Nordwand oder Hintergrad?
Auch als Salto-Leser/in kann es einem/r nicht entgehen, dass die Diskussion immer polarisierender geführt wird. Wie verfeindet die Lager bereits sind, wie empfindlich man auf einander reagiert, und wie verdächtig man sich sofort macht, wenn man neue Aspekte in die Diskussion einbringt, war mir beim Verfassen des Beitrags Der Freistaat von außen gesehen noch nicht bewusst. Leute, denen man ansonsten ähnliche, politische wie gesellschaftliche Weltanschauung zutrauen könnte, kommen sich bei diesem Thema in die Haare. Übertreibe ich, wenn ich von einer beginnenden Spaltung der Südtiroler Gesellschaft spreche? Bitte locker bleiben, da geht es nicht um eine, uns von Diktatoren auferlegte „Option“. Es geht um hausgemachte, konstruktiv gemeinte Zukunftsgestaltung. Beide voll legitim und beide überbetonen die beste Absicht, im Sinne aller gestalten zu wollen.
Eigentlich könnte man solche Polemik im Wahljahr spannend finden, aber leider ödet mich die Diskussion komplett an. Warum? Weil keiner der beiden Ansätze auch nur irgendwie als visionär zu bezeichnen ist. Altbacken das eine, altbacken das andere. Etwas mehr Autonomie zu fordern in Zeiten, in denen man damit beschäftig ist, Autonomie zu verteidigen, wirkt nicht nur einfallslos, sondern gar orientierungslos. Staatengründung mag pragmatisch sein, kann aber höchstens ein sehr indirekter, widersprüchlicher Weg zu einem post-nationalen Europa sein. Trotzdem, beides sind legitime Taktiken, um zum Ziel zu gelangen. Nur, was das Ziel denn sein soll, von dem spricht keine/r. Es kommt mir gerade so vor, als würde man sich schon streiten, ob die Route über die Nordwand oder über den Hintergrat zu klettern sei, aber man noch keine Ahnung hat, welchen Gipfel man denn besteigen will.
Also sprechen wir kurz von einem langfristigen Ziel. Ich kann es natürlich nur für mich persönlich definieren. Vielleicht bekomme ich ein paar Kommentare, die zustimmen, oder eben etwas Besseres vorschlagen. Ich setzte erst einmal den Referenzpunkt:
- Ein friedliches Miteinander in einem starken, handlungsfähigen und bürgerdemokratischen Europa
- Eine selbstbewusste Alpenregion, die zusammenhält und gemeinsam alpenländische Interessen gegen Rom, Wien, Bern/Zürich, Berlin und Brüssel durchsetzt
Könnte man sich auf so einen minimalen Konsensus einigen? Einspruch? Natürlich kann man jetzt nach persönlichem Geschmack weitere Wünsche dranhängen, wie interethnisch, grün, wirtschaftlich, sozial, konservativ, blau, christlich usw., aber dazu gibt es ja schließlich funktionierende Parteien. Und irgendwie sind Minderheitenschutz, Transit, Umweltschutz, Tourismus, Kleingewerbe und Konsorten klassische Repräsentanten alpenländischen Interessen. Hände in die Höhe wer da prinzipiell dagegen ist, oder wer glaubt, ich müsste jetzt so etwas Selbstverständliches wie Menschenrechte hier explizit erwähnen, um nicht missverstanden zu werden.
Also habe ich jetzt meinen Gipfel, meinen Ortler definiert. Dort will ich hinauf und erst jetzt bin ich bereit, über die Routenwahl nachzudenken. Wir sollen da aber gemeinsam hinauf. Warum sollte es nicht eine Seilschaft über die Nordwand probieren und die andere halt über den Hintergrat? Genial, wenn es Teamwork ist. Beschissen, wenn es zum Wettrennen wird. Selbstzerstörerisch, wenn alle wie Lemminge hinterherklettern. Chancenlos, wenn die beiden Teams sich obendrein mit Mörser und Granaten bekriegen, anstatt sich aufs Weiterklettern zu konzentrieren. Es gibt immer einen Dritten, den es freut!
In diesem Sinne sind die Worte der Freiheitlichen „Ein Freistaat darf nicht Sache einer einzigen Partei, sondern muss im Sinne aller Südtiroler sein.” Balsam auf den Wunden. Nur zu dumm, dass eben diese Freiheitlichen seit Jahren das Thema auf eine Weise für sich parteipolitisch zu instrumentalisieren versuchen, dass so mancher potentieller Freistaat-Sympathisant gar nicht anders kann, als sich dem Thema entnervt abzuwenden. Der Eva Klotz zollt man ihrer Integrität wegen wenigstens Respekt. Zu dumm, dass lobenswert engagierte und kluge Leute so etwas wie BBD überparteilich ins Leben rufen und es nicht verhindern können, einen Haufen verbaler Raufbolde um sich zu scharen, mit denen ich ganz bestimmt nicht in einer Seilschaft hängen möchte, und schließlich vor lauter gegenseitiger Beweihräucherung darauf vergessen, die ursprüngliche Idee weiterzuentwickeln und lieber immer wieder in ihren Schützengraben springen. Zu dumm, dass die Freistaatsdiskussion (nicht unbedingt die Idee an sich!) zur Zeit so geführt wird, dass sie 180° diametral zu meinem Ortlerziel steht: der zusammenhaltenden Alpenregion. Der Thematik hatte ich mich in meinem Der Freistaat von außen gesehen-Artikel bereits ausführlich gewidmet und bei all den lauten Kommentaren, keinen einzigen bekommen, der mich hoffen lässt, dass die angesprochene Kernproblematik auch nur irgendjemand einen weiteren Gedanken wert wäre. Bin ich doch von beiden Lagern nur zum Graben weiterer Schützengräben missbraucht worden.
Wie kommt die andere Seilschaft weiter, was meinen die Vollautonomiearchitekten? Laut Tageszeitung „‘Ich bin zwar auch für den Freistaat‘, sagt Karl Zeller, ‚aber erst dann, wenn die Freiheitlichen eine Lösung für das genannte Problem präsentiert haben.‘“ Jetzt bin ich platt. Hat der Zeller das wirklich so gesagt? Unser Vorzeigevollautonomiejurist würde innerlich lieber über den Hintergrat klettern, wartet aber bis ihm die Hobbyalpinisten ein Fixseil über die Schlüsselstelle gelegt haben? SVP, unser aller Sammel-Leuchtturm! Was hilft mir da noch ein jüngerer Leuchtturmwärter? Da fällt mir echt nichts Positives mehr dazu ein. Wenn ich dann noch an das grüne Onkel Staat Italien-„Konkrete Visionen“-Video anschaue, dann ergibt eins plus eins… ach rechnet Euch das selber aus! In diesem Kontext ist es eben auch schwierig, ein Vollautonomie-Sympathisant zu sein.
Und auch nachbarschaftlich sind die Vollautonomiestrategen nicht unproblematisch unterwegs. Ich finde es geradezu unverantwortlich, wenn Durnwalder den Belluneser Ladinern Hoffnungen macht, um sich dann hinter Roms Rockzipfel zu verstecken, ohne die Thematik mittels Diplomatie mit Bellunos, Trevisos und Venedigs Offiziellen zu bereinigen. Und außerdem, wie viel Autonomie kann man für Südtirol fordern, wenn einem scheißegal ist, dass Belluno, Tolmezzo, Asiago, Veltlin, Val Camonica usw. weiterhin dem Gefahren des Zentralstaates ungeschützt ausgesetzt sind? „Kein Geld für Euch, sorry!“ Muss Automiepolitik nicht einhergehend mit italienischer Föderalismuspolitik sein? Ist es weitsichtig, immer nur egoistisch das eigene Süppchen zu kochen? Ein klares: auch die Vollautonomisten verletzen das von mir angepeilte Ortlerziel. Ich bin mir ja nicht einmal im Klaren, welche Wertschätzung dem Trentino eingeräumt wird. Wenigstens der Verdacht der Opportunität bleibt auch in diese Richtung bestehen. Eine Opportunität, für die ich mich übrigens schäme.
Da hat mir schon eher die Martha Stocker gefallen, die sich trotz SVP-Verbundenheit zum Iatz der Schützen angemeldet hat. So wie man eben mit dem Funkgerät mit der anderen Seilschaft kommuniziert, dachte ich erst. Aber dann der Satz „il vento in futuro potrebbe anche cambiare“. Oh Frau! Wenigstens war dann der grüne Riccardo Della Sbarba so ehrlich, mich mit „cara svp, deciditi: autonomia o secessione? non è una bazzecola su cui si può scherzare, o orientarsi come gira il vento“ daran zu erinnern, dass die Seilschaften eben im Wettbewerb stehen, dass die ganze, zur Zeit geführte Freistaat-vs-Vollautonomie-Diskussion nichts als purster Wahlkampf ist und dass, leider, noch keine/r gesagt hat, ob das ehrenwerte Ziel denn der Ortler, oder nur der Virgl oder gar – gefühlterweise – der Sigmundskroner Kaiserberg ist.
So kann ich nur zum Schluss kommen, für den heurigen Wahlkampf dieses Thema komplett zu ignorieren und mein Kreuzchen dort zu machen, wo es meine gesellschaftspolitischen Wertvorstellungen eben für notwendig erachten. Will irgendeine Partei mich noch hinter dem Ofen zum Mitklettern hervorlocken, dann denkt an meinen Ortler. Aber, so wie es ausschaut, habt ihr alle verloren. Den Kaiserberg wähle ich nämlich nicht, egal ob über Nordwand oder Hintergrat bestiegen. Und spalten lassen wir Südtiroler uns wegen so etwas schon gar nicht!
lektüre
schön geschrieben, benno
es ist eine scheindiskussion,
es ist eine scheindiskussion, eine wahl zwischen zwei nicht-möglichkeiten, genauso könnte man diskutieren, ob wir lieber saturn oder pluto zuerst besiedeln sollen, es hat mit dem leben der menschen nicht das geringste zu tun, es wird kein leben auch nur irgendwie verändern, nur wenn das so ist, worüber sollte dann diskutiert werden? was sind jene politikfelder, bei denen es tatsächliche wahlmöglichkeiten gibt?
Auweia
Es ist sicher lieb gemeint mit dem Editor's Choice und ich fühle mich auch aufrichtig geehrt. Aber die guten Kommentare, die vorher wertvoll das Thema ergänzt hatten, hätte ich gerne wieder zurück. Auch danke ich für den sprachlichen Feinschliff, würde den Hintergrat aber nach wie vor lieber mit hartem T schreiben, bevor zuviele Grad Celsius den Gletscher noch weiter schmelzen lassen. Ob man das Konzept des Editor's Choice nicht überdenken sollte? So richtig angenehm ist es nicht, wenn einem der Text "massiert" wird und man die Editierechte verliert. Ich fühle micht fast ein wenig bestraft.
In risposta a Auweia di Benno Kusstatscher
Ja, fand es auch verwirrend
Ja, fand es auch verwirrend den Artikel nach 3 Tagen nochmal verändert und ohne Kommentare auftauchen zu sehen.
Ich kenne verschiedene
Ich kenne verschiedene Gradationen, es gibt Grad Celsius und Fahrenheit, Öchsle und die Klosterneuburger Gradation, aber ein Hintergrad war mir bisher nicht bekannt. Was mag der Autor damit wohl gemeint haben? Die Wortkombination mit "Nordwand" im Titel könnte darauf schließen lassen, dass er eine alpinistische Ausdrucksweise bemühen wollte. Das ist allerdings eine gefährliche Gratwanderung, bei der man aus Minimalaustrüstung einen Duden bei sich haben sollte.
Wie ich das hasse ! Harmuth,
Wie ich das hasse ! Harmuth, Du hast natürlich völlig recht. Siehe meinen Kommentar vom 19.Mai 2013. Der Artikel wurde ursprünglich mit 't' geposted, hatte sich beim Editor's Choice in ein peinliches 'd' verwandelt und wurde dann auf meinen Protest hin sofort wieder auf 't' zurückgeändert.
Seitdem geistern irgendwie zwei Threads zum selben Thema mit unterschiedlicher Rechtschreibung und - noch schlimmer - mit unterschiedlichen Kommentaren durchs Web. Der andere Beitrag ist hier
http://www.salto.bz/de/article/17052013/nordwand-oder-hintergrat
zu finden.
Wie immer blamiert sich nicht der Programmierer, sondern der Autor (der sonst allerhand Rechtschreibfehler macht, im konkreten Fall gar nichts dafür kann)