„Einige Herren sagten etwas dazu“
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Nicole Seifert ist Literaturwissenschaftlerin, Autorin und Übersetzerin. Mit ihrem ersten Buch „Frauen Literatur – abgewertet, vergessen, wiederentdeckt“, löste sie im Jahr 2021 eine Debatte über Frauen im Literaturbetrieb und weibliches Schreiben aus. Im Frühjahr dieses Jahres erschien Seiferts zweites Buch „Einige Herren sagten etwas dazu“. Das zweite Thema ist dem ersten ähnlich, allerdings ist es diesmal spezifischer: es geht um die schreibenden Frauen der Gruppe 47.
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Kanonisierte Schriftsteller und blinde Flecken
Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, im Jahr 1947, wurde die legendäre „Gruppe 47“ vom deutschen Schriftsteller Hans Werner Richter gegründet. Die Schriftstellertreffen, die bis 1967 jedes Jahr ein bis zwei Mal stattfanden, dienten der gegenseitigen Kritik. Eine neue Sprache sollte entstehen, Literatur wieder möglich und zugänglich gemacht werden – um es mit den Worten Helmut Böttingers zu sagen: „Diese Tage waren der Katalysator des literarischen Lebens.“ Der Ablauf der Veranstaltungen gestaltete sich mehr oder weniger immer gleich: ein Schriftsteller las seinen neuesten Text vor und dieser wurde dann im Anschluss einer harten Litertaturkritik unterzogen. Am Ende der Tagung, die meist drei Tage dauerte, erhielt der beste Schriftsteller den Preis der Gruppe.
Mit den Jahren gewannen die Treffen an Bedeutung, schließlich gab es in dieser Zeitspanne keine ähnlichen Konkurrenzveranstaltungen, keine Lesungen, keine Literaturfestivals. Die Versammlungen waren das literarische Jahreshighlight, wurden medial begleitet und brachten so die Diskussionen rund um die neueste Literatur an die Öffentlichkeit. Besonders für junge Schriftsteller also das Karrieresprungbrett. Allerdings durfte nicht jeder bei den Treffen dabei sein, die Versammlungen waren weder für die Öffentlichkeit bestimmt noch frei zugänglich. Hans Werner Richter suchte vor jedem Treffen seine Gäste aus und verschickte personalisierte Einladungen: „Ich lade alle Leute ein, die mir passen, die mit mir befreundet sind. Und wir lesen uns gegenseitig vor und amüsieren uns (…), und dann gehen wir alle wieder auseinander (…)“, so Richter.
Beits nach den ersten Treffen wurde die Gruppe vor allem für ihre politische Einstellung kritisiert: Linken war sie zu rechts, Rechten war sie zu links. Unabhängig von den kritischen Stimmen aber steht fest, dass die Gruppe 47 eine deutliche Spur in der deutschsprachigen Literatur hinterlassen hat. Günter Grass, Heinrich Böll, Martin Walser, Marcel Reich-Ranicki, Paul Celan und viele andere konnten ihre Namen zu einem Markenzeichen machen und haben, unter Mithilfe der Gruppe 47, den Sprung in den literarischen Kanon geschafft. Ihre Texte werden in den Schulen gelesen, es gibt Gesamtausgaben, ihre Romane werden immer wieder neu aufgelegt. Aber, da war doch noch was? Wer war nochmal diese „schöne Frau, bei der alle Tagungsteilnehmer die Contenance verloren“? Oder diese andere Frau, die „eine Mischung zwischen einer Schlange und einer Katze“ war? Oder wie hieß dieses eine Fräulein noch gleich, dieses „sexy thing“?
Wie die Männer auf die Frauen schautenNicole Seifert befasst sich in ihrem Buch mit allen 17 Autorinnen, die bei den Treffen der Gruppe 47 dabei waren. Kling erstmal viel, allerdings umfasst das Buch nicht mehr als 273 Seiten. Manchmal fasst Seifert zwei oder drei Autorinnen in einem Kapitel sogar zusammen – die Quellenlage bereitet Probleme.
Obwohl manche Frauen (z.B. Ilse Schneider-Lengyel, Helga N. Novak, Barbara König) zu ihrer Zeit Bestseller schrieben und sich ihre Bücher gut verkauften, weiß man von ihnen heute wenig bis gar nichts mehr.
Seifert erklärt warum:
„Die Gründe dafür, dass die große Mehrheit der Autorinnen der Gruppe 47 nachträglich aus der Gruppen- und der Literaturgeschichte getilgt wurde, liegen nicht darin, dass sie nicht “gut” oder “wichtig” gewesen wären, nichts von “Qualität” beizutragen gehabt hätten. Sie liegen in der kulturell tief verankerten Diskriminierung weiblichen Schreibens und darin, dass die entscheidenden Männer und Historiker der Gruppe sich für die Frauen selbst interessierten, nicht für deren Literatur. Immer wieder geht es um die Körper der Frauen und ihr Erscheinungsbild, sie werden als Raubtiere beschrieben, als Undine und Melusine, als Göttinnen, Königinnen, Hexen, in jedem einzelnen Fall geriet der Text in den Hintergrund, spielte oft überhaupt keine Rolle mehr“ (Seifert, Einige Herren sagten etwas dazu, S. 260).
Die erste Kritik der Gruppe 47 war entscheidend – wurde ein Text gefeiert, konnte man auf weitere Erfolge hoffen, wurde er kritisiert, konnte man(n) auf eine zweite Chance bei der nächsten Versammlung hoffen. Was aber, wenn man nicht für den Text, sondern für das Aussehen oder den persönlichen Charakter kritisiert wird? Wenn man nach dem Auftritt als manische Hexe oder schöne Frau bezeichnet wird? Kann man mit diesen Zuschreibungen in die (Literatur-)Geschichte eingehen? Wohl eher nicht…
Die österreichische Autorin Ingeborg Bachmann, die nach einer ihrer Lesungen den lapidaren Kommentar „einige Herren sagten etwas dazu“, fallen ließ, wurde folgendermaßen beschrieben: „viel blondes Haar, sanftbraune Augen, still und scheu in Ausdruck und Rede“. Neben dem Fakt, dass Autorinnen nicht als „richtige“ Frauen wahrgenommen wurden, sondern als „das dritte Geschlecht“ oder als „Frauen, die keine Frauen sein wollen“, scheint es so, als dienten sie bei den Treffen mehr der Unterhaltung, der Unterstützung und dem Wohle der anwesenden Männer. Und das nur, weil sie etwas taten, das damals nur Männern zugetraut wurde: Schreiben.
Ilse Aichinger eine weitere österreichische Autorin, die wie Ingeborg Bachmann zum weiblichen Aushängeschild der Gruppe 47 geworden ist, nahm auch an einigen Treffen teil und hielt dann am Ende fest: „Mich hat eigentlich die Literatur interessiert“. Sie wurde von Hans Werner Richter folgendermaßen beschrieben: „Ilse Aichinger war eine schöne Frau, die einige meiner Tagungsteilnehmer so stark anzog, dass sie ganz außer sich gerieten und für meine Begriffe ein wenig die Contenance verloren“ – so und nicht anders lauteten die meisten Urteile über die Schriftstellerinnen, die Texte blieben außen vor.
Aichinger und Bachmann waren zwei Frauen, die Ausnahmen bildeten – beide gewannen den Preis der Gruppe 47, was vor und nach ihnen keiner Frau mehr gelang. Sie waren beide mehrere Male bei den Treffen dabei (anderen Frauen genügte eine Veranstaltung), beide haben den Sprung in den literarischen Kanon und den Einzug in die Literaturgeschichte geschafft.
Was ist aber mit Gabriele Wohmann, deren Romane sich in der Zeit ihres Schaffens in Auflagen von Hunderttausend verkauften und Bestseller wurden? Oder mit Gisela Elsner, die scharfe Satiren auf die Wohlstandsgesellschaft lieferte, aber niemand wusste, wie mit den Texten umzugehen war, weil sie der damaligen Zeit voraus waren? Oder Elisabeth Plessen, der eigentlich der erste Döblin-Preis für ihr Werk zugestanden hätte, die Kollegen der Gruppe 47 aber meinten, dass sie den Preis im ersten Jahr unmöglich einer Frau geben konnten?
Nicole Seifert hat eine beeindruckende, literarisch-archäologische Arbeit geleistet. Zahlreiche Quellen, Anmerkungen und Nachweise, die im Anhang aufgelistet sind, weisen auf diese Ausgrabungsarbeit hin. Die Sätze sind klar und präzise, Zahlen, Fakten und Schicksale mit einem spannenden Erzählstil miteinander verflochten. Dies hat zur Folge, dass einige Kapitel, wie die deutsche Autorin Daniela Dröscher schreibt, spannender als manch ein Krimi sind. Seifert hat einen wichtigen Beitrag für den literarischen Kanon geliefert, den es immer wieder umzuschreiben und neuzugestalten gilt. Bis zum Erschienen dieses Buches hat es bis jetzt vor allem eins: gefehlt.