Cultura | Nachgerufen

Ahnung von Gegenwart

Am Brenner hat er vor Jahren dem Tod seines leiblichen Vaters nachgespürt. Nun ist er selbst verstorben. Aufgezeichnete Erinnerungen an den großen Erzähler Martin Pollack
Martin Pollack
Foto: SALTO
  • „Eine Familiengeschichte kann man nicht ablegen wie einen Mantel an der Garderobe,“ meinte Martin Pollack zu seinem Buch Der Tote im Bunker, 2011, auf der Buchmesse in Leipzig, nachdem ihm für sein publizistisches Schaffen der Europäische Buchpreis verliehen wurde. Das wenige Jahre vorher erschienene Buch ist eine Spurensuche nach seinem Vater und führt mitunter in einen Bunker am Brenner, in welchem sein leiblicher Vater, der ehemalige SS-Sturmbannführer und Gestapo-Chef Dr. Gerhard Bast, sein tragisches Ende fand. Zehn Jahre lang hatte Pollack akribisch nach Hinweisen zum toten Vater im Bunker gesucht. Bast hielt sich nach 1945 auf seiner Flucht in Südtirol auf, hatte einen Ausweis mit falschem Namen und gab sich als Knecht und Holzfäller aus. Im März 1947 wollte er zurück nach Österreich, um in Innsbruck Pollacks Mutter zu treffen. Dafür heuerte er als Schmuggler einen Hilfsarbeiter aus Brennerbad an, der ihn über die damals gut bewachte Grenze bringen sollte. Kurz vor dem Brennerpass zog der Mann eine Pistole und gab drei Schüsse ab. Seine Beute waren 3000 Lire, 20 Schilling, eine Uhr und ein goldener Ring. Der Täter konnte vier Wochen später gefasst, angeklagt und 1949 wegen Mordes und Raubes zu 30 Jahren verurteilt werden.
     

    Der genaue Kenner der ostmitteleuropäischen Welt wird als großer „Erinnerungsarbeiter“  im europäischen Kulturgedächtnis verankert bleiben.

  • Beim "Vater"-Bunker am Brenner: Pollack wurde 1944 in Bad Hall, Oberösterreich, geboren. Er studierte Slawistik und osteuropäische Geschichte. Bis 1998 Korrespondent des „Spiegel“ in Wien und Warschau. Autor zahlreicher Publikationen. Und unter anderem Übersetzer von Ryszard Kapuściński ins Deutsche. Am vergangenen Freitag erlag er im Alter von 80 Jahren einem langjährigen Krebsleiden. Foto: Michael Meraner

    „Ich sammle alte Fotos und lasse mich sehr gern von historischen Fotos inspirieren. Da entstehen Geschichten!“ Gekonnt bringt Pollack in seinen Büchern Dokumente und Fotos zum Sprechen. Sein Schreiben ist eine erzählende Mischform aus Historie und Literatur. „Ich bin selbst Historiker, gehe aber beim Schreiben ganz bewusst so vor, dass ich nicht alles genau darstelle“, präzisierte er einmal. Alte Zeitungen zählten, neben unzähligen Archivdokumenten, zu Pollacks beliebtesten Quellen. „Man findet insbesondere in Lokalzeitungen Unglaubliches, das sind kleine Geschichten mit genauen Namen und einer penibel genauen Schilderung eines Vorfalls.“ 
    In Kaiser von Amerika beschreibt Pollack die Auswanderung aus Galizien im 19. Jahrhundert, erzählt über beklemmende Parallelen zum Schlepperwesen, dem Frauenhandel oder der Zwangsprostitution. Wichtig war ihm, „dass es mit der Story immer wieder Bezüge zur Gegenwart gibt, dass sozusagen die Gegenwart durch die Vergangenheit durchschimmert, oder anders gesagt, dass wir in der Vergangenheit bereits eine Ahnung der Gegenwart spüren.“ 

  • Übersetzung ins Italienische: Zahlreiche Bücher von Martin Pollack sind bei "Keller editore" erschienen. Foto: Keller editore

    „Un grande scrittore, cui si devono alcuni dei più originali e vivi libri sulla Mitteleuropa, scava nelle incantevoli bellezze dei paesaggi e ne scopre le cicatrici e le ferite nascoste, riporta alla superficie e alla coscienza le tante vittime della violenza della Storia, vittime senza nome sepolte nell’oblio. Porta alla luce il dolore, l’ingiustizia e la colpa che sempre si è cercato di nascondere. Una grande letteratura che è ricerca, pietas, memoria ritrovata, atto d’accusa e giorno del Giudizio”, meinte der europäische Literaturpapst Claudio Magris einmal über Pollack. Diese feinen Worte sorgen am italienischen Buchmarkt mitunter dafür, dass ein halbes Dutzend seiner Bücher auch in der italienischen Übersetzung vorliegen und Pollack somit auch in Italien verbreitet gelesen wird. Verlegt werden seine Bücher von Keller editore in Rovereto. Auch Pollack selbst hat viel übersetzt, beispielsweise sämtliche Werke des polnischen Autors Ryszard Kapuściński. In Südtirol besuchte er nicht nur den Bunker, wo sein Vater tot aufgefunden wurde, er war auch immer wieder Gast für Buchvorstellungen vom Brenner über Bozen bis Lana. 
    Der genaue Kenner der ostmitteleuropäischen Welt wird als großer „Erinnerungsarbeiter“  im europäischen Kulturgedächtnis verankert bleiben. Der österreichische Historiker und Literaturwissenschaftler Gerhard Zeillinger fügt der Trauer um Pollacks Ableben im österreichischen Standard eine politische Note hinzu, wenn er seinen Nachruf mit den folgenden Zeilen enden lässt: „Dass sein Tod mit einer möglichen neuen Regierungsbeteiligung der FPÖ und damit dem drohenden Ende der liberalen Demokratie in Österreich zusammenfällt, ist so traurig wie bitter. Gerade jetzt bräuchten wir seine Stimme dringender denn je.“ 
    Auch wenn der 1944 in Bad Hall geborene Martin Pollack seit vergangenem Freitag nicht mehr da ist, seine vielen Erinnerungsgeschichten werden bleiben. Und an ihn (mit)erinnern.