Politica | Interview

"Nicht immer ein dankbarer Job"

Ein Leben in der Politik, nun winkt der Abschied: Landesrätin Martha Stocker gibt interessante Einblicke in ihr Leben, ihre Politik und ihre letzte Legislaturperiode.
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Foto: Foto: Salto.bz

20 Jahre lang war Martha Stocker in der Landespolitk vertreten, hat mitgelenkt und mitgeschaffen. Sowohl als Landtagsabgeordnete hat sie Südtirol, so wie wir es heute kennen, mitgeprägt und ihre Handschrift hinterlassen. Nach zwei Jahrzehnten auf höchster Ebene und ein ganzes Leben im politischen Umfeld heißt es nun Adieu, die Rente ruft.
Redselig und offen spricht die scheidende Landesrätin im Salto-Interview über ihr Schaffen und Handeln, ihre politischen Anfänge, Herausforderungen und ihren Werdegang als Frau, als die Diskussion um Gleichstellung noch in den Kinderschuhen befand. Außerdem gibt sie Einblicke in die Person Martha Stocker, deren Werte und Ansichten sie schon in jungen Jahren politisch geprägt und motiviert haben, die Schwierigkeiten als Landesrätin für Gesundheit und den Stempel, den sie dem Sportland Südtirol aufgedrückt hat.

 

salto.bz: Wie ist es, wenn man aus einem turbulenten Umfeld wie der Politik aussteigt? Kann man sich da einfach zurücklehnen und endlich durchschnaufen oder arbeitet man im Kopf weiter?

 

Martha Stocker: Abgesehen davon, dass sich jeder auf die verschiedenen Phasen des Lebens vorbereiten muss, ist es entscheidend, dass man für den nächsten Schritt ein Ziel vor Augen hat. Ich habe mich sehr gut auf diesen Schritt vorbereitet und ich gehe mit einem strukturierten Plan meine nächste Lebensphase an. Wenn man nämlich gewohnt ist, von sieben Uhr morgens bis spät abends voll eingespannt zu sein und den Tag durchgeplant zu haben, muss man sich notwendigerweise etwas zurechtlegen für den Moment, wenn das nicht mehr der Fall ist. Ab 25. Jänner bin ich weit weg von hier, ich werde Sprachkurse machen und mein Englisch auf C1-Niveau bringen, als leidenschaftliche Wandererin habe ich auch viel vor; und ich werde mir etwas Arbeit auch in den Ruhestand mitnehmen, unter anderem will ich wieder wissenschaftlich arbeiten.

 

Sie waren ihr ganzes Leben politisch aktiv. Sie waren zum Beispiel schon früh in der Südtiroler Hochschülerschaft oder schon bei der JG aktiv, um nur wenige Beispiele hervorzuheben. Wie steigt man nach so langer Zeit aktiver Einflussnahme aus? Überragt das lachende oder das weinende Auge?

Der Mensch ist endlich, daher muss er wissen, was er mit der Zeit anfängt, die ihm bleibt. Wenn man seinen Ausstieg rechtzeitig und überlegt macht, dann hat man eine Chance, noch etwas Neues zu machen.
Ich bin ein Mensch, der sich mit seinen Aufgaben total identifiziert. Als ich von der Schule ausgestiegen bin, wurde ich gefragt, ob es mir nicht leid täte, die Schule zu lassen. Als ich das das erste Mal gefragt wurde, war ich im ersten Moment etwas überrascht; ich habe nicht zurückgeschaut. Für mich war das Thema Schule einfach vorläufig abgeschlossen. Ich habe mich Neuem gewidmet und mich damit total identifiziert und auseinandergesetzt. Aber natürlich: Wenn man so lange für dieses Land gearbeitet hat und so dafür gebrannt hat, dann bleibt das auch. Das wäre ja auch überaus merkwürdig, sollte das nicht mehr so sein. Der politische Mensch bleibt, auch wenn man in anderen Bereichen gestaltet oder über Politik diskutiert, ist das politisch. Und um auf das lachende oder weinende Auge zurückzukommen: sagen wir es so – rational weiß man, dass man die einzig richtige Entscheidung getroffen hat, emotional hängt man natürlich an der Aufgabe, die einen so lange beschäftigt hat.

Es ist in mir der Wunsch gewachsen, zu erreichen, dass in diesem Land alle Menschen aufrecht gehen können. 

Wann ist in Ihnen der Gedanke gereift, mitgestalten zu wollen?

Das begann schon in der Zeit, als ich als Kind noch miterlebt habe, wie wir deutschsprachigen Südtiroler als Menschen zweiter Klasse behandelt worden sind. Dieser ethno-politische Hintergrund hat mich angetrieben. Es ist in mir der Wunsch gewachsen, zu erreichen, dass in diesem Land alle Menschen aufrecht gehen können. Dieser Drang nach Veränderung ist auch später geblieben, als ich mich frauenpolitisch immer mehr engagiert habe. Das Leitmotiv meines politischen Handelns war Gerechtigkeit; es geht darum und um nichts anderes.

 

Schlagwort Frauen-Politik: Die Rolle der Frau hat sich in den letzten Jahrzehnten maßgeblich verändert. War es damals viel schwieriger, als Frau in der Politik Fuß zu fassen? Wurden Ihnen Hindernisse in den Weg gelegt?

Damals, als ich noch jung zur Ortsobfrau in meiner Heimatfraktion Kematen gewählt worden bin, war es nicht eine Frage von Mann oder Frau. Es war auch noch nicht wirklich ein gesellschaftlich präsentes Thema. Ich hatte als halbwegs bodenständige Akademikerin die Möglichkeit, diese Funktion zu übernehmen. Das einzige Thema war: „Wia hoaßmor denn de iatz?“ (lacht) Es hat bis dato nur Ortsobmänner gegeben. Man hat mir vorgeschlagen, mich „Ortsobmännin“ zu nennen. So wollte ich nun wirklich nicht bezeichnet werden. (lacht) Ich habe viel Wert darauf gelegt, dass dies nun „Ortsobfrau“ heißt. Man hat sich in der Partei sicher nicht gefreut, als ich darauf bestanden habe, dass in den Parteistatuten alles gegendert wird. Aber das kann ich auch verstehen. Wenn man in Statuten, wo viele Ämter explizit genannt werden, immer beide Bezeichnungen aufführen muss, dann wird es auch etwas unleserlich.

 

Meine Rolle als Frau habe ich dann stärker wahrgenommen, als ich Vorsitzende der SVP-Frauen geworden bin. Das war 1999 oder 2000. Da haben wir durchaus einige Kämpfe ausgefochten, vor allem 2003 beim Frauenaufstand. Damals waren wir sechs SVP-Frauen im Landtag. Und die Basis hätte es für richtig gehalten, eine zweite Frau in die Landesregierung zu berufen und nicht nur Sabina (Sabina Kasslatter-Mur, Anm. d. Red.). Dafür haben wir uns eingesetzt, es gab diesen Aufstand und entsprechende Nebengeräusche: Uns wurde vorgeworfen, dass dies nur ein Vorwand wäre, Machtpositionen zu erreichen. Wir unsererseits wollten uns nicht mit der Rolle des einfachen „Stimmviechs“ abfinden. Diese Bewegung hat maßgeblich dazu beigetragen, dass wir dann 2010 das Gleichstellungsgesetz auf dem Weg gebracht haben. 2012 habe ich dann noch das Gesetz bezüglich der Verwaltungsräte eingebracht: Mindestens ein Drittel der Verwaltungsräte im Land und öffentlichen Bereich muss vom anderen Geschlecht sein. Ich denke, Julia Unterberger und ich haben diesbezüglich sehr gute Arbeit geleistet, auch wenn es immer wieder Gegenwind gab. Einige blieben der Meinung, dass das mit der Quote einfach Blödsinn sei. Schlussendlich hat die Diskussion darum möglicherweise mehr gebracht als die Quote selbst, weil sie auch zu einem kulturellen Umdenken geführt hat.

Wenn es mal unter die Gürtellinie geht, wenn Grenzen überschritten werden, dann trifft man bei Frauen tiefer.

Wie ist es denn heute für eine Frau in der Politik. Spürt man das noch?

Das ist wahrscheinlich aus der Perspektive des Unbeteiligten besser beurteilbar. Persönlich glaube ich, dass wir Frauen uns selbst größere Herausforderungen aufbürden. Wir legen die Messlatte für unsere Leistung sehr hoch.

Wie meinen Sie das?

Wir Frauen stellen an uns selbst einfach höhere Anforderungen; wir sind immer noch der Meinung, uns beweisen zu müssen. Es kann gut sein, dass die Generation einer Jasmin Ladurner das nicht mehr so fühlt. Aber die Generation vorher sicher.Und wenn es mal unter die Gürtellinie geht, wenn Grenzen überschritten werden, dann trifft man bei Frauen tiefer.

Sie waren in jungen Jahren ehrenamtlich im Sport tätig. Nun haben Sie in dieser Legislaturperiode das Amt als Sportlandesrätin eingenommen. Jedoch hat sich ihr politisches Handeln viel auf Sanität und Soziales konzentriert. Wenn Sie Ihr politisches Erbe im Sport resümieren müssten, was würden Sie erzählen

Die Zuständigkeit für den Sport war für mich eine große Freude. Einige Neuerungen wie die Finanzierung der Sportanlagen waren neu zu organisieren, das ist uns mit klaren Richtlinien gut gelungen. Ein Herzensanliegen von mir war, den Behindertensport gleichzustellen. Wir haben damit begonnen, Sportler zu Großevents wie den Paralympischen Spielen oder Weltmeisterschaften zu schicken, sie wie alle anderen auch entsprechend zu verabschieden und zu empfangen.

Es geht auch mit dem Landesportzentrum weiter; das heißt, jetzt wird der Umsetzungsplan ausgearbeitet. Es war ein langwieriger Beteiligungsprozess, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Wir haben mit dem Ansatz begonnen, dass wir keine Diskussion wie in der vorhergehenden Legislaturperiode um eine „Kathedrale in der Wüste“ haben wollen. Jetzt gibt es ein Grundlagendokument, mit dem wir die Ausarbeitung in Gang setzen können
 

Man kann auch auf kleinere Sachen zurückblicken, vor allem für Sportvereine, für die wir einige Erleichterungen eingeführt haben. Es ist z.B. heute einfacher, eine sportärztliche Visite zu machen, wir haben dies für die Vereine mit dem sportärztlichen Dienst gut organisiert. Wir haben nun auch freiberufliche Ärzte in diesen Aufgabenbereich zugelassen, sodass die Visiten auch für Kurzentschlossene leichter möglich sind.

Wir wollten etwas schaffen, das über das kultur-, sprach- und strukturpolitische hinausgeht, um mehr Menschen für das Thema Minderheiten anzusprechen.

Da kommt in einer Legislaturperiode einiges zusammen. Kritik gab es am System mit den Defibrillatoren bei Amateursportvereinen, da wollte nicht so jeder mitziehen.

Die Defibrillatoren haben uns ständig beschäftigt, wir konnten einige Erleichterungen von den ursprünglichen römischen Vorgaben durchsetzen. Die Vorgabe war, dass jeder Verein einzeln einen Defibrillator hat. Wir haben erreicht, dass es nur pro Sportstätte nötig ist, was auch um einiges nachvollziehbarer ist. Wir haben die Investition als Land mitfinanziert. Außerdem ist es mittlerweile Gott sei Dank so, dass nur bei offiziellen Wettkämpfen jemand anwesend sein muss, der die entsprechende Ausbildung hat; und nicht auch noch bei den Trainings. Das war am Anfang wieder einmal die typische italienische Übertreibung, aber es konnte geklärt werden.

Sie hatten ihre Finger ja auch bei der Veranstaltung der Europeada, der Europameisterschaft der sprachlichen Minderheiten, im Spiel, die zum dritten Mal zuletzt 2016 in Südtirol stattgefunden hat.

(lacht) Die Europeada habe ich sozusagen mit-erfunden. Ich war Vizepräsidentin der FUEV, der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen. Wir wollten etwas schaffen, das über das kultur-, sprach- und strukturpolitische hinausgeht, um mehr Menschen für das Thema Minderheiten anzusprechen. Bei einer Sitzung haben wir ein bisschen hin und her diskutiert und Andrea Rassel von den Räteromanen in der Schweiz und ich haben scherzhaft gemeint, man könne ja ein Fußballspiel oder Turnier organisieren, denn Fußball bewegt bekanntlich die Menschen. So kam der Stein ins Rollen. Das erste Mal war das Turnier 2008 in Graubünden in der Schweiz, 2012 in der sächsischen Oberlausitz bei den Sorben, 2016 waren wir dran. 2020 findet es in Südkärnten statt, bei den Kärntner Slowenen. Es wurde viel Wert darauf gelegt, dass das Turnier dort stattfinden wird, es ist nämlich ein historisch sehr bedeutendes Jubiläum für die Volksgruppe dort. 1920 war ein traumatisches Jahr für einen Teil der Slowenen in Kärnten, da man sich damals bei einem Volksentscheid für die Zugehörigkeit zu Österreich entschieden hatte, darunter auch eine ansehnliche Anzahl von Slowenen. Die Gegner haben daraufhin skandiert, die eigenen Leute hätten sie an Österreich verkauft. Das hat lange nachgewirkt, man denke nur an die Behandlung der Slowenen im Ortstafelstreit, das ist nicht allzu lange her. (der Jahrzehnte andauernde Streit wurde erst 2011 verfassungsrechtlich gelöst, Anm. d. Red.). So ist die Austragung der Europeada in dieser Region eine gute Gelegenheit, etwas Verbindendes zwischen den Volksgruppen zu schaffen.

Nun könnte ein großes Event nach Südtirol kommen. Bei Olympia 2026 soll Antholz als Austragungsort für die Biathlon-Bewerbe sein. Das passiert zwar lange nach Ihrer Zeit als Landesrätin, aber wie stehen Sie dazu?

Ich bin damals eine Gegnerin gewesen, als es hieß, wir wollten uns zusammen mit dem Trentino als Ausrichter bewerben. Aber in dem Fall bin ich schon der Meinung, dass man die besten bereits bestehenden Anlagen auch nutzt. Alles andere würde sich jeder Logik entziehen. Und wir haben für Biathlon eindeutig die besten Anlagen, das steht außer Frage.

Soweit es im Rahmen des politischen Handlungsspielraums möglich ist, kann ich bestätigen, dass wir für eine Ausrichtung in Antholz 2026 schon alles Denkbare tun.

Die Lombardei und der Veneto stellen sich da aber quer. Sie wären bereit, sogar eine neue Anlage aufzustellen, damit die Bewerbe dort ausgetragen werden. Heinz Gutweniger, Präsident des Südtiroler Landeskomitees des CONI, fordert mehr Unterstützung von Seiten der Politik. Unterstützt die Politik dieses Projekt offen?

Wir müssen mit unseren Strukturen überzeugen. Soweit es im Rahmen des politischen Handlungsspielraums möglich ist, kann ich bestätigen, dass wir für eine Ausrichtung in Antholz 2026 schon alles Denkbare tun.

Wieso sehen sie Trentino-Südtirol nicht als Austragungsort von olympischen Spielen?

Wir sind bereits ein ziemlich überlaufenes Land, was sportliche Großveranstaltungen betrifft. Solange sich die Vorgaben des IOC an einem potentiellen Ausrichter nicht um einiges ändern, ist es nicht sinnvoll, daran zu denken.

 

Meinen Sie mit überlaufen auch, dass uns die Mobilität momentan einen Strich durch die Rechnung macht?

Es gibt zwei große Herausforderungen: Die Mobilität und die Erwartungshaltung des IOC; sie sind zwar schon ein bisschen zurückgerudert, aber die Anforderungen sind nach wie vor sehr hoch. Besser als die Sachlage aktuell kann es eigentlich nicht sein: Wir haben eine Struktur, die sich bestens dafür eignen würde, eine olympische Disziplin hier her zu holen – und der Fokus würde sich trotzdem auf das Land Südtirol richten.

Es ist wichtig, der Aufgabe als Politiker mit aufrechtem Gang nachzugehen. Man arbeitet daran, Bleibendes zu schaffen, Weichenstellungen, Strukturveränderungen und gesetzliche Ausrichtungen vorzunehmen, die langfristig wirksam sind.

Als Ausrichter hat man nicht unbedingt den großen finanziellen Boom zu erwarten, das meiste Geld fließt ja direkt wieder in den IOC. Wäre das für unser Land überhaupt attraktiv?

Es gibt verschiedene Gründe, wieso Länder Ausrichter werden, es ist nicht unbedingt einhergehend mit unmittelbaren finanziellen Aussichten. Nehmen wir Russland her: Da waren sicherlich politische Überlegungen dahinter. Die anderen sportlich exotischen Länder wollen sich mit Großveranstaltungen auch oftmals in ein besseres Licht rücken. Andere haben genug Geld, sie können es sich einfach leisten. Und die Dritten hoffen im Nachhinein daraus Gewinn zu schlagen.

 

Nach so vielen Jahren in der Politik, gibt es etwas, was sie als ihre größte politische Niederlage beziehungsweise ihren größten Erfolg bezeichnen?

Es ist wichtig, der Aufgabe als Politiker mit aufrechtem Gang nachzugehen. Man arbeitet daran, Bleibendes zu schaffen, Weichenstellungen, Strukturveränderungen und gesetzliche Ausrichtungen vorzunehmen, die langfristig wirksam sind. Mein Ansatz dabei war in allen meinen Zuständigkeitsbereichen Klarheit, Übersichtlichkeit und Einheitlichkeit zu erreichen und das Miteinander zu stärken.

Es wird aber sicher manchmal schwierig, aufrecht zu gehen, besonders wenn man von allen Seiten kritisiert wird.

Man schafft es aus der Gewissheit heraus, immer versucht zu haben, das Richtige zu machen.

Es ist nicht immer ein dankbarer Job. Es gibt so unglaublich viele Interessen in diesem Gebiet. Und leider kommt es vor, dass diese Interessen diametral gegenüber liegen, dann wird es noch ein bisschen schwieriger.

In der Hinsicht wird vor allem das Ressort Gesundheit ein undankbarer Job gewesen sein.

Es ist nicht immer ein dankbarer Job. Es gibt so unglaublich viele Interessen in diesem Gebiet. Und leider kommt es vor, dass diese Interessen diametral gegenüber liegen, dann wird es noch ein bisschen schwieriger.
Es wird uns vorgeworfen, die Reform des Gesundheitssystems sei nicht gelungen. Was ist denn konkret schief gegangen? Wir schaffen es zum Beispiel nicht, genügend Ärzte hier auszubilden oder nach Südtirol zu holen. Das Problem betrifft aber den gesamten europäischen Raum, es gibt einfach zu wenige. Man kann natürlich behaupten, es seien falsche Entscheidungen getroffen worden; aber diese Entscheidungen waren meistens einfach nicht anders möglich. Es gibt Vorgaben für die Qualität und Sicherheit der Gesundheitsversorgung, die das Gesundheitsministerium in seiner primären Kompetenz vorschreibt und diese bedingen eine entsprechende personelle Besetzung der medizinischen Abteilungen. Wir können nicht anfangen, aus jedem Winkel Europas Ärzte abzuziehen. Es kommen eh schon Kritiken aus dem oberitalienischen Raum, dass man dort die Ärzte nicht halten könne, weil wir zu viel bezahlen.

 

Das ist schon interessant, wenn man bedenkt, dass viele Südtiroler*innen ins Ausland gehen, da man sich in Bozen nicht gut genug bezahlt sieht.

Mit Deutschland können wir noch mithalten, bei der Schweiz wird es schwierig. Außerdem gibt es in Deutschland mehrere Möglichkeiten, privat tätig zu werden.

Wir Südtiroler haben einfach großes Glück: Wir sind gerade einmal 500.000 Menschen, sind aber vielerorts gefragt, angefangen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und im Rest von Italien. Außerdem müssen wir uns mit der Tatsache anfreunden, dass die Welt mobil geworden ist. Die jungen Menschen haben ein Recht darauf und es ist ja gut, wenn sie die Möglichkeiten nutzen, in der ganzen Welt unterwegs zu sein und Erfahrungen zu sammeln. Wir haben unsererseits eher das Problem, dass wir von Ärzten, die von außerhalb nach Südtirol kommen, ein Sprachenpaar verlangen, das nicht zu den üblichen gehört.

 

Und beide Sprachen gut zu können hat einfach absolute Notwendigkeit?

Wir wollen den Menschen hier das Recht garantieren, in ihrer eigenen Muttersprache mit dem Arzt oder der Pflegekraft kommunizieren zu können. Wir haben zur Lösung dieses Anspruchs händeringend Kompromisse gefunden: Wir bezahlen den Ärzten Sprachkurse, in drei Jahren müssen sie die Zweisprachigkeit dann auch vorweisen können.

Sprachkurse alleine reichen aber in der Regel nicht, eine Sprache zu lernen. Außerdem lernt sich Hochdeutsch in Südtirol nicht leicht.

Es ist möglich und auch zielführend, sich im täglichen Tun auch eine Sprache anzueignen. Man kann zudem während der Ausbildung nach Österreich oder Deutschland in eine andere Klinik gehen, diese Möglichkeit gibt es und wird von uns gefördert. Wir investieren sehr viel in die Förderung der Sprachkompetenz, weil es der Bevölkerung gegenüber nicht gerecht wäre, wenn sie auf öffentlicher Ebene nicht in ihrer Muttersprache kommunizieren dürfte. Es gibt Fälle, wo man sieht, dass es funktioniert: In Bruneck habe ich persönlich erst einen Arzt erlebt, der unser Patientengespräch auf Deutsch geführt wird, obwohl er erst seit einem halben Jahr hier ist. Er hat viel Wert darauf gelegt, dass sein ganzes Umfeld mit ihm Deutsch redet. Außerdem tut es unseren Leuten auch gut, so können sie Hochdeutsch sprechen (lacht).

Wir brauchen die richtigen Antworten auf den heutigen Bedarf an Akutversorgung und länger fortdauernder Pflege. Dazu braucht es Mut und auch etwas Zeit.

In Sachen Gesundheitsreform war und ist die Kritik an Ihnen mehr als nur beinhart?

Mir wurde vorgeworfen, dass ich es so gewollt hätte, dass viel Unsicherheit in unserem Gesundheitssystem entstanden ist. Ich bin überzeugt, dass wir – wäre sie in ihrer ursprünglichen Form durchgegangen – heute wesentliche Schritte weiter wären. Vor den Tatsachen, dass wir in einer alternden Gesellschaft mit einer starken Zunahme der chronischen Erkrankungen leben, einer rasanten medizinischen Entwicklung und gleichzeitig einer Abnahme an Verfügbarkeit von medizinischem Fachpersonal gegenüberstehen, kann niemand die Augen verschließen. Es ging und geht auch zukünftig um die Stärkung der Leistungen der Grundversorgung im Territorium, um die zielgerichtete Zusammenarbeit im Verbund der Krankenhäuser und eine klare Abstimmung der Leistungen zwischen allen Dienstleistern des Gesundheitssystems. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Mit unserem Personal ist man nicht imstande, alle Notwendigkeiten abzudecken, die unser bisheriges System erfordern würde. Wir müssen zeitgemäße Weichenstellungen vornehmen, kooperieren, Leistungen am richtigen Ort ansiedeln und die Entwicklungen in der Medizin und in der Digitalisierung nutzen. Wir brauchen die richtigen Antworten auf den heutigen Bedarf an Akutversorgung und länger fortdauernder Pflege. Dazu braucht es Mut und auch etwas Zeit.

 

Wo lagen die Störfaktoren, dass die Gesundheitsreform nicht in ihrer ursprünglichen Form durchgegangen ist? Fehlte es an Unterstützung? Die Reform ist ja durchaus ein Grund, wieso ihre Gesundheitspolitik im Endzeugnis mit nicht befriedigend benotet wird.

Es ist sehr schwierig. Am Anfang hat jeder gemeint „Ihr müsst die Sache ordentlich angehen“, „Veränderung bringen“, „dürre Äste abschneiden“; alles mögliche kriegt man zu hören. Dann versucht man – anhand der Situation, die der Ärztemangel, demographische Verschiebungen mit veränderten Betreuungsbedürfnissen, rechtliche Vorgaben und so weiter bringen – in eine bestimmte Richtung zu gehen. Dies bedingt Veränderung, die aber auch die Sorge in sich birgt, dass beim einzelnen etwas anders oder gar etwas weniger wird. Dann geht es los: Plötzlich wird aus der großen Zustimmung und dem großen Verlangen nach Veränderung schon wieder das Gegenteil. Und die, die dagegen schreien, sind in der Regel lauter, als jene, die zustimmen. Wenn es in Sachen Unterstützung etwas zu bemängeln gibt, dann genau das: Die Personen, die dem Reformkonzept zustimmten, haben sich nicht bemerkbar gemacht. Und ich spreche hier von allen Interessengruppen: sowohl von den Fachleuten, die das Konzept mitentwickelt haben und zuvor der Sache wohlgesinnt waren, als auch von der politischen Ebene, die zu jedem Zeitpunkt über die Überlegungen informiert war. Das Reformkonzept ist schließlich in einem breiten Beteiligungsprozess mit über 500 Mitwirkenden entstanden. Zu guter Letzt muss man das Konzept dann aber auch durchbringen; mit Kompromissen, wie es das Prinzip der Demokratie verlangt. Mit Kompromissen sind naturgemäß nicht immer alle zufrieden und es ist ein Leichtes, dem einsetzenden Veränderungsprozess in einem so komplexen System wie dem Gesundheitsbereich mit über 10.000 Mitarbeitenden weder eine Chance noch die erforderliche Zeit zu geben und Unsicherheit zu befeuern. Dann kommt es eben zu dem Effekt, dass angesprochen auf meine Gesundheitspolitik der ein oder andere den Mund verzieht. Die ersten Schritte sind getan, die Weichenstellungen für eine verbesserte und zeitgemäße Leistungserbringung in der medizinischen Versorgung der Menschen gelegt. Die Verantwortung für eine neue grundlegende Gesamtschau für unser Gesundheitssystem habe ich angenommen. Die Zeit wird es weisen.

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Adalbert Stifter Sab, 11/24/2018 - 11:58

Liebe Martha, mit dieser Anrede folge ich Ihrem Aufruf in den Medien, Sie als solche anzusprechen.

Hin und wieder rate ich Freunden und nahestehenden Menschen, sich in ihrer Selbstwahrnehmung und -einschätzung doch ausschließlich an der Wahrheit zu orientieren. Trotz der Tatsache, dass ich es nach dieser im oben stehenden Artikel zu lesenden Selbstbeweihräucherungsorgie für zu spät erachte, bin ich unverbesserlich und versuche es bei Ihnen dennoch.

Da meine besondere Leserbriefvorliebe der Sanität gehört, möchte ich ausschließlich auf dieses für die Südtiroler Bevölkerung besonders wichtige Thema eingehen.

Wie ich seit der völlig ungerechtfertigten selbstzerstörerischen Demontage von Generaldirektor Schael aus dem Munde des LH, dem Ihren und dem des neuen Generaldirektors höre, ist alles toll gelaufen, wurde hervorragende Arbeit geleistet und sind die Defizite in der Sanität auf höhere Gewalt zurückzuführen. Dies ist im Übrigen das einzig Wahre, was Sie hier zum Besten geben, denn den Ärztemangel und die dadurch hervorgerufenen Wartezeiten können der beste Politiker und auch der beste Generaldirektor nicht von heute auf morgen beseitigen. Dennoch mussten Sie Ihrer verletzten Eitelkeit einen der besten Gesundheitsmanager Italiens opfern, um Ihre Wahlergebnisse positiv zu beeinflussen.
Wie Sie richtig bemerken, braucht es für die Umsetzung von Reformen Rückgrat. Sie und Ihr Landeshauptmann haben bewiesen, dass Ihnen dieser Begriff fremd ist.

Sab, 11/24/2018 - 11:58 Collegamento permanente
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Martin B. Lun, 11/26/2018 - 18:16

Es scheint dringend frischen Wind zu brauchen. Ich hoffe Herr Zerzer bzw. die Rekrutierung/Pressestelle der Sanitätseinheit sieht dies und aktiviert sich mächtig. Zuerst Investitionen in Personen, dann in Infrastrukturen und Maschinen bitte.

Lun, 11/26/2018 - 18:16 Collegamento permanente