Politica | Migration

Operation Abschottung

Die Asylreform der EU setzt auf Grenzschutz und einheitliche Standards. Migrationsexperte Thomas Brancaglion geht davon aus, dass nun riskantere Routen gewählt werden.
Geflüchtete in Valencia
Foto: UNHCR/Markel Redondo
  • Was bis vor kurzem beinahe unmöglich schien, hat die Europäische Union (EU) nun auf den Weg gebracht: Die grundlegende Reform des Asylsystems haben Vertreter der EU-Staaten und des Europaparlaments nach jahrelangen Diskussionen ausgehandelt. Mit den insgesamt fünf Gesetzesvorhaben soll die irreguläre Migration in die EU eingedämmt und Geflüchtete gerechter verteilt werden. Wenn ein EU-Land sich weigert, Geflüchtete aufzunehmen, werden Unterstützungsleistungen fällig, das legt der sogenannte „Solidaritätsmechanismus“ fest. 

    EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen begrüßt die Entscheidung gegenüber den Medien mit Stolz: „Sie bedeutet, dass die Europäer entscheiden, wer in die EU kommt und wer bleiben darf, nicht die Menschenhändler. Damit schützen wir diejenigen, die in Not sind.“ Die Reform muss noch vom Plenum des Europaparlaments und den EU-Staaten bestätigt werden. Das ist für gewöhnlich eine Formalität. 

  • Thomas Brancaglion: „Das eigentliche Problem der Mittelmeerstaaten Italien, Spanien, Griechenland, Malta und Zypern bleibt bestehen.“ Foto: Facebook

    Thomas Brancaglion, Team K-Gemeinderat in Bozen und Migrationsexperte, ordnet die Neuerungen im Asylwesen ein: „Es ist krass, dass die Menschen nun bereits bei ihrer Einreise in Auffanglagern festgehalten werden können. Zum jetzigen Zeitpunkt können sie zwei Monate nach ihrer Antragstellung auf Asyl arbeiten oder studieren, das wird mit der Reform nicht mehr möglich sein“, sagt Brancaglion. 

    Er ist als Mitglied der ASGI (Associazione per gli Studi Giuridici sull' Immigrazione) seit langem in der rechtlichen Flüchtlingsberatung tätig. „Die Migrantinnen und Migranten werden sich durch die Asylreform der EU nicht aufhalten lassen. Wahrscheinlich werden gefährlichere Routen gewählt und die Schlepper teurer, die Reform wird also mehr Leid verursachen“, so Brancaglion.

  • Es sei zwar gut, dass die Mitgliedsländer der EU bei dieser Reform an einem Strang ziehen, aber es würden nur Symptome anstatt Fluchtursachen bekämpft. „Die Entscheidung der EU zielt vor allem darauf ab, die Außengrenzen Europas besser zu schützen und die Zusammenarbeit mit Drittstaaten wie Libyen, Niger oder der Türkei zu stärken, um illegale Grenzübertritte in die EU zu reduzieren“, sagt der Migrationsexperte.

    Er plädiert dafür, die beim Solidaritätsmechanismus fälligen Geldzahlungen in Entwicklungsprojekte der Herkunftsländer zu investieren, um Fluchtursachen anzugehen. Stattdessen sei zu befürchten, dass durch die Zusammenarbeit mit als sicher geltenden Drittstaaten Korruption und die Missachtung der Menschenrechte gefördert werden. „Durch die Klimaveränderungen, die sozialen Konflikte und Kriege werden in den nächsten Jahren Menschen weiter auf der Flucht sein“, sagt Brancaglion. 

    „Das eigentliche Problem der Mittelmeerstaaten Italien, Spanien, Griechenland, Malta und Zypern bleibt bestehen. Denn das Dublin-Verfahren wird durch diese Reform der europäischen Asylwesens nicht geändert und die Menschen müssen in jenem EU-Land den Asylantrag stellen, wo sie ankommen. Die Dublin-Verordnung will man seit über zehn Jahren überarbeiten, weil sie eigentlich ungerecht ist. Zwar wurde jetzt der Solidaritätsmechanismus eingeführt, aber die Geldzahlungen fließen nicht in die Sozialsysteme der betroffenen Ankunftsländer wie Italien, sondern in den Grenzschutz und in Abkommen mit Drittstaaten wie Libyen“, so Brancaglion.  

  • Illegale Migration: Geflüchtete in einem Holzboot werden in den Hafen von Lampedusa gebracht. Foto: UNHCR/Alessio Mamo
  • Die Asylreform der EU

    Künftig sollen die Asylverfahren an den Außengrenzen der EU vereinheitlicht werden. Vorgesehen ist insbesondere ein deutlich härterer Umgang mit Menschen aus Ländern, die als relativ sicher gelten wie Marokko, Tunesien, Bangladesch oder Pakistan. Bis die Entscheidung zum Asylantrag gefallen ist, sollen die Menschen an der Grenze unter haftähnlichen Bedingungen in Auffanglagern untergebracht werden. Das Asylverfahren soll maximal 12 Wochen in Anspruch nehmen. 

    Außerdem sieht die Reform vor, die Abschiebung in sichere Drittstaaten zu vereinfachen. Weiters sollen über den Solidaritätsmechanismus künftig pro Jahr bis zu 30.000 Menschen verpflichtend umverteilt werden. EU-Staaten, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, müssen eine andere Unterstützung leisten, etwa in Form von 20.000 Euro pro nicht aufgenommenen Flüchtling oder durch die Finanzierung von Projekten in Drittländern. Das soll Ankunftsländer wie Italien entlasten. 

    Kommt eine besonders hohe Zahl von Schutzsuchenden an, greift eine sogenannte Krisenverordnung: Auch Migrantinnen und Migranten mit höheren Chancen auf Asyl sollen dann in Auffanglagern an der Grenze festgehalten werden, die maximale Dauer des Asylverfahrens verlängert sich in diesem Fall auf 18 Wochen. 

  • Hohe Ankünfte

    Nikola Sander: Die Geografin hat die Studie des deutschen Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung zur weltweiten Migration geleitet. Foto: Peter-Paul Weiler

    Derzeit versuchen viele Menschen nach Europa zu gelangen. Laut der Asylagentur der EU mit Sitz in Malta könnten in diesem Jahr mehr als eine Million Asylanträge in der EU sowie der Schweiz und Norwegen gestellt werden. Die bisher mehr als 800.000 gestellten Asylanträge im Jahr 2023 stellen bereits den höchsten Wert seit dem Jahr 2016 dar. 

    Laut neuen Berechnungen des deutschen Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung steigt auch die Zahl der Migrantinnen und Migranten weltweit seit 25 Jahren an. Sind von 1995 bis 2000 noch 65 Millionen ausgewandert, waren es von 2015 bis 2020 95,8 Millionen Menschen. Allerdings ist in den letzten Jahrzehnten auch die Weltbevölkerung gewachsen. 

    Deshalb bleibe der Prozentsatz, den Migranten in der Weltbevölkerung ausmachen, bei höchstens 1,3 Prozent und nahezu konstant. Die Leiterin der Studie, die Geografin Nikola Sander, sagt gegenüber Zeit Online„Der Eindruck, dass ein immer größerer Teil der Weltbevölkerung migriert, wird durch unsere Zahlen widerlegt.“