Mimì, es ist kalt draußen
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Nach der Premiere ist die Vorstellung am Dienstag die einzige, welche die Stiftung Haydn auf das Programm gesetzt hat, wohl auch da Oper immer mit großem Aufwand verbunden ist. Sechs plus fünf (in kleineren Nebenrollen) Operndarsteller:innen, zwei Chöre (der Kinderchor der Musikschule „A. Vivaldi“ - Leitung Anita Degano - und das Ensemble Vokale Continuum - Leitung Luigi Azzolini) sind allein im Rampenlicht der Neuinzenierung aktiv, sowie das Orchester Haydn an dessen Rande und mehr als 40 Personen, die nur durch ihre Arbeit in Erscheinung treten. Der Anspruch ist klar: „La Boheme“ ist große Oper und hierin wird niemand widersprechen können.
Nach dem Libretto von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica stehen zwei Stunden Oper (zweieinhalb wenn man die Pause mitrechnet) auf dem Programm, in denen unter der musikalischen Leitung Timothy Redmonds und der Regie Matthias Lošeks versucht wird, das Beste aus zwei Welten zusammenzuführen: Einen Operntext der sprachlich und musikalisch ganz beim Original Giacomo Puccinis von 1896 ist und dabei ein, vor allem in den Bühnenbildern (Norbert Chmel, auch Lichtdesign) und Kostümen (Oliver Mölter) gänzlich modernes Gewand trägt.
Die Weihnachtsoper - die ersten beiden der vier Akte spielen am Weihnachtsabend und an Weihnachten - hat zudem als einzig unveränderliches Bühnenelement einen variabel leuchtenden, stilisierten Weihnachtsbaum, der ein wenig an ein Wetterkreuz oder eine auf den Kopf gestellte W-Lan Anzeige erinnert. Sie ist immer im Blick und verhindert, dass wir der Illusion erliegen, wir wären am Ende des 19. Jahrhunderts, weshalb die Allgemeingültigkeit der Oper unterstrichen wird. Das Stück ist als Gleichnis auf die vier „Jahreszeiten“ eines Menschenlebens interpretierbar, für Matthias Lošek ist die Frau im Zentrum der Bohème, Lucia (Alexandra Grigoras), genannt Mimì („Il perché non so“) eine „sich aktiv für die Liebe“ entscheidende und - wie die anderen in der Oper beschriebenen Figuren - „kein Opfer“. Beides entnehmen wir dem Programmheft, das die Sicht des Regisseurs akkurat spiegeln dürfte. Dass Mimì hier nach wie vor als der Handlung gegenüber passive, duldende Figur in Erscheinung tritt, dafür ist schon der Namen ein Zeichen, den Lucia einfach annimmt.
Einer gewissen Spannung, die für Opernaufführungen nicht untypisch ist, setzt man sich mit der Figur der Mimì also aus, der Blick des Stücks auf sie ist ein männlich geprägter. Ein bisschen muss man beim Kennenlernen von der armen Schneiderin Mimì mit dem mittellosen Dichter Rodolfo (Alessandro Scotto di Luzio) doch die Zeit mitdenken aus der diese Szene stammt, heutig wirkt sie jedenfalls nicht. Eher muss man etwas an den zu Zeiten der MeToo Bewegung wieder ausgegrabenen und prompt verrissenen Weihnachtssong von 1944 „Baby, It’s Cold Outside“ denken, wenn nach einem Schwächeanfall Mimìs ihre Schlüssel versteckt werden und sie am Aufbruch gehindert wird. Zwei Gesangsmonologe Rodolfos und Mimìs später heißt es dann schon „ti amo“ und sehnsuchtsvoll gesäuseltes „amore“ beim Abgang in den 2. Akt. Ist das alles auch wahnsinnig schön gemacht, in Musik und Schauspiel schön und gefühlvoll, so darf man doch an eine männliche Wunschfantasie denken.
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In Akt 2 treten unsere Figuren und deren Beziehungen (das zweite Paar des Stücks, die Halbweltdame Musetta - Galina Benevic - und der Maler Marcello - Matteo Loi - finden zueinander) einen Moment in den Hintergrund, mit viel Personal wird uns Weihnachtstrubel im Café Momus des Quartier Latin vorgespielt. Da schafft es das Stück auch ohne Verstärkung an die Lautstärkengrenze, allein durch die Zahl der Sänger, der effektvolle Auftritt erreicht Szenenapplaus und auch am Ende des Abends viel Beifall für die Chöre, welche ausgesprochen sauber vorgehen und die geschäftigsten Szenen im Stück begleiten. Hier trifft Mimì auch erstmals auf den Rest der Künstlerclique, den bereits genannten Marcello, sowie den Musiker Schaunard (Gianni Giuga) und Colline, den Philosophen (Matteo D’Apolito). Es wird gesungen und von einer süßen Zukunft geträumt. Gut, dass sich die Handlung einer Oper recht leicht zusammenfassen lässt, ist bekannt. Es passiert im Grunde wenig, da man bei parallelem Bühnenschauspiel und einander überschneidenden Stimmen gerne die Übertitel aus den Augen verliert ist das aber auch kein Schaden.
Raus in die KälteMit dramatischer Ironie - dem Wissen darum, dass sich die Dinge zum Schlechteren wenden werden - wird das Publikum in die Pause entlassen. Bei seiner Rückkehr ist der behäbige Opernrhythmus ein gewisses Hindernis. Es passiert wenig, der Raum auf der Bühne und die Aufführungszeit werden für große Gefühle benutzt, die die Oper dem heutigen Publikum wohl am nächsten bringen. Es stimmt, dass sich Mimì am Ende selbst für einen Aufschub der Trennung von Rodolfo entscheidet, die beide zu Beginn des 3. Akts im Sinn haben. Im Duett mit der in der kalten Künstlermansarde siechenden Schönheit und dem Dichter, der Mimí als „sein Gedicht“ verehrt, kommt der Gedanke an das nicht mehr als politisch korrekt gesehene Weihnachtslied wieder. Sie zählt das Negative der Beziehung auf, führt Gründe an, die für eine Trennung sprechen, er sieht das Gute und Schöne, argumentiert für einen Aufschub ins Frühjahr, bis sie schließlich einlenkt. Mimì, es ist kalt draußen.
Was im 4. Akt passieren muss, ist auch ohne Opernvorbildung glasklar, denn eine große tragische Oper braucht ein großes tragisches Ende. Darin scheint tatsächlich etwas von einem zeitlos menschlichen Grundbedürfnis zu stecken. Dieses zieht sich von den großen tragischen Liebespaaren der Literatur - von Romeo und Julia, über Anna Karenina und die Sturmhöhe um nur einige Beispiele zu nennen - bis hin zu den nach Marktanalyse geschriebenen „Terminal Romance Novels“, die gerade zu Beginn der 2000er einen starken Boom erlebt haben. Die Bohème spiegelt letztere in Grundzügen und das Verhalten unserer Liebenden wäre tatsächlich glaubhafter, wenn wir uns auf der Bühne zwei spätpubertäre Menschen vorstellen, von denen einer an Krebs leidet.
Sicherlich war die nicht näher benannte Lungenkrankheit, wohl Tuberkulose, historisch ein sichereres Todesurteil als sie es heute ist, da man das Stück aber verheutigt, wirkt die Unabwendbarkeit des Unglücks aber rein durch das Skript diktiert und die Handlung wird damit weniger glaubhaft. Mimì, in der passiven Geschlechterrolle die sich fügende Hälfte der Beziehung, gibt sich auf. Während auf das Bühnenelement einer Ziegelsteinmauer mit den Worten „There is no future“ der Zusatz „but now“ hinzugefügt wird, endet das bombastische Stück voller „Träume und Chimären“ - an dem, wir wollen es wiederholen, technisch nichts zu bemängeln ist - in der hedonistischen Hingabe der Mimì an ihr Schicksal. Schön wie ein Sonnenuntergang entschläft Mimì in Rodolfos Armen. Persönlich hätte ich mir für eine Inszenierung, die das Stück zumindest rein optisch in die Gegenwart holt einen kritischeren Umgang mit den eigenen Figuren gewünscht.
Wir hätten statt Mimì einmal Lucia etwas besser kennen lernen können, über die wir so wenig erfahren. Wem diese ausgelassene Chance nicht stört oder wer daran eine Sünde an einem Opernklassiker sehen würde, der wird viel Vergnügen mit einem aufwendig und fehlerfrei inszenierten Opernabend haben.
Für "La Bohème" gibt es am Dienstag, 19 Uhr (Stückeinführung ab 18 Uhr) im Bozner Stadttheater noch Restkarten. Im Trientner Teatro Sociale wird die Oper am 21. und 22. Februar gezeigt werden.