Stacheldraht
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Società | fritto misto

Stille um Moria

Nicht allzu weit entfernt von uns gehen Menschen gerade durch die Hölle. In Südtirol bleibt es dazu merkwürdig still.

Vor einigen Tagen habe ich es getan: Ich habe gehelikoptert. Mein Kind hatte seine Trinkflasche zuhause vergessen, und sofort taten sich vor meinem geistigen Auge die Qualen auf, die es deshalb vormittags in der Schule würde durchleiden müssen. Nach einem Becher zu fragen, dazu war sie zu schüchtern. Von der Pipp trinken war ziemlich sicher verboten (Corona!). Also würde sie schön langsam dehydrieren und schlussendlich einen Kreislaufkollaps erleiden; das war das Szenario, das sich mir in grausamer Nüchternheit auftat. Welche Wahl hatte ich, als mit der „Hello Kitty“-Flasche unterm Arm zur Schule zu marschieren, entschlossen und doch ein wenig peinlich berührt, weil ich nun tatsächlich selbst eine dieser Mütter war, über die ich immer die Nase gerümpft hatte: Glutschig, überemotional, hysterisch. Zum Glück traf ich im Pausenhof den Schuldiener an und musste das Schulgebäude nicht gewaltsam entern. Der nahm müde lächelnd die Flasche entgegen, sein Blick halb freundlich, halb seufzend. Ich stammelte etwas von wegen „ausnahmsweise“, „kommt sicher nicht mehr vor“, und er nickte, wie man halt nickt, wenn der Hardcore-Junkie verspricht, dass das jetzt der letzte Schuss war. Geat schun guat, sagte dieser Blick. Nächste Woch steahsch mitn Socktiachl do, wettmer?

Wieder zuhause machte ich das Radio an, und der Bozner sprach von Moria. Ich hörte von Menschen, die im Feuer alles verloren hatten. Von Kindern, die mit Tränengas beschossen wurden und jetzt auf dem nackten Asphalt schlafen müssen. Von ihren Eltern, die nicht mehr ein noch aus wissen vor Verzweiflung. Die ihre Familie nicht mehr schützen können, weil sie nichts mehr haben als das nackte Leben und ihnen nicht geholfen wird. Und ich denke an mich und diese blöde Trinkflasche und schäme mich einfach. Ich schäme mich, weil ich bereits in tilt gehe bei der Vorstellung, dass mein Kind mal ein paar Stunden lang ein bisschen Durst haben könnte, während gar nicht so weit weg von hier Eltern damit klarkommen sollen, dass sie nichts, aber auch gar nichts für ihre wirklich hungrigen, durstigen, kranken Kinder tun können. Weil ihr Wohlergehen vom Gutdünken anderer abhängt,  und diese anderen einfach wegschauen oder sich darum streiten, wer das jetzt übernehmen soll. „Eine europäische Lösung“. Die Ausrede für Untätigkeit. Wie wenn im Kondominium gestritten wird, wer für einen Schaden aufkommen soll. „Betrifft mi jo net“. „Hon i nix dovun.“ „I zohl lei, wenn olle mitzohlen.“ „Oida, i bin jo ka Trottl“ (ja, Österreich).

Moria existiert hierzulande schlichtweg nicht

Ich habe sehr darauf gewartet, dass die Landesregierung sich zu Wort meldet. Man gibt sich ja gern sozial. Und, Coronakrise hin oder her, wir sind nach wie vor ein wohlhabendes Land. Es wäre uns ein Leichtes, Menschen in Not, in blanker Not, zumindest vorläufig Unterschlupf zu gewähren. Es fiele uns kein Zacken aus der Krone, im Gegenteil. Deutsche Bürgermeister haben angeboten, Flüchtlinge aus Moria aufzunehmen. Innsbruck hat erklärt, Minderjährige aufnehmen zu wollen, ebenso Wien. In Südtirol blieb es merkwürdig still. Ganz so, als gäbe es Moria gar nicht. Wirft man sonst gern den Blick nach außen und gibt sich weltoffen, scheint die Landesregierung in den letzten Tagen die Scheuklappen angelegt und sich ganz aufs Provinzielle zurückgezogen zu haben. Zumindest habe ich, bis auf einige Appelle der Opposition, nicht mitgekriegt, dass man Moria auch nur zur Kenntnis genommen hätte. Sieht man sich etwa Kompatschers Facebook-Postings der vergangenen Woche an, dann erfährt man, dass die FF 40 geworden ist, dass Südtirol von Jannik Sinner begeistert ist, und dass die Mühlbacher Tertiarschwestern jetzt eine Baustelle haben. Moria: Fehlanzeige. Honi soit qui pense, dass es etwas mit den anstehenden Gemeinderatswahlen zu tun haben könnte. Will man nicht riskieren, potentielle Wähler*innen mit Barmherzigkeit zu verschrecken und den Rechtsparteien in die Arme zu treiben? Es gibt weder Stellungnahmen dazu, wie Südtirol aktiv werden könnte, noch dazu, wieso das eben nicht passieren kann. Moria existiert hierzulande schlichtweg nicht. Und auch die Kirche bleibt verdächtig still. Meldet sich der Bischof ansonsten gerne zu Wort, wenn es gilt, für Schwächere einzustehen, so scheint das, was auf Lesbos gerade an Unmenschlichem vor sich geht, total an ihm vorüberzugehen. Kein Pieps kommt da vom Domplatz. Sendepause.

Ich weiß nur, dass wir uns schuldig machen, wenn wir nichts tun

Umso lauter sind die Wutschreier in den sozialen Medien: „Selber schuld! Wieso bleiben sie nicht in ihrem Land? Die haben ja selbst alles angezündet! Wer kriegt denn auch Kinder in Moria? Wer nimmt denn auch Kinder auf die Flucht mit? Wenn wir die aufnehmen, dann kommen gleich die nächsten! Und dann bauen sie hier Moscheen, nehmen uns die Arbeit, nehmen uns die Frauen weg! Sagen, sie sind minderjährig, dabei sind’s volljährige Terroristen! Hilfe okay, aber Hilfe vor Ort! Schauen wir auf unsere Leit, unsere Leit sind wichtiger!“.  Die Wutschreier sind meist männlich und mittelalt, und anfangs möchte man sie schütteln, aber dann merkt man, dass die einfach nur Angst haben. Angst um ihre Existenzen, die vielleicht auch nicht immer ganz einfach sind. Angst, um ihre Lebensentwürfe, die ihrer Meinung nach wanken könnten, wenn da ein paar Flüchtlinge ins Land kommen. Ich kann nicht garantieren, dass alle von den letzteren eine weiße Weste haben. Genauso wenig, wie ich das von „unseren“ Leuten garantieren kann. Ich weiß nur, dass wir uns schuldig machen, wenn wir nichts tun. Das ist sicher. Dass die Aufnahme einer überschaubaren Anzahl von Notleidenden unser aller Leben negativ beeinflussen wird, ist hingegen eher unwahrscheinlich. Das erledigen Corona, Klimawandel und die Zunahme psychischer Erkrankungen zuverlässiger.

Ich schäme mich, während gar nicht so weit weg von hier Eltern damit klarkommen sollen, dass sie nichts, aber auch gar nichts für ihre wirklich hungrigen, durstigen, kranken Kinder tun können

Nächstenliebe kennt halt nunmal keine Bedingungen. Wenn Sie auf der Straße einen Verletzten finden, lassen Sie ihn liegen? Fragen Sie, wieso er da liegt, bevor Sie helfen? Ob er vielleicht selbst dran schuld ist, dass er da liegt? Ob er ein Dosiger ist oder doch ein Auswärtiger? Was für Sie rausspringt, wenn Sie ihm helfen? Oder ob er garantieren kann, dass da nicht morgen wieder einer liegt, dem Sie helfen müssen? Wären Sie an seiner Stelle, fänden Sie es okay, diese Fragen gestellt zu bekommen, bevor man sich um Sie kümmert? Falls man sich überhaupt um Sie kümmert?

Kommende Woche sind die Gemeinderatswahlen gelaufen. Ich hoffe stark, dass „unsere Leit“ am Schalthebel dann den Mut finden, Moria zum Thema zu machen.

 

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Karl Trojer Sab, 09/19/2020 - 10:38

Geschätzte Frau Kienzl, vielen Dank für diesen Weckruf ! Ja, es ist zu schämen wie wir Europäer mit dem Elend, der himmelschreienden Not dieser Menschen umgehen. Regierungen schieben einander die Verantwortung zu und spielen damit auf Zeit; Städte bieten Aufnahmen an und Innenminister versperren selbst dafür die Grenzen.... Als Einzelpersonen können wir aber zumindest den hier bereits angekommenen Flüchtlingen helfen, indem wir auf sie zugehen, ihnen Hilfe bei bürokratischen Angelegenheiten, bei Wohnungs- bzw. bei Arbeitsplatzsuche anbieten.

Sab, 09/19/2020 - 10:38 Collegamento permanente
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Jäger Bauer Sab, 09/19/2020 - 12:40

Moria... ja und? Wer jetzt erst aufwacht, hat lange geschlafen. Seit Jahren stirbt alle 5 SEKUNDEN ein Kind an Hunger auf dieser unserer Welt. Hoffentlich haben Sie beim letzten vergessen Pausebrot daran gedacht, bevor Sie sich "glutschig, überemotional, hysterisch" zur Schule begeben haben.

Sab, 09/19/2020 - 12:40 Collegamento permanente
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gorgias Sab, 09/19/2020 - 14:53

In risposta a di Elisabeth Garber

Ich kenne gleich zwei Geheimsprachen. Die eine heißt Sarkasmus (siehe Lollo Rosso 19.09.2020, 12:53 ) und die andere Ironie (siehe diesen Kommentar?). Natürlich ist das nichts für Sie. Weil alles was nicht wörtlich gemeint ist eine Perversion ist.

Heute sind Sie aber wirklich in Form, sogar für Ihre Verhältnisse. (ob das nun wörtlich oder "pervers" gemeint ist, möchte ich an dieser Stelle offen lassen)

Sab, 09/19/2020 - 14:53 Collegamento permanente