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salto.music: Marco, du kuratierst für „Occupy Museion“ das morgige Event. Wie muss man sich das Kuratieren eines Konzertes vorstellen? Wie das Casting der Hauptrollen für einen Film? Gab es eine inhaltliche Vorgabe?
Marco Russo: Seit Jahren verbindet Phillip Kieser und mich eine gegenseitige Wertschätzung für das, was der jeweils andere im Kultur-, vor allem im Musikbereich macht. Phillip hat mich gefragt, ob ich die Programmierung von „Occupy Museion“ bereichern möchte. Gesagt – getan. Das Programm entstand also aus dem Gefühl und nicht aus einer Casting Show heraus. Und das Gefühl sagt mir, dass morgen neue und für Bozen leider zu selten vorhandene Klangräume eröffnet werden.
salto.music: Der Abend trägt den etwas herausfordernden Titel „Strategies of Glitches“. Könntest du das Konzept und seinen Bezug zur Musik in einfachen Worten umschreiben?
Marco Russo: Glitch bedeutet „Fehler“, „Panne“, „Störung“, und der Begriff wird seit den 1990er-Jahren in den Bereichen Technik, Kunst, Ästhetik, Philosophie und Soziologie diskutiert. Klingt also etwas Retro auf dem ersten Blick. Die Inspiration für den Titel habe ich im Buch „Glitch Feminism: A Manifesto“ von Legacy Russel gefunden. Die Autorin interpretiert fehlerhafte Überlagerungen als eine Art Befreiung in den gesellschaftlich verursachten Rissen zwischen Geschlecht, Technologie und Körper. Der glitch eröffnet für sie neue Möglichkeiten, in einer unendlichen Vielfalt von Identitäten aufzutreten und zu agieren.
Ich denke, dass die morgigen KünstlerInnen einen ähnlichen Befreiungsakt vollziehen, vor allem im Hinblick auf das, was ein „normales“ Verständnis von Musik ist. Das, was auf dem ersten „Blick“ fehlerhaft klingt, entwickelt sich im Verlauf der Performance zu einer einzigartigen klanglichen Textur. Mit anderen Worten: aus dem Fehler entsteht ein kreativer Akt.
salto.music: Wie siehst du das Verhältnis Museum (für Zeitgenössische Kunst) und Konzertlocation (für elektronische Musik u.ä.). Welche Seite gewinnt was? Und: Gibt es auch Gefahren in dieser „Beziehung“?
Marco Russo: Für mich ist es selbstverständlich, dass ein Museum, das sich der zeitgenössischen Kunst widmet, auch der Musik einen Platz gibt – vor allem jener, die abseits des Mainstreams liegt. Bereits in Vergangenheit hat das Museion immer wieder seine Tore für Musikformate geöffnet – ich denke hier an Veranstaltungen in Rahmen von Transart oder UploadSounds.
Die AdressatInnen sind vielleicht all jene, die in der Kunst eine Kraft gesellschaftlicher Gestaltung sehen.
Nun aber passiert etwas anderes. Der Titel der Reihe verratet es, denn wie so oft liegt der Teufel im Detail. „Occupy Museion“ ist ein Aufruf, das Museion regelrecht zu besetzen. Ich frage mich: wer soll denn diesen Ort besetzten? Wer sind die eigentlichen AdressatInnen dieses Aufrufes? Vielleicht irre ich mich, aber ich denke, dass es jene Menschen sind, die eine bestimmte Art von Kultur (aus)leben wollen, eine Kultur jenseits des Mainstreams und der aufgezwungenen Normen, vielleicht eine Kultur des kritischen und subversiven Denkens, jenseits des Sachverhaltes, Musik als „Produkt“ oder als „Event“ zu konsumieren. Die AdressatInnen sind vielleicht all jene, die in der Kunst eine Kraft gesellschaftlicher Gestaltung sehen.
Um auf deine Frage zurückzukommen: Für mich ist das Museion keine Konzertlocation, sondern vielmehr ein Möglichkeitsraum. Grundsätzlich können beide Seiten profitieren, nämlich das Museion und diese – nennen wir sie mal so – „Subkultur“. Die Gefahr liegt meiner Ansicht darin, wenn das Museion in den Köpfen als „Konzertlocation“ wahrgenommen wird.
Apropos Stichwort „Konzertlocation“: Was hat sich in dieser Hinsicht in Bozen in den letzten Jahren getan? Nichts. Und das ist traurig, dass das Museion als „Konzertlocation“ herhalten muss...
salto.music: Du bist in zwei Labels in unterschiedlichen Rollen aktiv. Worin unterscheiden sich die Labels und welches ist dein jeweiliger Job?
Marco Russo: Das Label Verschubu Records ist vor einigen Jahren aus dem Innsbrucker Kollektiv columbosnext hervorgegangen. Es ist das Etikett für Musikprojekte und Performances, die aus diesem Kreis entstehen. Verschubu Records veranstaltet meistens in der p.m.k Konzertreihen (Kopfweh: kein Wunder!), bringt je nach Möglichkeiten Tonträger heraus, kooperiert mit dem „Heart of Noise”-Festival und gestaltet Radiosendungen für res.radio. Dann gibt es unzählige lang- oder kurzlebige Formationen und DJ’s, wie z.B. das Traurige Tropen Orchester, Brttrkllr, Monomono, treibgut, DJ Südbahn, Maschine Maschine usw. Hier bin ich als Mitveranstalter, DJ oder als Musiker tätig.
col legno music hingegen ist das Label, für das ich seit knapp 1,5 Jahre arbeite und mit dem ich, sozusagen leidenschaftlich, mein tägliches Brot verdiene. In seiner rund 40jährigen Geschichte hat das Label zahlreiche Meilensteine der neuen Musik des 20. Jahrhunderts veröffentlicht, darunter Werke von John Cage, Luigi Nono, Salvatore Sciarrino, Iannis Xenakis – um einige Beispiele zu nennen. 2015 hat Andreas Schett, Musiker, Komponist und Mastermind von Franui das Label übernommen und neu ausgerichtet. Seitdem interessiert sich col legno für zeitgenössische Musik, die besonders zwischen den Genres mäandert.
salto.music: Frage an einen Insider: Auf der einen Seite werden nur mehr Singles (ohne Video) via Spotify und YouTube-Music veröffentlicht, auf der anderen Seite wird sogar über eine Rückkehr der CD spekuliert. Wie siehst du den Markt der Tonträger? Was sind deine Gedanken diesbezüglich?
Marco Russo: Die globalen Player der Musik sind nach wie vor die Major Labels, und seit einigen Jahren Streaming Plattformen. Allein diese entscheiden über Sichtbarkeit und Erfolg. Ich denke aber, dass weder (gute und kleine) Labels, noch physische Tonträger in den nächsten fünfzig Jahren aussterben werden. Grund dafür ist der Trend, dass sowohl KünstlerInnen als auch MusikliebhaberInnen nach wie vor physische Tonträger produzieren und umgekehrt, auch kaufen wollen. Natürlich geht es hier nicht um das Massenprodukt, sondern vielmehr um das Erlebnis Musik „anzufassen“, zu „sehen“ und – wenn man will – auch zu „riechen“ (frischgepresste Booklets haben so einen speziellen Geruch…). Für MusikerInnen, und inzwischen auch für mich, ist es Freude und Genugtuung, am Ende eines langen Prozesses ein physisches Produkt in den Händen zu halten. Dieses Gefühl ist nur halb präsent bei einer digitalen Produktion.
salto.music: Wie viel persönlicher Musikgeschmack von Marco Russo ist beim „Strategies of Glitches“ zu hören?
Marco Russo: 99,999 %
Das Programm für „Strategies of Glitches“:
19.30 - 20.30 Uhr: Das Russolophon, DJ-Set, Verschubu Records, Innsbruck. Visuals: Maximilian Pichler (Hospiz)
20.30 - 21.30 Uhr: Lukas Lauermann, Live, Col Legno Music, Wien
21.30 - 22.30 Uhr: Aki Traar & Peter Trabitzsch, Live, Wien
22.30 - 24 Uhr: COLD.ASS.ICE, DJ-Set, Innsbruck. Visuals: Maximilian Pichler (Hospiz)
Links:
„Occupy Museion” Facebook-Event: https://www.facebook.com/events/1266349370628298
Art Club Museion: https://www.museion.it/artclub
Museion Bozen: https://www.museion.it/
Museion Instagram: https://www.instagram.com/museion_bz/
Verschubu Records: https://www.columbosnext.com/projekte/verschubu-records
Col legno Music: https://www.col-legno.com/en/home