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Roland Benedikter: "Europa braucht eine Zivilreligion um zusammenzuwachsen"

Wie könnte eine "Zivilreligion" für Europa aussehen? Welche Werte und Ideale verbinden die europäischen Staaten, woraus könnte der emotionale Kitt eines gemeinsamen Europas bestehen? Diesen Fragen geht der Politologe Roland Benedikter in Teil 3 des salto-Interviews nach.

Ein Aspekt geht in der Diskussion eigentlich fast immer unter: Das Europa, das am 25. Mai wählt, hat eine ganz andere Kultur- und Politikgeschichte, andere Ideale und Werte als etwa Amerika und China. Können ohne gemeinsame Ideale, ohne das, was Sie eine „europäische Zivilreligion“ nennen, die Vereinigten Staaten von Europa überhaupt entstehen?

Das ist ein sehr wichtiges, heute in den europäischen Amtsstuben aber leider noch fast völlig unterbelichtetes Thema. Und es wird mit dem Aufstieg von kontextpolitischen Faktoren wie Sozialpsychologie, Kultur, Ideengeschichte, Philosophie, Demographie und Technologie zu direkter politischer Bedeutung, die wir seit Jahren weltweit erleben, immer wichtiger werden. Heute wird klar: Europa braucht eine Zivilreligion, das heisst eine gemeinsame ideelle Verbindung, wie etwa Bono von den U2 nicht müde wird zu wiederholen: Das europäische Projekt muss von einem Gedanken zu einem Gefühl werden, wie er es beim Kongress der Europäischen Volkspartei (EVP) am 7. März in Dublin auf den Punkt brachte. Dahinter steckt nichts anderes als die Einsicht, dass wir in Europa einen emotionalen und geistigen Kitt brauchen.

Andere haben das, Europa aber nicht?

Amerika hat diesen Kitt in seiner Zivilreligion: im Bewusstsein, wir sind eine demokratische Nation mit der größten vertikalen Mobilität der Welt, eine säkulare Nation der Freien und der Tapferen, die individuellste Gemeinschaft der Welt; jeder Amerikaner kriegt Tränen in die Augen, wenn die Flagge gehisst wird, die keineswegs die Verkörperung des Staates oder der Regierung, ja nicht einmal der Institutionen, sondern der Idee Amerika ist. Amerika ist und war im Unterschied zur (falschen) Rede vom „letzten Nationalstaat“ nie eine Nation, sondern immer und bis heute in erster Linie eine Idee. Diese Idee hat eine so starke geistige und emotionale Kraft, dass sie auch Probleme und soziale Spannungen bei weitem übertrifft. Das ist mit Zivilreligion gemeint: eine gemeinsame Überzeugung säkularer politischer Ideale wie Freiheit oder Gleichheit, die unabhängig von Religion oder Ideologie alle Bürger auf einem kleinsten, aber emotional machtvollen gemeinsamen Nenner vereint.

Können Sie das noch etwas näher erläutern?

Gern. Die Idee Amerikas beruht nicht auf dem nationalen Gedanken, sondern darauf, dass alle Einwanderer aus allen Ländern der Welt nur zusammenleben können in einem ersten Experiment einer Menschheitsgesellschaft, als das sich die USA gründeten und weiterhin sehen, wenn etwas anderes zählt als die Hautfarbe oder die Herkunft, sondern wenn einzig und allein zählt 1. wer ich bin, 2. was ich will und 3. was ich kann. Ich nenne das einen säkularen Freiheitsidealismus, der Amerika zusammenhält. Es geht nicht um Parteien, Funktionen oder Institutionen. Die ideelle Dimension, also die Zivilreligion, ist das wahre Zentrum der Weltherrschaft Amerikas, nicht sein Militär oder seine Wirtschaft an sich. Wie es der französische Regisseur Jean-Luc Godard auf den Punkt brachte: Amerika hat die Weltherrschaft nicht, weil es das stärkste Militär und die liberalste Wirtschaftsordnung hat, sondern weil es am besten Geschichten erzählen kann – Geschichten, die offenbar alle auf der ganzen Welt interessieren. Amerika erzählt Geschichten, aber was am wichtigsten ist, fast immer nur über sich selbst. Dies, weil es stolz auf sich ist – und sich in seiner Zivilreligion mythologisch übersteigert: Wir sind die Hüter der Freiheit, der strahlende Kernpunkt der Weltzivilisation. Diese fraglose Überzeugung von sich ist der Kern der Stärke Amerikas, auch in und durch Krisen hindurch. Europa hat das schon wegen seiner so leidvollen, ja katastrophalen Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht.

Sie sagen, China sei in Punkto kulturelle Grundierung des Nationalismus den USA durchaus ähnlich – wiederum im Unterschied zu Europa?

Ja, China hat etwas Ähnliches, das es mit den USA stärker verbindet als mit Europa. China hat ebenfalls eine weitgehend fraglose Überzeugung von der eigenen Größe. Diese Überzeugung kommt aber nicht aus einem Freiheitssäkularismus wie in Amerika, den es in China nicht gibt und nie gegeben hat, weil der Konfuzianismus hierarchisch und nicht demokratisch organisiert ist, wenn auch pflichtenhierarchisch und nicht rein autoritätshierarchisch. In China kommt der „produktive“ Nationalismus, also der, der sich nicht kriegerisch gegen andere wendet, sondern als emotionaler und geistiger Kitt nach innen wirkt, nicht aus einer säkularen Zivilreligion, sondern aus der traditionellen konfuzianischen Kultur. Der Konfuzianismus hat aber insofern eine Verwandtschaft zur westlichen säkularen Zivilreligion, als er keine Religion im westlich-abrahamitischen Sinne ist, sondern eher ein sehr pragmatischer „spiritueller Humanismus“ und vor allem ein weisheitsbegründetes, und als solches strenges Sozialregulativ. Wir sind die erste und größte Kulturnation der Erde, die Mitte der Welt: China ist die Mitte des Kosmos, des Zentrum zwischen Oben und Unten, zwischen Yin und Yang, begründet einen unendlich starken und tiefen, an sich nicht durch politische oder soziale Probleme in Frage zu stellenden kulturellen Nationalismus. Wie in den USA hat es mit Parteien (etwa der herrschenden Kommunistischen Partei Chinas) oder mit traditioneller Politik und Institutionen wenig zu tun. Chinesen sind stolz darauf, Chinesen zu sein, nicht weil sie Anhänger der kommunistischen Regierung bzw. deren heutigen bürokratischen Kapitalismus sind (nur 80 Millionen von 1,35 Milliarden Chinesen sind Parteimitglieder), sondern, weil sie Chinesen sind. Und das definiert sich kulturell, nicht politisch.

Und Europa?

Europa hat an der Stelle emotional verbindender politischer Ideale, an der Stelle gemeinschaftsschaffender Zivilreligion als einzige der drei großen Weltmächte noch immer ein schwarzes Loch. Da gibt es keine gemeinsame Idee, keine gemeinsame Zivilreligion, nichts Emotionales, das zusammenhält. Die einzigen Ansätze dazu, die bisher breiter diskutiert werden, waren die „Wiederbelebung“ des Römertums und Griechentums der Antike, und zweitens die „Rechristianisierung“ Europas. Das sind allerdings Strategien, die zum Scheitern verurteilt sind, weil sie sich eher nach rückwärts als nach vorne orientieren. Auch wurde eine Zeit lang ernsthaft diskutiert, den Holocaust als „negativen Gründungsmythos“ einer europäischen Zivilreligion zu installieren, sprich: Nie wieder Krieg, Nie wieder Kriegsverbrechen. Doch abgesehen davon, dass sich damit zum Beispiel England nicht identifizieren kann, kann man ein gemeinsames Ideal kaum negativer formulieren. Europa braucht positive, begeisternde gemeinsame Ideale für eine Zivilreligion, negative werden nicht wirken - bei aller unbeschränkten und überzeugten Anerkennung für das Bemühen und die Einschätzung  der historischen Tatsachen.

Wo liegt die Perspektive?

Die Perspektive ist meiner Ansicht nach, dass wir eine spezifisch europäische Zivilreligion für Europa nur finden, wenn wir uns auf das transnationale geistige Potential der Aufklärung beziehen und es mit neuem Leben füllen. Ich habe das in einem Aufsatz für das Forschungsinstitut für Philosophie Hannover, der auch online zu finden ist: http://philosophie-indebate.de/tag/roland-benedikter/, in kurzer und konzentrierter Form dargestellt. Die europäische Idee von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, also die Ursprungsidee der demokratischen Welt, hat einen starken emotionalen Anspruch, das ist Emotion pur. Und diese Idee ist, obwohl verwandt, nicht dieselbe wie die Amerikas. Die europäische Freiheit schmeckt anders.

Inwiefern? Und was bedeutet das für die Zukunft des europäischen Projekts?

Die Amerikaner haben von den drei Leit-Idealen der (beiderseits freimaurerisch-rosenkreuzerisch inspirierten) amerikanischen und französischen Revolution - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - vor allem und in erster Linie Freiheit gesellschaftspolitisch verwirklicht. Dagegen ist die Gleichheit (in Chancen und Möglichkeiten) deutlich weniger ausgeprägt, und die Brüderlichkeit weitgehend ausgeblendet. Die Chinesen dagegen verordnen unter kommunistischem Gesichtspunkt eine staatliche „Brüderlichkeit von oben“ und blenden die Freiheit aus, immer stärker auch die Gleichheit, je schneller die sozialen Unterschiede zunehmen. Die europäische Idee wäre im Unterschied zu diesen beiden Ansätzen eine, die gesellschaftliche Solidarität, Gleichheit im Rechtszugang und Freiheit in der Selbstentfaltung und Selbstverantwortung gleichermaßen, gleichberechtigt und balanciert verwirklicht. Europa sollte vor seinem eigenen geistes- und ideengeschichtlichen Hintergrund alle drei miteinander ausgewogen verbunden realisieren. Das ist ein Absetzungsmerkmal zu Amerika und China, die beide einseitige Schwerpunkte setzen. In der Ausgewogenheit und Trinität könnte Europa eine Eigenheit hervorkehren, die zugleich politisches Leitbild und emotionaler Kitt ist, der stolz auf das Eigene macht. Wenn wir es schaffen würden, die drei Leit-Prinzipien gleichermaßen zu betonen, und sie nicht nur als in der Welt einmaliges politisches Leitbild zu verwirklichen, sondern auch zu aktivem Selbstbewusstsein zu bringen, dann hätten wir eine gemeinsame Zivilreligion - und damit auch eine emotionale Basis für eine wirkliche europäische Gemeinschaft.