Società | Gastkommentar

Die täglichen Missstände

Glauben wir ernsthaft, dass, wenn wir uns über ein Rap-Video echauffieren und junge Menschen an den Pranger stellen, sich irgendetwas ändern wird?
Kash
Foto: Youtube/Kash

Vor Kurzem haben die jungen Meraner Rapper vom HipHop-Kollektiv Fv1000 einen neuen Song veröffentlicht. Schon vor etwas mehr als einem Jahr wurden die jungen Männer nach der Veröffentlichung eines ähnlichen Videos, wie die allseits bekannte Sau durch die Dörfer und Medien getrieben, weil dieses vermeintlich gewalttätig sei, dort mit Schusswaffen hantiert wird und der Drogenkonsum verharmlost würde. Nun wurde ein zweites Video veröffentlicht. Auch dieses Mal sieht man eine Pistole, die weitergegeben wird, vermeintliche Drogen verpackt in Kartonpapier und einen Überfall auf einen Drogendealer. Und wieder geschieht mehr oder weniger genau dasselbe wie schon vor 365 Tagen. Rechtsgerichtete Politiker*Innen versenden Landtagsanfragen und Pressemitteilungen, in den Online-Foren werden Theorien in Hinblick auf eine „links-grün-versiffte“ Politik breitgetreten, welche dafür verantwortlich sein soll, dass solche Videos im heiligen Land Tirol in Umlauf sind. Dabei werden in gewohnter Weise rassistische und menschenfeindliche Klischees und Stereotype verbreitet und die Jugendlichen an den öffentlichen Pranger gestellt. Wie schon im vergangenen Jahr bekommen PolitikerInnen und KommentatorInnen Schnappatmung.

Diese Jugendlichen singen über jene Missstände, denen sie täglich ausgesetzt sind

Man kann zu Rap-Videos, in denen mit Handfeuerwaffen und Drogen hantiert wird, grundsätzlich stehen, wie man möchte. Die Kunstfreiheit, die verfassungsrechtlich in unserer Staatsgründung verankert wurde, regelt nicht, ob jemand etwas schön oder hässlich, gut oder böse finden muss, aber es garantiert eines unserer wichtigsten Freiheitsrechte. Und wer sich die Mühe macht und sich die Songtexte der jungen Männer aus Sinich genauer anhört, würde relativ schnell erkennen, dass diese Jugendlichen über jene Missstände singen, denen sie täglich ausgesetzt sind. Sie rappen über Rassismus, gesellschaftlichen Ausschluss, soziale Ausgrenzung, Nicht-Akzeptanz, Arbeits- und Chancenlosigkeit. Den ganz normalen Wahnsinn eben. Jenen Wahnsinn, der schon von den bekanntesten und erfolgreichsten Rappern wie z.B. Tupac Shakur, der weltweit und schon vor 30, 40 Jahren genau jene Dinge in seinen Texten besungen hat, von denen nun auch die Jugendlichen aus Sinich sprechen. Tupac Shakur wurde 1996 auf offener Straße in Las Vegas hingerichtet und gehört mit über 75 Millionen verkauften Tonträgern zu den erfolgreichsten und bekanntesten Rappern aller Zeiten. Wenn man auf Youtube nach „Gangsterrap“ sucht, wird man ein schier unendliches Sammelsurium von Videos finden, in denen junge Männer (und mittlerweile immer öfter auch Frauen) über all jene Dinge rappen, die auch von den Mitgliedern des Meraner Kollektivs besungen werden.

 

Die Argumentation, dass Menschen Angst bekämen, wenn sie solche Bilder und Aufnahmen in ihrer Stadt sehen, möchten wir an dieser Stelle gar nicht bestreiten. Angst ist immer etwas Subjektives. Aber dennoch könnte man zumindest versuchen grundsätzlich einmal die Frage zu stellen, wieso dargestellte Gewalt in künstlerischer Form mehr Angst und Hass erzeugt, als effektive Gewalt. Gewalt, die in Südtirol täglich an der Tagesordnung ist. Die Frauenhäuser sind voll, Gewalt gegen Frauen und Kinder findet täglich statt. Strukturelle Gewalt greift in Form von Armut, Ausschluss und Nicht-Teilhabe immer mehr um sich. Die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auseinander. Die Mafia macht italien- und weltweit Milliarden-Geschäfte mit dem Verkauf von Waffen, Drogen und Menschen. Warum empört sich niemand über diese Formen von Gewalt, während ein Rap-Video von ein paar Jugendlichen wochenlang auf den unterschiedlichsten Kanälen diskutiert und verurteilt wird?

Warum fühlen sich diese jungen Menschen in ihrer Stadt nicht willkommen, ja geradezu vernachlässigt und ausgeschlossen?

Wie verblendet und blind muss eine Gesellschaft mittlerweile sein, die sich über gesellschaftliche Missstände so gut wie keine Gedanken mehr macht, aber einige teils minderjährige Jugendliche zum absolut Bösen hochstilisiert? Warum fragen wir uns nicht, was der Minderheitenschutz, der wie eine Monstranz von der größten Partei des Landes herumgetragen wird, eigentlich wert ist, wenn er sich lediglich und exklusiv auf einige wenige Gruppen beschränkt? Warum schaffen wir es in einem Land, das so sehr unter der Unterdrückung einer sprachlichen Minderheit gelitten hat, nicht, diesen Minderheitenschutz für alle hier lebenden Minderheiten und Marginalisierten geltend zu machen? Was sagt es über eine Gesellschaft aus, die beim Betrachten eines solchen Videos nur Gewalt, Drogen und vermeintlich religiösen Fanatismus (wegen einer tunesischen Fahne, die im Hintergrund schwenkt) sieht? Wann sind wird so taub und blind geworden, als dass wir die Fähigkeit zum integralen, verknüpfenden Denken oder zum Lesen zwischen den Zeilen für ein oberflächliches und strukturell rassistisches Wahrnehmungsmuster eingetauscht haben? Warum fragen wir nicht warum junge Menschen solche Texte und Videos produzieren? Warum setzen sich Jugendliche hin und schreiben tage- und wochenlang an einem Songtext, nehmen diesen auf, um ihn anschließend zu mixen und zu mastern? Warum schreiben sie ein Videodrehbuch, shooten und schneiden ein Musikvideo? Und das alles ohne Budget und in Eigenregie. Warum versuchen wir die Fragen nicht anders zu stellen? Warum fühlen sich diese jungen Menschen in ihrer Stadt nicht willkommen, ja geradezu vernachlässigt und ausgeschlossen? Was sagt es über uns als VertreterInnen einer privilegierten, weißen Mehrheitsgesellschaft aus, wenn Jugendliche über Hunger, Drogenhandel, Pistolen und Zusammenhalt in ihrem Stadtviertel rappen? Wieso verstehen wir Integration und Inklusion nur als einseitige Strategie, die gefälligst von einer Seite zu leisten sei, während wir es uns in unseren weichen Biedermeier-Sesseln bequem machen und mit dem Zeigefinger auf ein paar Minderjährige zeigen? Warum werden Gelder und öffentliche Zuwendungen für Einrichtungen wie Kultur- und Jugendzentren, in denen mit solchen Jugendlichen gearbeitet wird, gekürzt? Warum gibt es so wenige, ernstgemeinte Präventionsprojekte, um Jugendliche von der Straße zu holen und ihnen andere Perspektiven aufzuzeigen? Glauben wir ernsthaft, dass, wenn wir uns über dieses Rap-Video echauffieren und diese jungen Menschen an den Pranger stellen, sich irgendetwas ändern wird? Warum führen wir seit Jahren die immer gleichen Diskussionen und entscheiden uns immer wieder für haargenau dieselbe Herangehensweise, wenn wir doch wissen, dass sich dadurch nichts ändern wird?

Wir, das sind Philipp Kieser, Besay Mayer (Jugendzentrum Jungle Meran) und Thomas Kobler (ost west club est ovest), drei dieser vermeintlich links-grün-versifften Jugend-, Sozial-, und Kulturarbeiter, die sich seit rund 15 Jahren auf den unterschiedlichsten Ebenen mit diesen Jugendlichen auseinandersetzen.

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△rtim post Mar, 02/23/2021 - 15:03

Wir werden uns zu Parallelkulturen ... zu verhalten haben. Mit sozialen Wohltaten allein ist es nicht getan. Aber auch nicht mit Negativtät. Da hat der Beitrag über den "Disagio" recht. Allgemein ist aber vielleicht doch mal anzumerken. Zur Professionalität in der Jugendarbeit gehört mitunter eine gesunde Distanz. Das hilft letztlich auch den Jugendlichen. Insbesondere, wenn durch eigene Werte und Identifikationen bestimmte Grenzen überschritten werden, die man im Gemeinwesen weder relativieren noch verharmlosen kann/darf. Da reicht manchmal schon ein Blick ins Strafgesetzbuch und in die Judikatur. Dazu braucht erstmal gar keinen verschobenen Vorwand, einen ideologischen oder politischen Kampf und Kulturkampf gegen das Land Südtirol und die Autonomie....
Mir ist nämlich nicht bekannt, dass der Gestus, die Darstellung, die Verherrlichung und die Verharmlosung von Straftaten in Italien Verfassungsrang haben und der (moralische) Tatbestand der Anstiftung Teil der Kunstfreiheit und Jugendarbeit ist.

Mar, 02/23/2021 - 15:03 Collegamento permanente