Cultura | Salto Afternoon

Wann ist Mann?

Tanz Bozen eröffnete die Festivalausgabe 2023 mit einem fulminanten Stück. Es ging um "King". Vor allem aber um Männer, Männlich- und Lächerlichkeiten. Und um Gesang.

Ivo Dimchev sitzt vor verschlossenem Vorhang und einem aufgeschlossenen(?) Publikum im großen Saal des Bozner Stadttheaters. Auf Dimchevs Schoß liegt ein Keyboard. Der berühmte Choreograf, Künstler, Singer-Songwriter aus Bulgarien streicht über die Tasten und erzeugt überraschend die Klänge einer gezupften klassischen Konzertgitarre. Das mag zunächst verblüffen, aber Dimchev macht das so gefühlvoll, sodass man seine performte Liedkunst gleich ins Herz schließt. Mit der Leichtigkeit eines singenden Orakels führt er in (und durch) das Stück King, dem diesjährigen Eröffnungsstück von Tanz Bozen. Nachdem es erstmals im Feburar/März im Seymour Centre von Sydney zur WorldPride 2023 gezeigt worden war, hatte King vor kurzem in Köln, Luxemburg und in Wiesbaden erste Europa-Termine. Und nun auch in Bozen. 
 

King erforscht die Männlichkeit als soziales Paradigma, die Unterdrückung des Weiblichen, der Kreativität und der Zärtlichkeit durch das Männliche.
(Shaun Parker)


Sänger Dimchev, bekannt für seine farbenfrohe Mischung aus Performancekunst, Tanz, Theater, Musik, Zeichnungen und Fotografie, ist in King als singender Barde im Dauereinsatz. Mit seinem einfühlsamen und subtil provokativem Liedvortrag gelingt es ihm, sich mit seinen Eigenkompositionen, sicher durch die Choreografie von Shaun Parker & Company zu singen, wesentlicher Teil von ihr zu werden und am Ende es zu sein. 
 

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Ivo Dimchev: Feines Liedgut als Gewalt-Gegenpol / Foto: Andrea Macchia


Der australische Choreograf Shaun Parker geht in King der Frage nach, wie sich „die Macht des Patriarchats in den sozialen, sexuellen und politischen Strukturen niederschlägt“. Gleichzeitig hinterfragt er Macht und versucht sie zu sprengen. Es ist dabei ein ums andere Mal faszinierend, wie auf- und anregend, lustig (manchmal sogar tollpatschig), wie konfrontierend die Bühnentänzer sich im Dschungel des Bühnenbildes bewegen. Vor den natürlich wuchernden Farnen und Sträuchern des Bühnenbilds ist es fast schon absurd (geradezu lächerlich) wie sich zu Stückbeginn militärisch getrimmte Mannsbilder in Reih und Glied aufstellen, um die Größe des Mannes zu betonen. Im Lauf des Abends verwandeln sich die Tänzer aus der etwas heuchlerischen Smokingfassade (mit Pinguin-Charakter) in ein vielschichtiges Ganzes, wo immer mehr das Individuelle vorherrscht, der "Rudel" aber nicht weit ist und sich immer wieder einnistet.
 

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Patriarchal Gefangene: Sich frei machen. Tanzend und singend. / Foto: Andrea Macchia


Das aus unterschiedlichsten Tänzern bestehende Ensemble besticht durch eine außergewöhnliche Leidenschaft und Körperlichkeit. Die sehr anspruchsvolle – mal roboterhaft, mal poetische – Choreografie, punktet durch eine atemberaubende Komplexität, überzeugende Akrobaten, sowie hypnotisierenden Mustern und Figuren.
Auch wenn sich gegen Ende von King der splitternackte Einzelne gegen den Mob auflehnt, finden Bewegungssprache und die Sehnsucht nach dem Seelischen passende Antworten und führen letztendlich zu einer neuen Schönheit. Der leuchtende Luster senkt sich vom Oberboden. Er beleuchtet alles neu, horizontaler, auf Augenhöhe, flache Hierarchien herbeisehend.
 

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Ertanzte Grenzverschiebung: Vor allem zu Beginn hat "King" was von Synchronschwimmen für Männer (ab 2024 olympisch). Natürlich ohne Wasser. / Foto: Andrea Macchia


Von oben herab? Das war einmal! Die Musikbegleitung von Dimchev ist und bleibt betörend und sie fügt sich nahtlos in den Tanz ein. Seine fast elfenhafte Präsenz ist stets da, auch wenn er selbst meist im Hintergrund agiert. Doch durch die außergewöhnliche Bandbreite seines Gesangs – vom hallenden, sanften Bariton bis zur aufsteigenden Countertenor-Zerbrechlichkeit – trällert sich Dimchev in den Vordergrund und in die Herzen des Publikums. Ursprünglich wollte Shaun Parker die Rolle des Sängers in King übernehmen, erinnerte er sich in einem Interview mit den Bozner Veranstaltern, aber er sei dann so beschäftigt mit den neuen Tänzern gewesen, bis er dann zufällig bei einer Recherche auf Dimchev stieß und ihm klar wurde: „Er ist es!“
 

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Nichts als Männer: Einem breiteren Publikum ist Dimchev seit seinem Hit Vodka bekannt. / Foto: Andrea Macchia


Welche Bewegungstechniken für Parker vorherrschen, darüber konnte man sich auch ein Bild bei der am Waltherplatz in Bozen gezeigten Freiluft-Aufführung des Stückes Trolleys machen, denn von zeitgenössischem Tanz über Ballett oder Yoga bis hin zum sportlich akrobatischen Bewegungen, ist bei Parker so gut wie alles dabei. 
Ob Trolleys oder King, Shaun Parker eilte nach anhaltendem Applaus am Eröffnungsabend dann doch noch auf die Bühne und begab sich auf`s grasgrüne Spielfeld. Es bestand dann auch kein Zweifel mehr: Diese 11 Mannen leisteten mehr, als jede noch so gute Fußballmannschaft.