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Zäsur gegen die Politverdrossenheit

Bürgerräte gab es schon im alten Athen und sie feiern in der EU ein Comeback, darunter in Deutschland unter prominenter Schirmherrschaft. Eine Lösung auch für Südtirol?
Bürgerrat "Deutschlands Rolle in der Welt"
Foto: Mehr Demokratie e. V.

Die Covid-19-Pandemie hat die Realität weltweit auf den Kopf gestellt. Das, was wir als Wirklichkeit empfunden haben, steht vor einer Zerreißprobe, deren Ausgang noch nicht absehbar ist. Wird es einen flüssigen Übergang geben, den wir durch seine Dauer gar nicht so tiefgreifend wahrnehmen und der sich langsam in unser Bewusstsein festsetzt? Oder wird die Zeit nach Corona (sofern diese Definition möglich ist) von Zäsuren geprägt, die dem Selbstverständnis unserer Umwelt abrupt eine neue Hülle geben?

Wir werden uns für diese Gewissheit in Geduld üben müssen. Was man aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Monate durchaus feststellen kann, ist die Tatsache, dass viele Menschen das, was wir bisher als Demokratie verstanden haben, nicht mehr als legitim erachten.

Am offensichtlichsten manifestiert sich diese Entwicklung bei jenen Menschen, die sich aufgrund der Einschränkungen und Sicherheitsmaßnahmen, die von Experten und Politik vorgegeben werden, ihrer Freiheit beraubt sehen. Es hagelt Proteste; in einigen Ländern subtiler (Italien) als in anderen (Deutschland), manche äußern sich nur im kleinen Kreis, andere gehen auf die Straße. Nichtsdestotrotz lässt sich durchwegs ein Prozess erkennen, der den Modus Operandi, dem unser System unterliegt, in Frage stellt oder im Extremfall diesen gar delegitimiert.

 

Demokratische Innovation aus der Antike

 

Die Gründe sind vielschichtig: von Politikverdrossenheit über mangelndes Vertrauen in die Entscheidungsträger bis hin zu individuellen Schicksälen. Die Reihe kann weitergeführt werden, ohne dass scharfe Grenzen zwischen den Motivationen gezogen werden können.

Umso mehr bietet sich in diesem Fall eine Zäsur in der Politik an, um die Selbstwirksamkeitserfahrungen der Bürgerinnen und Bürger zu fördern und diesen mehr Handlungsspielraum zuzugestehen: geloste Bürgerräte. Eine vermeintliche demokratische Innovation, die schon vor einigen Jahren in Irland das Laufen gelernt hat und nun unter anderem auch in Deutschland auf nationaler Ebene konkrete Formen annehmen zu scheint. So neu ist das Konzept aber nicht.

In Deutschland hat der Verein Mehr Demokratie e. V. die Bürgerräte aus der Schublade geholt, eine Idee die schon im alten Athen unter Perikles das demokratische Fundament bildete, jedoch in Europa lange Zeit in Vergessenheit geriet. In Irland wurden die Bürgerräte schon 2016 eingerichtet und haben dort unter anderem maßgeblich zur Legalisierung der Ehe für Homosexuelle im stark katholisch geprägten Inselstaat beigetragen.

 

Coronapolitik befeuert Kritik

 

Denn Politikverdrossenheit und mangelndes Vertrauen treffen einen Nerv, der sich gerade durch die Pandemie immer weiter entzünden zu droht. Während in den Jahren zuvor besonders in der rechts- und linkspopulistischen Rhetorik das Bild einer oligarchisch anmutenden Elite geprägt wurde, die über den Köpfen des gemeinen Volkes hinweg Entscheidungen trifft, so hat sich diese Angst nun konkretisiert. Regierungen in ganz Europa müssen sich momentan – teilweise zurecht – den Vorwurf gefallen lassen, demokratische Prozesse zu übergehen und aufgrund der Notsituation den Anspruch auf alleinige Entscheidungsgewalt zu erheben. Auch unsere Landesregierung musste sich diesem Vorwurf stellen und letztendlich einlenken.

Ob die Kritik gerechtfertigt ist oder nicht, lässt sich nur von Fall zu Fall klären. Was bleibt, ist die Beobachtung, dass sich die Politik tatsächlich immer weiter von seinen Wählerinnen und Wählern entfernt. Ein Vorgang, der sich in unserem medialen Zeitalter umso klarer herauskristallisiert. Die Menschen fühlen sich in ihrem Aktionsradius eingeschränkt, es kommt kaum das Gefühl auf, dass man selbst als Individuum aktiv eingreifen kann.

 

Irland, Frankreich, UK - und nun auch Deutschland

 

Das soll sich nun ändern, unter anderem in Deutschland. „Man ist an uns herangetreten und hat gefragt, ob wir nicht ein Konzept zu Bürgerräten ausarbeiten wollen“, erklärt Thorsten Sterk, Bürgerrat-Campaigner bei Mehr Demokratie e. V. Darauf sei man nach Irland gefahren, habe sich Tipps geholt und sich schließlich selbst an die Arbeit gemacht. 2019 wurde der erste „Bürgerrat Demokratie“ einberufen, bei dem 160 per Los einberufene Menschen an zwei Wochenenden über verschiedene Themen debattierten.

Dabei sollten die Beteiligten einen Querschnitt der deutschen Bevölkerung, quasi ein „Mini-Deutschland“ abbilden. Ob Frau oder Mann, ob Arbeiter oder Akademikerin, ob jung oder alt, ob mit oder ohne Migrationshintergrund – jede und jeder sollte auf seine Weise einen Teil der Gesellschaft repräsentieren.

Die Ausgelosten gaben schließlich ihre Empfehlungen ab: eine regelmäßige Einberufung von gelosten Bürgerräten; mehr Volksabstimmungen, die wiederum eng mit den Ergebnissen der Räte zusammenhängen sollen; eine eigene Stabsstelle für Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie sowie ein Lobbyregister. Die Empfehlungen wurden an Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und den Fraktionen im November 2019 übergeben.

 

Bundestagspräsident Schäuble übernimmt Schirmherrschaft

 

Und Schäuble war es auch, der den zweiten Bürgerrat – „Deutschlands Rolle in der Welt“ – selbst aktiv mit angetrieben hat. Seit 13. Jänner 2021 tagt der Bürgerrat nun regelmäßig online, insgesamt 50 Stunden aufgeteilt auf 10 Sitzungen, wobei der Bundestagspräsident diesmal sogar die Schirmherrschaft übernimmt.

Wie der Name schon suggeriert, geht es bei dieser Ausgabe des Bürgerrats um Deutschland und dessen Einfluss auf die globale Entwicklung in Sachen Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt. Entsprechend weitläufig sind die Kernthemen verfasst: Es geht um nachhaltige Entwicklung, Wirtschaft und Handel, Frieden und Sicherheit, Demokratie und Rechtsstaat sowie die Europäische Union. Bestimmt wurden die Themen anhand von Eingaben der Bundestagsfraktionen und Antworten auf Fragebögen von Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Das sogenannte „Bürgergutachten“ wird schließlich am 19. März 2021 dem Bundestag übergeben und der Öffentlichkeit vorgestellt.

Während in Ländern wie Irland, aber auch Großbritannien und Frankreich, konkrete Maßnahmen aufgrund der Empfehlungen der nationaler Bürgerräte ergriffen wurden, versteht sich das Projekt „Bürgerräte“ in Deutschland noch als Test. „Es gibt noch keine rechtliche Grundlage dafür, dass der Bundestag sich mit den Empfehlungen beschäftigen muss“, erläutert Sterk, gibt sich jedoch optimistisch: „Wir sind zuversichtlich, dass sie angeschaut werden, in einem Jahr erwarten wir das Feedback dazu. Außerdem gab es schon eine Ankündigung für einen nächsten Bürgerrat, obwohl der jetzige noch nicht abgeschlossen ist. Der Bundestag will zuerst erörtern, ob dieses Konzept in unsere Demokratie passt.“ Er würde wohl nach den Bundestagswahlen im Herbst 2021 stattfinden.   

 

Ein Konzept für Südtirol?

 

Dabei könnte dieses Instrument viel konkreter angewendet werden, überhaupt im Kleinen wie in Südtirol. Zwar sieht sich Mehr Demokratie e. V. als Verein, der besonders die direkte Demokratie fördern will. Jedoch wäre das Konzept des Bürgerrates eigentlich die ideale Alternative zu den von politischen Animositäten geprägten Referenden, deren Ausgang des Öfteren eher Trotzreaktionen denn pragmatische Entscheidungen widerspiegeln.

Bürgerräte wären in einer nach wie vor von sprachlichen und kulturellen Diskrepanzen geprägten Region eine interessante Option. Gerade eine solche Institution könnte eine konstruktive Debatte zwischen den Gelosten entfachen, abseits von Eigeninteressen und parteipolitischen Zwängen, zumal der Austausch ein Wir-Gefühl zwischen Sprachgruppen fördern könnte. 

Doch während ein Teil der EU nach vorne schaut, rudert Südtirol in Sachen Bürgerbeteiligung sogar zurück, zumal es bisher schon schwer war, einen Bürgerrat einzuberufen: Eines der wenigen Instrumente der Bürger, aktiv in die Politik einzugreifen, das „bestätigende Referendum“, soll wieder abgeschafft werden. Einen Bürgerrat soll nur noch das Landtagspräsidium einberufen können. Das geht aus einem am 12. November 2020 von Landtagsabgeordneten Sepp Noggler (SVP) eingereichten Antrag hervor, Ausgang noch ungewiss. 

All das, obwohl z. B. Toponomastik, der Bozner Flughafen oder der Umgang mit faschistischen Relikten Angelegenheiten sind, die vielen Bürgern nahe gehen, die aber auch spalten und einer politischen Agenda untergeordnet werden. Würde eine gut strukturierte Debatte mit gelosten „Volksvertreterinnen“ als Basis fungieren, anstatt aus dem Boden gestampfte Plebiszite oder bisweilen unglückliche Entscheidungen der politischen Führung, könnte die Politikverdrossenheit durch positive Selbstwirksamkeitserfahrungen in neues Vertrauen ins System und mehr Verständnis für politische Prozesse münden. 

 

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Fabian . Mer, 02/17/2021 - 18:44

Dieser Idee von "Bürgerräten" fußt auf dem Konzept vom "kommunikativen Handeln" nach Habermas. Das setzt wiederum ein anderes Verständnis von Politik (im Sinne "des Politischen") voraus: Bisher wurde Politik so gedacht (und umgesetzt), dass die Einzelnen auf Basis ihrer Eigeninteressen sich im (halb-)öffentlichen Raum mit Gleichgesinnten kurzgeschlossen und dann Vertreter, die genau diese Interessen durchzusetzen versuchen, ernannt haben (entweder Interessensverbände oder politische Parteien), den Kampf um die politische Entscheidung hat folgerichtig jene Interessensgruppe gewonnen, die sich gegenüber den anderen durchsetzen konnte.

Nun lässt sich Politik auch anders denken und gestalten: Deliberation in einem gleichberechtigten öffentlichen Raum, in welcher sich - so die Hoffnung - das beste Argument (nicht der einflussreichste Lobbyist) durchsetzt - früher oder später, weil es rational (?) zu überzeugen wusste. Sowas ist durchaus möglich (es gibt ja bereits viele Projekte), zuerst natürlich auf lokaler Ebene, dann aber - sozusagen "nach oben gefiltert" - auch auf regionaler und nationaler Ebene. Dafür braucht es allerdings:
1. Die vollständige Öffnung des aktuellen politischen Systems gegenüber dieser Konzeption von Demokratie; dabei ist vor allem Vorsicht geboten vor den vermeintlichen Förderern á la Schäuble; denn die Gefahr, sozusagen auf halben Weg von Verfechtern des Bestehenden gekapert zu werden, ist immens groß.
2. Die Bereitschaft der Bevölkerung, die vermutlich erst nach der großen wirtschaftlichen Zäsur, die vor der Tür steht, eintreten wird.

Diejenigen, die sich nun mit solchen Ideen wieder in die Öffentlichkeit wagen, sollen sich - nein: dürfen sich - nicht mit Zugeständnissen abspeisen lassen, es bedarf radikaler Forderungen: "Mehr Demokratie wagen" - jetzt mehr denn je.

Mer, 02/17/2021 - 18:44 Collegamento permanente