Ambiente | welche zukunft?

Mittelweg statt Mittel weg

Null Pestizide ist keine Lösung, sagt der Agrarwissenschaftler Alexander Pfaff. Er plädiert für eine ernst gemeinte Debatte und Mut zu Innovation in der Landwirtschaft.
Rapsanbau
Foto: Pixabay

“Definitiv, Pflanzenschutzmittel sind in den meisten Fällen keine harmlosen Substanzen und setzen einen verantwortungsvollen Umgang voraus.” Doch allein seine Wortwahl zeigt die differenzierte Herangehensweise von Alexander Pfaff: Der Agrarwissenschaftler aus Hessen spricht von “Pflanzenschutzmitteln”, nicht von “Pestiziden” oder “Giften” – zwei Begriffe, die sich im Titel einer Publikation wiederfinden, die vorige Woche in Deutschland vorgestellt wurde. Und die neben breitem Medienecho auch Kritik und Empörung ausgelöst hat: der “Pestizidatlas 2022”. Die Zielsetzung der Verfasser ist klar. Hinter dem Pestizidatlas stehen die den Grünen nahe Heinrich-Böll-Stiftung, der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland BUND und der deutsche Ableger des Pestizid-Aktionsnetzwerks PAN. Die drei Organisationen wollen mit “Daten und Fakten zu Giften in der Landwirtschaft”, so der Untertitel des Pestizidatlas, die mannigfaltigen negativen Auswirkungen von Pflanzenschutzmitteln aufzeigen und stellen konkrete Forderungen an die Politik. Damit lösen sie breites Medienecho aus – genauso wie Empörung. Der Industrieverband Agrar spricht von “teils fragwürdigen Zahlenspielen” im Pestizidatlas. Man wirft den Autoren eine “Kampagne gegen den Pflanzenschutz” vor.

Nach der Präsentation des Pestizidatlas zeigt sich ein Bild, das in Südtirol nur allzu gut bekannt ist: festgefahrene Positionen und verhärtete Fronten, die insbesondere zwischen Verfechtern der konventionellen Landwirtschaft und jenen verlaufen, die im Bio-Anbau die einzige Alternative für ein nachhaltiges Agrarsystem sehen. “Diesen Dualismus kennen wir in Deutschland zur Genüge”, bestätigt Alexander Pfaff. Der Forscher blickt selbst mit einiger Skepsis auf den jüngsten Pestizidatlas. Allerdings begnügt er sich nicht damit. Neben fachlichen Beanstandungen bringt er Vorschläge vor, wie Konflikte, die sich rund um Pflanzenschutzmittel abspielen, abseits von oft ideologisierten und emotionalisierten Diskussionen – man denke an den “Malser Weg” und “Pestizidtirol” – angegangen und gelöst werden könnten. Und macht sich zugleich für “den nachhaltigsten Mittelweg” stark.

 

Nachschlag- und -denkwerk

 

Der Pestizidatlas ist heuer zum ersten Mal erschienen (hier die pdf-Datei zum Download). In 19 Kapiteln werden Entwicklungen, Zusammenhänge und Folgen des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln auf Natur, Mensch und Tier in Deutschland und der Welt aufgezeigt. Einige zentrale Stellen:

  • der Einsatz von Pestiziden ist zwischen 1990 und 2017 weltweit um 80 % gestiegen, vor allem in Südamerika (+143,5 % zwischen 1999 und 2019)
  • aktuell werden global ca. 4 Millionen Tonnen Pestizide im Jahr ausgebracht
  • in Europa enthalten 93 % der Gemüse- und Obstproben Rückstände von 226 Wirkstoffen
  • jährlich sind 385 Millionen Menschen auf der ganzen Welt von Vergiftungen durch Pestizide betroffen
  • darüber hinaus wirkt sich der Einsatz von Pestiziden in eklatantem Ausmaß negativ auf die Biodiversität und Gewässer aus
  • auf der anderen Seite wächst der internationale Pestizidmarkt, der immer mehr von immer weniger, großen Unternehmen dominiert wird

“Der Verlust der Artenvielfalt weltweit, aber auch in Deutschland ist dramatisch und kann nur gestoppt werden, wenn der Einsatz von Ackergiften deutlich reduziert wird”, sagte der BUND-Vorsitzende Olaf Bandt bei der Vorstellung des Pestizidatlas am 12. Jänner. Gemeinsam mit Heinrich-Böll-Sttiftung und PAN Germany fordert der BUND von der deutschen Bundesregierung, eine “Pestizidwende” einzuleiten. Darunter ein Exportverbot von Pestiziden, die in Europa verboten sind, in Länder mit niedrigeren Umweltstandards.

 

Nicht nur Lob

 

Volle Zustimmung für die Arbeit hinter und die Forderungen im Pestizidatlas kommt von Umweltschützern und Bündnis 90/Die Grünen. Die Grünen stellen in der Ampel-Koalition mit SPD und FDP sowohl den Landwirtschaftsminister (Cem Özdemir) als auch die Umweltministerin (Steffi Lemke) und besetzen damit Schlüsselpositionen. Die Grünen Bundestagsfraktion sichert vollen Einsatz zu, um “umweltfreundliche Alternativen zu chemisch-synthetischen Pestiziden zu unterstützen und den Nationalen Aktionsplan Pestizide zu einem echten Reduktionsprogramm weiterzuentwickeln”. Unterzeichnet haben das Statement die langjährige Grüne Umweltpolitikerin und Ex-Bundesministerin Renate Künast sowie Karl Bär. Der ehemalige Agrarreferent am Umweltinstitut München wurde bei den Bundestagswahlen vergangenen September für die Grünen ins deutsche Parlament gewählt. Der “Pestizid-Prozess”, den Landesrat Arnold Schuler, die Südtiroler Obstwirtschaft und über 1.300 hiesige Apfelbauern wegen der “Pestizidtirol”-Kampagne im Sommer 2017 gegen Bär angestrengt haben, läuft indes am Bozner Landesgericht weiter – weil ein einziger Landwirt, anders als die restlichen Kläger, seine Anzeige nicht zurückgezogen hat.

 

Dass der Pestizidatlas nicht nur Lob erfährt, war zu erwarten. Noch am Tag der Veröffentlichung des 54-seitigen Werks geht der Industrieverband Agrar IVA mit einer gesalzenen Stellungnahme an die Öffentlichkeit. Darin heißt es: “Statt, wie versprochen, neue Daten und Fakten zur aktuellen Entwicklung zu präsentieren, fallen die Autoren des Reports zurück in Kampagnen-Reflexe und konstruieren aus altbekannten Vorwürfen und teils fragwürdigen Zahlenspielen ein Zerrbild des Pflanzenschutzes in der Landwirtschaft.” Als Beispiel zieht der IVA die Zahl von 385 Millionen Menschen heran, die laut Pestizidatlas jährlich eine Pestizidvergiftung erleiden. “Statistisch würde also weltweit etwa jeder 20. Mensch einmal im Jahr erkranken – wie kommt es zu dieser unglaublichen Zahl? Basis dafür ist eine einzige Schätzung, die bezeichnenderweise von PAN-Aktivisten selbst erstellt und von keiner wissenschaftlichen Fachinstitution geprüft wurde.” Insgesamt weise die Publikation “zahlreiche Unstimmigkeiten, Unsauberkeiten und methodische Mängel” auf, befindet die IVA.

 

Der Wunsch nach Sauberkeit und Transparenz

 

Zu einem ähnlichen Schluss ist Alexander Pfaff gekommen. Er stammt aus Hessen und hat in Göttingen Agrarwissenschaften und Crop Protection studiert. Im Gespräch mit salto.bz legt Pfaff Wert darauf, vorauszuschicken, dass er dieses als Forscher führt und nicht stellvertretend für seine Arbeitgeber spricht. Ab 2016 war er für das Julius Kühn Institut tätig, aktuell arbeitet Pfaff am Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit in der Abteilung Pflanzenschutz. Nebenei stellt er seine Dissertation fertig, in der er sich unter anderem mit Methoden beschäftigt, wie die Tomatenrostmilbe ohne Pflanzenschutzmittel bekämpft werden kann.

Seine erste Reaktion nach Lektüre des Pestizidatlas sei gewesen: “Wenn man, wie ich, wissenschaftliche Maßstäbe anlegt, muss man sagen: Da wurde an vielen Stellen sehr unsauber gearbeitet”, gesteht Pfaff. Derselben Auffassung ist seine Fachkollegin Kathrin Grahmann. In einem aktuellen SPIEGEL-Online-Interview erklärt die Agrarforscherin am Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung, warum sie “die zentrale Kennzahl in dem Bericht irreführend” findet. “Dort geht es um die Wirkstoffmengen, also die Menge aktiver Wirkstoffe in Tonnen, wobei es sich eigentlich um die Absatz- bzw. Verkaufsmengen handelt. Wie viel davon tatsächlich verwendet wurde, wissen wir nicht.” Grahmann und Pfaff sind sich zudem einig: Diese Zahl gibt weder Aufschluss über die tatsächlichen oder möglichen Umweltauswirkungen noch über die Risiken der Mittel. Pfaff veranschaulicht seine Kritik anhand eines Beispiels, das er auch auf Twitter teilt:

Im Pestizidatlas sei verabsäumt worden, die Risiken und Umweltauswirkungen der angeführten Wirkstoffmengen zu quantifizieren – obwohl an einer Stelle sogar ein Ansatz dafür genannt werde, bemängelt Pfaff. Er nennt eine weitere Stelle, die er kritisch betrachtet: “Beim Anstieg der verkauften Wirkstoffmengen wird außer Acht gelassen, wie viele Ackerflächen seit dem Referenzjahr 1990 hinzugekommen sind, schon allein deshalb, weil es mehr Menschen gibt, die Nahrung brauchen. Es landen heute also nicht, wie der Pestizidatlas suggeriert, zwangsläufig viel größere Wirkstoffmengen auf den bestehenden Äckern, sondern es wird einfach auf deutlich mehr Fläche Ackerbau betrieben.”

Obwohl er sich gewünscht hätte, dass die Wissenschaft von vornherein mehr in die Erstellung des Pestizidatlas eingebunden und “etwas gründlicher recherchiert” worden wäre, kann Alexander Pfaff der Publikation einiges abgewinnen. Grundsätzlich – “es ist ja die Aufgabe der Umweltbewegung und -organisationen, Diskussionen anzustoßen, ohne sie wären wir heute beim Verbraucher- und Umweltschutz wohl nicht so weit, wie wir sind” – und inhaltlich. Unter anderem teilt er die im Pestizidatlas geäußerte Kritik an der Datenlage zu den tatsächlich ausgebrachten Pflanzenschutzmengen. “Diese Daten stehen nicht umfänglich für die Forschung zur Verfügung. Dabei könnten sie zu einem detaillierteren Bild beitragen, wie sich Pflanzenschutzmittel in unserer Umwelt verhalten.” Sein Vorschlag: Die Daten aus dem Spritzbuch, in dem deutsche Landwirte genauso wie ihre Südtiroler Berufskollegen jede Anwendung von Pflanzenschutzmitteln dokumentieren müssen, digital und zentral sammeln und anonymisiert der Forschung bereitstellen.

 

Weniger ja – aber wie?

 

Dass der Einsatz von chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmitteln in der Landwirtschaft reduziert werden muss, ist mittlerweile common sense. Nur die Frage Wie? bleibe allzu oft unbeantwortet, sagt Pfaff. Dabei gebe es an einigen Stellen noch ungenutztes Potential – Stichwort: Verunkrautung. “Unkräuter unterscheiden sich sehr deutlich darin, wie stark sie mit der ‘gewünschten’ Kulturpflanze um Nährstoffe und Licht konkurrieren”, erklärt Pfaff und verweist auf ein Positionspapier des Fachbeirates “Nachhaltiger Pflanzenbau” des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit mit dem Titel: “Mehr Verunkrautung wagen”.
“Unkräuter, die kaum Konkurrenz darstellen und gleichzeitig einen hohen Wert für nützliche Insekten haben, könnten ohne signifikante Ertragsverluste bis zu einem gewissen Maß toleriert werden”, so Pfaff.

 

Er erinnert, wozu Pflanzenschutzmittel eigentlich da sind: “Ihre wichtigste Funktion ist, Ertragsverluste zu verhindern und für eine gewisse Ertragssicherheit zu sorgen.” Einfach ganz darauf zu verzichten und in der Breite auf umstellen, greift dem Agrarwissenschaftler hingegen zu kurz. “Fakt ist, dass jede Form der Landwirtschaft in unterschiedlicher Intensität externe Kosten verursacht, sprich, negative Auswirkungen auf die Umwelt hat”, stellt der Agrarwissenschaftler klar. Bio-Anbau braucht dabei mehr Fläche, um dieselben Erntemengen zu erzeugen wie im konventionellen Anbau. “Mit einem angepassten Pflanzenschutzmittel zum richtigen Zeitpunkt kann ich Schäden an den Pflanzen vermeiden. Somit benötige ich deutlich weniger Fläche, um die gleiche Menge zu ernten.” Als Beispiel nennt Pfaff den Raps. “Der Anbau von Ökoraps in Deutschland macht gerade etwa 0,5 % der Gesamtanbaufläche aus. Hauptgrund dafür ist die Ertragsunsicherheit und die im Schnitt deutlich geringeren Erträge, bedingt durch Schadorganismen, die ohne Pflanzenschutzmittel schwer zu kontrollieren sind.”

Hier wird einer der vielen landwirtschaftlichen Zielkonflikte deutlich: Mehr Fläche beanspruchen und dafür weniger intensiv bewirtschaften oder intensiv bewirtschaften und mehr Fläche für unberührte Ökosysteme bewahren? “Ohne Pflanzenschutzmittel würde ich ca. 30 % weniger ernten und bräuchte ca. 43 % mehr Fläche, um die gleiche Menge zu erzeugen”, rechnete Peter Breunig jüngst vor. Er lehrt als Professor für Marketing und Marktlehre an der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf und ist wie Alexander Pfaff Mitglied des Öko-Progressiven Netzwerks, das die Plattform “Progressive Agrarwende” betreibt. Dieses hat sich zum Ziel gesetzt, “das dualistische Lagerdenken in Bio gegen konventionell zu überwinden”, erklärt Pfaff, “und Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen, wie die Agrarwende hin zu einer sozial und ökologisch nachhaltigen Landwirtschaft mit dem neuesten Stand von Wissenschaft und Technik gelingen kann”.

 

Weg mit der rosa Brille

 

Wie sieht ein nachhaltiges, also ökologisch, ökonomisch und sozial sinnvolles bzw. verträgliches Agrarsystem aus? Und kann ein solches in jedem Land der Welt gleich funktionieren? “Ich würde sogar so weit gehen und sagen, zu Ende gedacht kann es nur in allen Ländern der Welt gleichzeitig funktionieren”, steht für Alexander Pfaff fest. Doch die Voraussetzungen fehlen. “Hier in der EU haben wir im internationalen Vergleich sicherlich mit die höchsten Umweltstandards. Gleichzeitig werden die Preise für Agrarrohstoffe in der Regel auf internationalen Märkten gebildet. Unsere hiesigen Landwirte sind also oft einem hohen Preisdruck ausgesetzt. Nationale Extensivierung der landwirtschaftlichen Produktion hätte sicher deutlich positive Auswirkungen auf die hiesige Biodiversität. Dies geht aber auf Kosten des Ertrages und damit sind wir wieder in einer Situation, in der wir mehr importieren müssen, auch aus Ländern mit geringeren Umweltstandards. Oft hört man an dieser Stelle dann das Scheinargument ‘Ach das macht überhaupt nichts, wir müssen weniger Lebensmittel wegwerfen und weniger Fleisch essen, dann kommen wir auch mit flächendeckendem extensiven Anbau aus.’ Leider ist das nur die halbe Wahrheit, sowohl beim Fleischkonsum als auch bei der Lebensmittelverschwendung tut sich nämlich seit Jahren zu meinem Bedauern fast gar nichts. Die Antwort auf die Frage, wie das erreicht werden soll, bleibt hierbei grundsätzlich immer aus. Peter Breunig hat dies kürzlich sinngemäß gut zusammengefasst: Wenn wir nur noch große SUV zulassen und dies damit rechtfertigen, dass alle einfach deutlich weniger fahren und es sich deshalb nicht negativ auf die CO2-Bilanz auswirken wird, ist das zu kurz gedacht. Es wird nicht funktionieren.”

Was es brauche, seien regional angepasste Maßnahmen und den Mut der Politik, den Agrarsektor sowohl für den Erhalt und die Förderung der Biodiversität als auch für Verluste aufgrund von extensivem Anbau finanziell zu unterstützen. “Landwirtinnen und Landwirte haben die gesellschaftliche Aufgabe, hochwertige Lebensmittel in ausreichender Menge zu produzieren. Zugleich wird von ihnen die Pflege und Hege der Natur mit erwartet. Dafür brauchen sie ein Mandat und Entlohnung.” Große Chancen für ein nachhaltiges Agrarsystem, das auch mit weniger Pflanzenschutzmitteln auskommt, sieht Pfaff in der Digitalisierung – diese könne dazu beitragen, Pflanzenschutzmittel “wesentlich effizienter und nur dort, wo wirklich benötigt, einzusetzen” – und neuen gentechnischen Züchtungsmethoden, die resistentere und effizientere Pflanzen hervorbringen würde. “Leider wird dieser Fortschritt oft kritisch gesehen”, bedauert der Wissenschaftler. Manchmal wirke es so, “als würden jegliche Innovationen abgelehnt, wenn sie nicht einer bestimmten romantischen Idee von Landwirtschaft entsprechen”.

Um eine tatsächliche Veränderung des Status Quo in der Landwirtschaft herbeizuführen – dass es eine solche braucht, ist wohl unumstritten –, plädiert Pfaff für einen offenen, kritischen und durchaus auch kontroversen Dialog. Dem dürfe sich keiner der Player, weder Umweltverbände, Wissenschaft oder Wirtschaft verschließen. Und an die Politik, sich “ein breites Feld an Meinungen einzuholen bevor Entscheidungen getroffen werden”. “So lange das geschieht, bin ich optimistisch.”