
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Foto: Menschenbilder media

salto.bz: In Eurem Kurzfilm kann man knapp 15 Minuten lang durch das versunkene Dorf Graun flanieren. Woher die Idee?

Ramona Punter: Im Zuge meiner Masterarbeit Embodied Remembrance, ein Ort konstruierter Erinnerung, in welcher es um die Geschichte Alt-Grauns und ein darauf basierendes Projekt für das Turm-Areal ging, kam die Idee, das ursprüngliche Dorf anhand des alten Kataster-Plans, vorhandener Bilder und dem alten Modell im Museum Vinschger Oberland, in 3D zu modellieren. Vorerst für ein 3D-gedrucktes physisches Modell sowie einer 2-minütigen, schematischen Animation. Ich kontaktierte Hansjörg Stecher bereits während der Masterarbeit, um Bilder/Informationen über Graun zu erhalten. Nach der Master-Präsentation habe ich Hansjörg meine Arbeit geschickt, einschließlich der Kurzanimation. Daraufhin meldete er sich bei uns – Steivan Canal war mittlerweile auch an Bord. Er fragte uns, ob es möglich wäre, die Animation noch weiter auszuarbeiten und einen Kurzfilm über das ehemalige Graun daraus zu machen. Daraufhin hat die spannende Reise begonnen.
 

Da bleibt dir die Sprache weg. Ich habe das Gefühl, ich träume.
(Walter Wolf)


Hansjörg Stecher: Als Historiker und Filmemacher, der sich schon seit Längerem mit der Geschichte des versunkenen Dorfes beschäftigt, war ich von diesem Kurzfilm und vor allem vom großen Potenzial der 3D-Technik auf Anhieb begeistert. Und so hat es nicht lange gedauert, dass wir gemeinsam Pläne für einen etwas längeren und noch realistischeren Animationsfilm in der Form eines virtuellen Spaziergangs durch Alt-Graun geschmiedet haben. 
Bis zum fertigen Film sollte es allerdings noch etwas dauern. Umso mehr freut es uns, dass wir den Film gestern zum ersten Mal in Graun zeigen konnten, und das im Beisein zahlreicher Bewohner*innen des alten Dorfes, die zum Teil von weither angereist sind.
 


Was soll und was kann nun dieser spezielle Kurzfilm bei den Zuseher*innen auslösen? Oder ist er nur reine Dokumentation?

Hansjörg Stecher: Vor über 70 Jahren in Schutt und Asche gelegt und vom großen Wasser überschwemmt, lässt der 3D-Film das alte, malerische Dorf Graun aus dem Nichts wiederauferstehen. In jahrelanger Kleinarbeit haben Ramona Punter und Steivan Canal jedes einzelne Haus von Alt-Graun rekonstruiert und digital nachgebaut, um das Dorf nun in virtueller Form wieder erleb- und begehbar zu machen. Auf diese Weise eröffnet der Film insbesondere den vertriebenen Zeitzeug:innen der Tragödie von 1949/50 ein langersehntes und letztes Wiedersehen mit ihrer alten Heimat und uns Nachgeborenen eine erste Begegnung mit dem alten Graun. 
Ramona Punter: Unser primäres Anliegen war, und ist es nach wie vor, den wenigen, noch lebenden Zeitzeugen noch einmal ihre Heimat in Farbe zeigen zu können. Schwarz-Weiss-Fotos gibt es einige, jedoch ist es ein anderes Gefühl, durch das virtuelle Dorf noch einmal «durchspazieren» zu können. In zweiter Linie ist uns das Konservieren von Geschichte und Erinnerungen am Herzen gelegen.
 

Wir möchten zeigen, dass zur heutigen Touristenattraktion, dem Glockenturm, noch viel mehr dazugehört hat.
(Ramona Punter)


Hansjörg Stecher: Allein schon die Reaktion von Walter Wolf, der den Film als Sprecher umrahmt und von daher als allererster Zeitzeuge zu sehen bekommen hat, spricht hier Bände: „Da bleibt dir die Sprache weg. Ich habe das Gefühl, ich träume.“ Insofern war das Wiedersehen mit der alten Heimat am gestrigen Abend nicht nur für Walter Wolf ein emotionaler Flashback. Vor allem mit dem spektakulären Blick durch die 3D-Brille, die den Benutzer*innen das Gefühl gibt, in der Zeit zurückkatapultiert worden zu sein und wieder mitten im alten Dorf zu stehen.

Wieviel Vorwissen müssen die Zuseher*innen mitbringen? Der Film kommt ja zum größten Teil ohne Text aus…

Ramona Punter: Natürlich ist es von Vorteil, wenn man über die teils sehr tragische Geschichte der Seestauung bereits Hintergrundwissen hat bzw. die Geschichte kennt. Die meisten in der Region wissen, warum der Turm so einsam im Wasser steht. Für alle anderen soll sich mit dem Kurzfilm ein Bild der Vergangenheit offenbaren. Wir möchten zeigen, dass zur heutigen Touristenattraktion, dem Glockenturm, noch viel mehr dazugehört hat. Ein sehr schönes, intaktes Straßendorf, umgeben von riesigen Weidewiesen und fruchtbaren Feldern.
 

In der Hoffnung, dass die vielen Instagrammer*innen nicht nur das eine pic of the day vom Kirchturm mit nach Hause nehmen...
(Hansjörg Stecher)


Hansjörg Stecher: Der Film soll den Zuseher*innen ein Gefühl für das alte Dorf Graun vermitteln, für dessen Architektur, Dimension und landschaftliche Umgebung. 
Im Zentrum des Interesses steht dieses Mal also nicht das omnipräsente Trauma der Seestauung, sondern das idyllische Dörflein Graun am Vorabend des großen Wassers. Das wie ein Damoklesschwert über dem Dorf schwebende Schicksal der totalen Zerstörung im Sommer 1950 ist durch das herannahende Wasser lediglich am Rande angedeutet, sodass die Gefahr zu erahnen ist, sich jedoch nicht in den Vordergrund spielt. 
 


Welchen Weg wird der Film nach der Premiere nehmen?

Hansjörg Stecher: Geplant ist, dass der Film als eines der Highlights im neu konzipierten Museum in Graun zu sehen sein wird. Und wir denken in Zusammenarbeit mit der Gemeinde Graun darüber nach, den Film in einer Kurzversion über einen QR-Code auch beim Turm abrufbar zu machen. In der Hoffnung, dass die vielen Instagrammer*innen nicht nur das eine pic of the day vom Kirchturm mit nach Hause nehmen, sondern vielleicht auch das verinnerlichte Bild, dass rund um den Turm einmal ein Dorf stand, dessen Bewohner*innen von ihrer Heimat vertrieben wurden, um Platz für ein willkürliches Stauseeprojekt zu machen.
 

Wenn man bei Google Earth „Atlantis der Berge“ eintippt, führt der Zoom direkt bis zur Kirchturmspitze
(Hansjörg Stecher)


Wie aufwendig war die Erarbeitung der Renderings? Wie originalgetreu ist der filmische Nachbau überhaupt?

Ramona Punter: Das schwierigste war, anhand von Bildern, einem Modell im Mst. 1:500 und der einzigen Planvorlage, dem letzten Katasterplan vor der Seestauung, auf welchem handgezeichnete Gebäudeumrisse dargestellt waren, die Häuser in der originalen Größe bzw. Proportion detailliert zu rekonstruieren. Um in einem weiteren Schritt die Gebäude und die Umgebung zu texturieren, mussten wir anhand der Schwarz-Weiß-Fotografien versuchen zu erkennen, um welches Material bzw. Farbe es sich wohl gehandelt hat. Einige kolorierte Postkarten sowie das physische, von Hand bemalte Modell der 30er Jahre, erleichterten uns diesen Schritt an einigen Stellen. Es war eine sehr intensive Zeit, wo wir unter großem Aufwand in der Freizeit das Dorf aus dem "Nichts" originalgetreu wieder zum Leben erweckt haben.

Schon Anfragen von Google Earth?

Hansjörg Stecher: Na, klar. Wenn man bei Google Earth „Atlantis der Berge“ eintippt, führt der Zoom direkt bis zur Kirchturmspitze, mit einem kleinen Umweg über Kastelruth, wo sich die „Spatzen“ einmal bemüßigt fühlten, dem Kirchturm im Wasser ein musikalisches Denkmal zu setzen …