Società | Europäische Schule
„In einem gelebten Europa”
Foto: Europäische Schule Frankfurt am Main
In Südtirol ist die Nachfrage nach einem mehrsprachigen Unterrichtsmodell groß. In diesem Zusammenhang wird immer wieder, auch von politischer Seite, die Einrichtung einer Europäischen Schule angedacht. Die Argumente dafür sind hauptsächlich zwei: erstens, es handelt sich dabei um ein erfolgreiches Modell, welches die Schüler mehrsprachig aufwachsen lässt, dabei dennoch die Kenntnis der Muttersprache fördert und perfektioniert und zweitens steigert diese die Attraktivität der Unternehmen, welche internationale Mitarbeiter nach Südtirol holen wollen, da man an der Schule, abgesehen von einer italienischen und einer deutschen Sprachsektion, auch eine englische anbieten könnte.
Über den Sinn, dieses Modell nach Südtirol bringen zu wollen und ob dies überhaupt möglich wäre, was die Europäische Schule ihren Schülern bietet und warum die Sprachentrennung der Schulen in Südtirol gelöst werden muss, hat Salto.bz mit Ferdinand Patscheider gesprochen, dem Direktor der Europäischen Schule in Frankfurt am Main.
Salto.bz: Herr Patscheider, wie sieht Ihre Karrierelaufbahn aus und wie kam es dazu, dass Sie Direktor der Europäischen Schule in Frankfurt geworden sind?
Ferdinand Patscheider: Es handelt sich in meinem Fall um eine ganz klassische typische Lehrerlaufbahn. Ich bin in Südtirol deutschsprachig aufgewachsen, habe dort meinen Oberschulabschluss gemacht und bin daraufhin nach Verona gegangen, um dort moderne Fremdsprachen zu studieren.
Nach meinem Universitätsabschluss habe ich angefangen Englisch zu unterrichten und habe nach sechzehn Jahren, an denen ich an verschiedenen Südtiroler Oberschulen unterrichtet habe, an das pädagogische Institut für die deutsche Schule gewechselt. Daraufhin habe ich am Direktorenwettbewerb teilgenommen, habe drei Jahre als Direktor einer Oberschule in Meran gearbeitet und anschließend daran drei Jahre lang als Inspektor für den sprachlichen Bereich am deutschen Schulamt.
Auf der Homepage des italienischen Ministeriums habe ich dann die Ausschreibung für die Direktorenstelle an der Europäischen Schule in Frankfurt gesehen und mich daraufhin beworben. Nachdem ich die Selektionsverfahren in Rom und in Brüssel gewonnen habe, wurde ich zu meiner großen Überraschung im Jahr 2015 Direktor der Europäischen Schule Frankfurt am Main. Es handelt sich dabei eher um einen glücklichen Zufall als ein angestrebtes Ziel.
Was war Ihr erster Eindruck der Europäischen Schule, als Sie nach Frankfurt kamen?
Der erste Eindruck war für mich überwältigend. Ich kam in ein Gebäude mit damals ca. 1.450 Schülern aus ganz Europa (und auch außerhalb). In der Schule wurden und werden mit Ausnahme von Maltesisch alle offiziellen europäischen Sprachen gelernt und gelehrt.
Man befindet sich in einem gelebten Europa wo Kinder und Jugendliche aus allen europäischen Ländern gemeinsam lernen und Mitarbeiter aus aller Herren Länder zusammen arbeiten.
Inzwischen ist die Schülerpopulation auf ca. 1.600 angewachsen, am europäischen Flair hat sich nichts geändert. Wenn ich am Morgen in die Schule komme, treffe ich auf kleine Schülergruppen, die sich auf kroatisch, französisch, portugiesisch usw. unterhalten und spontan die Sprache wechseln, wenn andere Kinder dazukommen. Die zwei am häufigsten verwendeten Verkehrssprachen in der Schule sind Deutsch und Englisch, je nach Kontext werden aber alle Sprachen gesprochen und gepflegt. Es ist für mich immer wieder faszinierend dieses Zusammenleben erfahren zu dürfen.
...nach dem Grundsatz „in der eigenen Sprache und Kultur beheimatet, bei gleichzeitiger Öffnung für andere Kulturen und Sprachen“.
Wie funktioniert das Konzept der Europäischen Schule?
Es handelt sich um ein komplexes System. Das Grundprinzip der Europäischen Schule ist die Pflege der Muttersprache: Muttersprache/L1/dominante Sprache werden im Kontext der Europäischen Schulen synonym verwendet. Die ersten Europäischen Schulen wurden in den 50er Jahren in Luxemburg und Brüssels für die Kinder der Angestellten der europäischen Institutionen, wie bspw. Europarlament oder Kommission, gegründet. Ursprünglich ging man davon aus, dass die Mitarbeiter der Institutionen nur ein paar Jahre in Brüssel oder Luxemburg bleiben und dann in ihre jeweiligen Heimatländer zurückkehren würden. Ihren Kindern musste ein Bildungssystem angeboten werden, welches eine nahtlose Rückkehr ins nationale Bildungssystem des Herkunftslandes ermöglichen sollte. So ist die Fokussierung auf die jeweilige Muttersprache zu erklären, ganz nach dem Grundsatz „in der eigenen Sprache und Kultur beheimatet, bei gleichzeitiger Öffnung für andere Kulturen und Sprachen“.
Jedes Kind hat daher das Anrecht darauf, Unterricht in der eigenen Muttersprache zu erhalten. Ab einer bestimmten Anzahl von Sprechern einer Sprache gibt es an den verschiedenen Standorten eigene Sprachsektionen. Wenn es an einem Standort für die Sprache eine Kindes keine eigene Sprachsektion gibt, erhält dieses Kind täglichen Unterricht in seiner Muttersprache, muss sich dann aber für die englische, deutsche oder französische Sprachsektion entscheiden. Zugang zu den anderen Sprachsektionen, wie italienisch, portugiesische, griechisch, litauisch oder anderen – je nach Angebot am Standort, haben nur die jeweiligen Muttersprachler.
In Brüssel beispielsweise, wo sich der Sitz der Europäischen Kommission und vieler anderer europäischer Institutionen befindet, gibt es vier Europäische Schulen, die insgesamt 17 Sprachsektionen anbieten. Hier in Frankfurt haben wir eine deutsche, englische, italienische, französische und spanische Sektion.
Ein derartiges Angebot wäre in Südtirol wohl nicht möglich, und wohl auch gar nicht angedacht.
Also ist das System hauptsächlich für Kinder von Beamten der europäischen Institutionen?
Das ursprüngliche Konzept ja, wenn allerdings noch Platz frei ist, gibt es auch für „normale“ Bürger die Möglichkeit, die Europäische Schule zu besuchen. Hier in Frankfurt haben wir kaum mehr Platz, sodass wir leider fast nur Kinder von Mitarbeitern der EU-Institutionen aufnehmen können.
In Südtirol ist eine Diskussion im Gange, ob man anstatt des Systems der Europäischen Schule, doch lieber ein zweisprachiges System anstreben sollte, etwa nach dem Modell der paritätischen Schulen der ladinischen Täler. Welche wäre, Ihrer Meinung nach, die bessere Lösung?
Das System der Europäischen Schule ist für Südtirol meiner Meinung nach nicht 1:1 übertragbar. Eine Typ 1 Europäische Schule, wie man sie dort vorfindet wo Europäische Institutionen angesiedelt sind, ist nicht realisierbar, eine sogenannte akkreditierte Europäische Schule, Typ 2, welche dasselbe pädagogische Konzept anwendet, schon eher.
Wie bereits erwähnt, ein großer Vorteil der Europäischen Schule ist der Fokus auf die Muttersprache, ohne dabei jedoch die Kenntnis einer Zweit- oder sogar Drittsprache zu vernachlässigen. Die Kinder beginnen bereits in der Grundschule mit der Erlernung der Zweitsprache, so wie auch in Südtirol. Jedoch wird der Unterricht in der Zweitsprache dann systematisch ausgebaut: schon ab der 8. Klasse, bei uns wäre das die 3. Klasse Mittelschule, werden Geschichte, Geografie, Wirtschaft und andere Fächer in der jeweiligen Zweitsprache gelernt und gelehrt.
Am Ende ihrer Schulkarriere sind die Jugendlichen zwei- bzw. dreisprachig. Gar viele unserer Schüler sprechen aufgrund der unterschiedlichen Familienkonstellationen von klein auf mehrere Sprachen auf Muttersprachenniveau. Sprachenlernen an den Europäischen Schulen geschieht ohne die in Südtirol latente Angst, dass wenn ein Kind „zu viel“ Zweit- oder gar Drittsprache lernt, es dann die eigene kulturelle Identität verliert. Dieses Unbehagen nehme ich an der Europäischen Schule nicht wahr.
Man kann eine zweite oder dritte Sprache lernen, ohne dabei auf sehr hohe Kompetenzen in der Muttersprache zu verzichten oder darin die Gefahr zu sehen, die eigene kulturelle Identität zu verlieren.
Ist diese Angst laut Ihnen also unbegründet?
Meiner Meinung nach handelt es sich um eine unberechtigte Angst. Ein Schüler aus Litauen, zum Beispiel, hat an der Europäischen Schule in Frankfurt den Großteil seiner Beschulung in der Sprache der von ihm gewählten Sprachsektion: Englisch, Deutsch oder Französisch. Seine Muttersprache lernt er in der Primarschule nur 30 bis 45 Minuten am Tag, in der Sekundarschule dann vier Stunden in der Woche. Trotzdem ist und bleibt er stolzer Litauer und verfügt am Ende seiner Schulkarriere auch in Litauisch über ausgezeichnete Sprachkompetenzen. Natürlich fördert auch das familiäre Umfeld die Pflege der Muttersprache, die Schule alleine kann es nicht richten.
Man kann eine zweite oder dritte Sprache lernen, ohne dabei auf sehr hohe Kompetenzen in der Muttersprache zu verzichten oder darin die Gefahr zu sehen, die eigene kulturelle Identität zu verlieren.
Sprachlich ist meiner Meinung nach im Bereich der Zweitsprache mehr möglich, als derzeit in Südtirol erreicht wird. Das hängt auch mit den oben genannten Ängsten und der teilweise fehlenden Motivation zusammen.
Wenn ich es mit der Situation in Südtirol vergleiche, so erreichen die Schüler am Ende ihres Studiums höchstens ein B-2 Niveau in der Zweitsprache, die Schüler der Europäischen Schulen erzielen in der Regel hingegen durchwegs ein C-1 Niveau.
Könnte dies auch einer niedrigen Qualität des Unterrichts in der Zweitsprache zuzuschreiben sein?
Ich kann dies aufgrund meiner doch vielen Jahre im Südtiroler Bildungssystem nicht bestätigen. Hier möchte ich gerne eine Lanze zu Gunsten des Lehrpersonals brechen: Es fällt mir schwer zu sagen, dass es nur mit der Qualität des Unterrichts zu tun hat. Natürlich gibt es bessere und weniger gute Lehrer, aber den Mythos, dass alleine die Kompetenz der Zweitsprachlehrer für die schwachen Sprachkompetenzen Schuld sind, kann ich nicht teilen.
Ich persönlich glaube also nicht daran: Wir haben sehr viele kompetente und gut ausgebildete Zweitsprachenlehrer. Meiner Meinung nach spielen die Motivation der Schüler, die politische Stimmung im Umfeld und dem Elternhaus und die politischen Entscheidungen der strikten Trennung der Bildungsangebote nach Sprachgruppen eine große Rolle. Auch hier möchte ich wiederholen, dass es die Schule alleine nicht richten kann.
...die Schüler erleben einen unbeschwerten, angstfreieren Umgang mit den Sprachen.
Also können diese Mängel auch am Umfeld und Privatleben des Kindes liegen, sprich Familie und Freundeskreis?
Absolut. Das fasziniert mich an der Europäischen Schule: die Kinder begegnen sich an einem Ort, an dem 24 Sprachen gesprochen werden und wechseln zwischen diesen, je nach Bedarf, hin und her, ohne Hemmungen oder Ängste, dass sie einen Fehler machen könnten.
In Südtirol ist das leider nicht immer so. Der Anspruch, eine Sprache „perfekt“ sprechen zu müssen und möglichst ja keinen Fehler zu machen, ist noch sehr dominant. Diesen Druck nehme ich an der Europäischen Schule nicht wahr, im Gegenteil, die Schüler erleben einen unbeschwerten, angstfreieren Umgang mit den Sprachen.
Diese Unbeschwertheit wird durch ein Vermischen der Sprachen im Unterricht gefördert. Ein Beispiel: Wenn ich als Schüler die englische Sektion besuche, so habe ich Geschichte, Geografie und Wirtschaft in meiner Zweitsprache, nehmen wir an Deutsch. Während dieser Stunden komme ich in Kontakt mit anderen französischen oder italienischen Studenten, deren Zweitsprache auch Deutsch ist. Dies ermöglicht einen sprachlichen und kulturellen Austausch, der weit über die Muttersprache und Zweitsprache hinausgeht. Bereits in der Grundschule werden im Fach „Europäische Stunde“ die Schüler aus den verschiedenen Sprachsektionen gemischt.
In Südtirol hingegen haben wir immer noch eine säuberliche Trennung zwischen der deutschen und italienischen Schule. Mit der Einführung von CLIL kam zwar etwas in die Schullandschaft, aber das reicht nicht. Ich habe das Gefühl, dass es mit dem Fachunterricht in der Zweitsprache nur zögerlich weitergeht.
Einer der Gründe, warum man die Europäische Schule nach Südtirol bringen will, ist unter anderem der Wunsch Südtirol und dessen Firmen für internationale Unternehmer und Angestellte attraktiver zu machen, da man dann eine englische Sprachsektion anbieten könnte. Wäre das überhaupt machbar, ohne die Präsenz einer europäischen Institution in Südtirol?
Die Europäische Schule wird in Typ 1 und Typ 2 unterschieden Typ 1 ist die „klassische“ Europäische Schule, also dort vorzufinden, wo die europäischen Institutionen ihren Sitz haben und primär für die Kinder der Beamten der EU gedacht ist. Diese wäre in Südtirol, wie bereits gesagt, wohl kaum vorstellbar.
Es gibt aber die sogenannten „akkreditierten“ Europäischen Schulen, den Typ 2, welche das pädagogische Konzept der Europäischen Schule größtenteils übernehmen und entweder ins nationale System gegliedert sind, oder als reine Privatschulen geführt werden.
Auch wenn dort nicht alle Sprachen gelernt und gelehrt werden können, können viele pädagogische Aspekt der Typ 1 Schulen übernommen werden, gerade auch im Bereich des Sprachenlernens. Die Option einer akkreditierten Europäischen Schule könnte ich mir durchaus vorstellen, wenn diese denn politisch gewollt wäre. Wie groß der Bedarf einer englischen Sektion ist, hängt von der Ansiedlung internationaler Wirtschaftsbetriebe ab, für deren Kinder englisch die dominante Sprache ist, sie dann aber gleichzeitig auch Deutsch und Italienisch lernen können. Erlauben Sie mir hier anzumerken, dass die Wahl der Sprachsektion in der Regel nicht die freie Wahl der Eltern ist. Die Muttersprache/dominante Sprache des Kindes zum Zeitpunkt der Einschulung ist das Kriterium der Zuweisung für die jeweiligen Sprachsektion.
Wenn eine Europäische Schule in Südtirol also den Bedarf an einer englischen Schule lösen könnte, bleibt die Frage offen, ob sie das gleiche Ziel auch für die Verbesserung der Zweisprachigkeit der Bevölkerung erreichen könnte?
In Südtirol haben wir bereits ein dreisprachiges Schulsystem, welches meiner Meinung nach großes Potential hat. Leider wird dieses Potential nicht zur Gänze ausgeschöpft. Vielleicht liegt es ja auch an der klaren Trennung zwischen den Sprachen/Sprachgruppen.
Im System der Europäischen Schule gibt es diese Trennung der Sprachen nicht. 24 Sprachen werden im selben Gebäude als Unterrichtssprachen gelernt und gelehrt, ohne Berührungsängste, im konstanten Austausch. Der konstante Austausch motiviert und befruchtet. Ich sehe darin durchaus auch Chancen für die Südtiroler Schule, gemeinsam zu lernen, sich gegenseitig von der anderen Sprache zu befruchten und dadurch in der eignen zu stärken.
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Danke für dieses Interview
Danke für dieses Interview mit Herrn Patscheider. Ich hatte ihn auch in meinem Beschlussantrag zur Europäischen Schule zitiert. Damals wurde die Errichtung einer Anerkannten Europäischen Schule in Südtirol durch die politische Mehrheit abgelehnt. In der Zwischenzeit gibt es einige Versprechen des Landesrates Achammer zur Einrichtung einer "internationalen Schule" oder auch einer Englisch School. Keiner weiß was geplant ist oder umgesetzt werden soll. Deshalb eine Anfrage in diese Richtung meinerseits im Landtag. Morgen werde ich im Landtag zudem als Tagesordnung zum Nachtragshaushaltsgesetz wiederum das Thema "Anerkannte Europäische Schule" einbringen. Besonders interessant jetzt deshalb, weil Österreich in Innsbruck seine erste anerkannte Europäische Schule bekommt (in Italien gibt es schon mehrere). Zum Nachlesen mein Beschlussantrag aus dem Jahr 2019 http://www2.landtag-bz.org/de/datenbanken/akte/angaben_akt.asp?app=idap…
In risposta a Danke für dieses Interview di Alex Ploner
Mit den 3 Schulämtern und
Mit den 3 Schulämtern und ihren Landesräten wird in Südtirol, mit dem Glück als Nahtstelle von Deutsch - Italienisch, seit 1945 leider viel geistiges- und Sprachenpotenzial, buchstäblich "wie das eine Talente in der Bibel im Acker vergraben."
Die Schulämter samt ihren eifersüchtigen Landesräten sind ehestens zu verräumen und der Fach-Unterricht muss abwechselnd in Deutsch - Italienisch und auch Englisch gehalten werden.
Die "abgehobenen Sprachexperten" können sich ihren Feinschliff an den Universitäten erwerben.