„Wir schlafen nicht mehr ein“
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Das Thrive+ Festival vor drei Wochen begann wie jede andere Konferenz. Am Eingang wurde die Goodie Bag mit Zeitschriften und Keksen übergeben, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer setzten sich in den großen Saal des NOBIS in Bruneck. Doch als das Licht ausging und Menschen im Dunkeln laut und klar zu sprechen anfingen, fühlte sich der Moment plötzlich größer an als noch wenige Minuten zuvor.
Anstatt über bekannte Statistiken zum Gender Pay Gap zu sprechen, wurden hier Worte zu Erzählungen geformt, die so viele von uns kennen. Erzählungen aus einem Alltag mit Diskriminierung und Entbehrung. Die Spoken Word Performance mit sieben Kunstschaffenden und dem Wiener Schmusechor hat damit einen Raum geöffnet, wo Unsagbares gesagt werden kann.
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„Für mich ist Poesie häufig die Möglichkeit, das auszudrücken, was sich sonst so unaussprechlich anfühlt – pure Emotion“, erklärt Ines Visintainer, die selbst für die Performance auf der Bühne stand. „Das Gefühl von Wut über Ungerechtigkeit in Worte zu fassen, war eine ebenso herausfordernde wie befreiende Erfahrung.“
Iris Omari Ansong / Alba Jona Becker
Bist du in Kontakt mit deinen Gefühlen und Gedanken?
Bist du in Verbindung mit deinen Träumen, mit der Welt in der du leben möchtest?
Unsere Wut beschützt
Unsere Wut ist revolutionär
Unsere Wut befreit
Unsere Wut ist Ausdauer!
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Nora Dejaco, Initiatorin des Thrive+ Festivals und Regisseurin der Performance, erklärt: „Wir wollten, Menschen unterschiedlicher Identitäten, ihre Perspektiven, ihre Lebensrealität auf eindringliche Weise dem Publikum nahebringen – aber auch Hoffnung und Mut, die wir brauchen um daran glauben zu können, dass das Verbindende in uns immer stärker sein wird als das Entzweiende. Wenn wir es wollen“, sagt Dejaco.
„Kunst an eine erste Stelle im Konferenzprogramm zu setzen, ist mutig und stark, denn sie spricht Sinne und Emotionen an“, erklärt Jasemin Khaleli, die als Performende dabei war. „Emotionen sind zentral, wenn wir uns für gerechtere Zukunftsentwürfe einsetzen wollen, weil sie sensibilisieren, Gemeinschaftsgefühl schaffen und Motivationsquelle sein können.“
In ihrem Konzept war die Performance so angelegt, dass nicht alle Sprechenden auch geschrieben haben und umgekehrt Schreibende auch nicht nur ihre Texte performen. Die Collage zeige damit, dass manche gesellschaftliche Erfahrungen oder Herkunftsbiographien in bestimmten Punkten sehr ähnlich sind. „Erfahrungen werden plötzlich entindividualisiert, das hat viel mit Solidarität und struktureller Kritik zu tun“, erklärt Khaleli.
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Yasmo
Jetzt stell dir vor, sie haben mal gesagt, dass ich nicht zum Fußball gehen soll, weil man das als Mädchen nicht macht.
Stell dir vor, sie haben mir gesagt, dass ich meine Beine breit machen müsste, wenn ich in bestimmten Branchen arbeiten wollen würde, da war ich acht.
Stell dir vor, sie haben mir mit 12 gesagt, dass mir die überweite Kleidung nicht passt.
Stell dir vor – sie haben gelogen.
„Unsere Texte im Kollektiv in einer wortgewaltigen Inszenierung mit Choreografie, Sound und Lichteffekten auf die Bühne zu bringen, war zutiefst bewegend – ein Moment, in dem Sprache, Menschen und Gefühle zu einer starken, gemeinsamen Botschaft verschmolzen“, sagt Visintainer. In ihrem Text spricht sie über das Thema Role Overload – die Mehrfachbelastung der Frau zwischen Care-Arbeit, Beruf und mentaler Last.
Ines Visintainer
Ich atme
4 Sekunden ein,
8 Sekunden aus.
Ich bin der Menschheit innre Uhr’,
Zähl’ die fehlend’ Stunden nurMan zieht mich auf, Man stellt mich ein,
Verlässt sich auf
Mein Tun und Sein;Ich soll richtig ticken,
Suche Vergebens
Nach mir selbst,
In einer zeitbestimmten Welt. -
In einer zeitbestimmten Welt, in der zeitgleich so unterschiedliche Realitäten zwischen Arm und Reich oder Jung und Alt gelebt werden, laufen wir Gefahr, ein gemeinsames Verständnis eben dieser Welt zu verlieren. „In unserem Text haben wir die Frage behandelt, inwieweit ich mit meinen Werten in einer Diskussion alleine dastehe. Schließlich könnte eine kontroverse Meinung beispielsweise den eigenen Job kosten“, erklärt Alba Jona Becker, die mit Iris Omari Ansong einen Text für die Performance ausgearbeitet hat und ebenfalls auf der Bühne stand. Angesichts von Rechtsruck und Polarisierung sei es wichtig, den Austausch mit Menschen zu suchen, die nicht der eigenen Meinung sind. „Systeme, auch zwischen Menschen, kritisch zu hinterfragen, dranzubleiben – und dabei achtsam im Umgang miteinander zu bleiben, ist eine große Aufgabe für uns alle.”
Die Performance in Bruneck endet mit einem Lied des Wiener Schmusechors. Es wird das Programm der Konferenz vorgestellt, Workshops über Inklusion und Diversität, ein Kinderprogramm, Yoga und Spazieren im Freien werden angeboten. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer stehen nach der Performance auf, verlassen den Saal, holen sich Kaffee und suchen nach dem richtigen Raum für den Workshop, bei dem sie sich angemeldet haben. Und vielleicht suchen sie auch eine Antwort auf die Frage, welche Erzählung sie selbst in sich tragen.
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Spoken Word Performance basierend auf Texten von Eeva Aichner, Iris Omari Ansong, Alba Becker, Lene Morgenstern, Ines Visintainer, Yasmo – Text-Collage zusammengestelllt von Nora Dejaco;
Performende: Gisa Fellerer, Alba Jona Becker, Maria Craffonara, Iris Omari Ansong, Jasemin Khaleli, Lene Morgenstern, Ines Visintainer, Yasmo, Schmusechor;
Regie und Dramaturgie: Nora Dejaco, Gisa Fellerer, Nadia Heiss;
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