Die grosse Versuchung
Chaos erzeugen, um die Rolle als starker Mann auszuspielen, der wieder für Ruhe und Ordnung sorgt: das ist die Strategie des türkischen Staatspräsidenten Erdogan. Dieses Chaos soll als Vorwand dienen, um die Parlamentswahlen auszusetzen.
Dieser Versuchung, solange mit Neuwahlen zu warten, bis sich die Umfragewerte wieder zugunsten der Regierungspartei AKP gewendet haben, kann der Staatspräsident kaum widerstehen. Auch wenn sie ihm internationale Ächtung einbringen wird.
Dieses absichtlich hervorgerufene Chaos verläuft auf mehreren Ebenen : der militärischen, der politischen und der medialen .
Zwischen türkischen Nationalisten und Kurden wurde der historische Konflikt wieder angefacht , der bereits hunderte von Toten auf beiden Seiten verursacht hat.
Die erstmals im Parlament vertretene kurdische Opposition wurde als kriminell eingestuft und ausgegrenzt.
Zusätzlich verschärfte das Regime in Ankara Zensur und Einschüchterung der Medien.
Eine Kostprobe dieses undemokratischen Herrschaftsstils bekamen in den vergangen Tagen die Mitglieder der internationalen Karawane " Rojava Calling " zu spüren, die seit Wochen unterwegs sind, um den Bewohnern der kurdischen Symbolstadt Kobane humanitäre Hilfe zu bringen.
Seit einem Jahr kämpfen die Kurden dort gegen die Terrormilizen des Daesch ( Islamischer Staat), um ihre Enklave in der autonomen Kurdenregion Rojava zu verteidigen.
Rojava steht für ein kurdisches Autonomiemodell, in dem verschiedene Ethnien und Religionen friedlich nebeneinander leben sollen. Das Gegenteil davon streben die Terrormilizen im Verein mit der türkischen Regierung an. Für sie ist autonome Region Rojava ein Dorn im Auge. Sie wollen dieses Territorium zurückerobern und ausserdem eine Ausweitung der Kurdenregion unterbinden.
Deshalb versucht die Türkei, die Kurden in Kobane auszuhungern. Nur drei Mal pro Woche wird der Grenzübergang bei Suruc geöffnet, um es den türkischen Kurden zu ermöglichen, den eingeschlossenen Leidensgenossen Hilfsmittel zu bringen.
Die internationale Karawane zur Unterstützung von Kobane hat in den vergangenen Tagen versucht, die türkischen Behörden davon zu überzeugen, einen durchwegs geöffneten humanitären Korridor einzurichten . Diese Forderung, die aufgrund der UNO-Resolution 2165 vom 14. Juli 2014 gestellt wurde, ist von den zuständigen türkischen Stellen nicht einmal in Erwägung gezogen worden.
Stattdessen wurde die Karawane eingeschüchtert, bedroht und daran gehindert, das geplante Besuchsprogramm zu absolvieren.
So konnten die Mitglieder der Karawane auch nicht die mitgebrachten Medikamente und ärztlichen Geräte, sowie Schulmaterial abliefern. Kurdische Organisationen wollen dafür sorgen, dass die Hilfe an den richtigen Stellen ankommt.
Mit Mühe und Not konnten einige Mitglieder der Karawane die gemarterte kurdische Stadt Cizre besuchen, die seit Monaten vom türkischen Heer eingeschlossen und bombardiert wird. 33 Tote unter der Zivilbevölkerung , darunter ein 35 Tage altes Baby , ist die Bilanz der letzten Belagerung vor zwei Wochen.
Zwei Mitglieder der Kobane-Karawane sind Parlamentsabgeordnete von SEL ( Sinistra e Liberta). Ihre Immunität wird von den türkischen Behörden natürlich nicht anerkannt. Sie wurden durchsucht und gepiesackt, wie die übrigen Karawanen-Mitglieder.
Viele Frauen nehmen an der Karawane teil. Denn in der Rojava-Region und in den kurdischen Parteien und Verbänden spielen die Frauen generell eine wichtige Rolle. Die vielen Peschmerga-Kämpferinnen zeugen davon.
Gleichberechtigung und Schulausbildung für alle : darum kämpfen die engagierten Kurdinnen im Alltagsleben. Auch in den drei Flüchtlingslagern im von Kurden bewohnten türkisch-syrischen Grenzgebiet wird auf Ausbildung von Vertriebenen-Kindern grossen Wert gelegt. Weil in diesen Camps vorwiegend kurdische Flüchtlinge leben, werden sie regelmässig von türkischen Soldaten durchsucht und schwer beschädigt.
Diese Zustände, die von den internationalen Karawanen-Mitgliedern mit eigenen Augen beobachtet werden konnten, führen die Türkei an den Rand eines Bürgerkriegs.
Ein Bürgerkrieg garantiert Chaos und davon möchte der türkische Staatspräsident mit seiner AKP-Partei profitieren. Nur : was sagt die Wirtschaft dazu ? Und wie reagieren die türkischen Streitkräfte auf die von oben angeordnete Super-Repression, die zum Tod von bisher über 100 Soldaten geführt hat?
Hunderte von Toten auf beiden Seiten hat die Machtgier eines einzigen Politikers verursacht, der nicht verlieren kann.