Ein halbes Jahr nach ihrem Amtsantritt im römischen Kapitol wirkt Virginia Raggi entzaubert. Nach der Verhaftung ihres engsten Vertrauten Raffaele Marra wegen Korruption wurde die Bürgermeisterin von Beppe Grillo zur sofortigen Umbildung ihrer Mannschaft gezwungen. Andernfalls werde ihr die Benützung des Fünfsterne-Logos untersagt - eine barocke Formulierung für den Ausschluss aus der Bewegung. Ihr Stellvertreter Daniele Frongia wurde ebenso entlassen wie Bürochef Salvatore Romeo. Aufgeschreckt hatte die Fünfsterne-Bewegung nicht nur Marras Verhaftung, sondern auch die Beschlagnahme zahlreicher Unterlagen in Raggis Büro durch die Polizei.
In den sechs Monaten seit ihrer Wahl war Raggi vorrangig mit Personalquerelen beschäftigt. Etliche Stadträte und enge Mitarbeiter waren bereits nach wenigen Tagen zurückgetreten - mit meist verärgerten Kommentaren. Der Haushaltsassessor Marcello Minenna begründete seinen Rücktritt mit "dem Fehlen jeglicher Transparenz im Stadtrat".
Weiteres Unheil fürchtet die Bewegung aus dem ebenfalls beschlagnahmten Laptop Marras, der Hinweise auf neue Rechtswidrigkeiten enthalten könnte.
Raggis Kabinettschefin Carla Rainieri begnügte sich nach zwei Monaten nicht nur mit dem Rücktritt, sondern prangerte in einer Eingabe an die Staatsanwaltschaft Raggis Arbeitsstil an. Ihre "Einflüsterer" Marra und Romeo seien in den Amtsräumen der Bürgermeisterin allgegenwärtig gewesen und hätten alle wichtigen Entscheidungen getroffen. Noch in dieser Woche sah sich Raggi gezwungen, Frongia und Romeo zu ersetzen und eine Nachfolgerin für die umstrittene Umwelt-Stadträtin Paola Muraro zu ernennen, die einen Ermittlungsbescheid der Staatsanwaltschaft erhalten hatte. Der freilich droht nun auch der Bürgermeisterin selbst - etwa für die Beförderung von Marras Bruder zum Chef der Tourismus-Abteilung - mit Verdoppelung des Gehalts. Es handle sich um einen klaren Fall von Interessenkonflikt, erklärte der Chef der Anti-Korruptionsbehörde, Raffaele Cantone. Die Unterlagen seien an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet worden. Weiteres Unheil fürchtet die Bewegung aus dem ebenfalls beschlagnahmten Laptop Marras, der Hinweise auf neue Rechtswidrigkeiten enthalten könnte. Vergeblich hatte Grillo Raggi ultimativ aufgefordert, Marra aus ihrem Team zu entlassen. Der 44-Jährige, der schon unter dem rechten Bürgermeister Gianni Alemanno gedient hatte, wird von den Zeitungen als "Rasputin des Kapitols" beschrieben.
Keine Woche ohne neuen Rückschlag
Am Dienstag kam der nächste Tiefschlag. Das Revisorenkomittee der Gemeinde verwarf Raggis Haushaltsvoranschlag für die Jahre 2017 bis 2019. Auf 25 Seiten listete es die Unzulänglichkeiten auf - etwa den mangelden Schuldenabbau oder die Abtretung von Beteiligungen. Die Bürgermeisterin hat nun zwei Monate Zeit, um einen neuen Plan vorzulegen, andernfalls droht die kommissarische Verwaltung der Hauptstadt.
Nichts fürchtet die Fünfsterne-Bewegung mehr als einen Ermittlungsbescheid für Raggi - und den damit verbundenen Imageverlust. Eine junge Bürgermeisterin, die der notorischen Misswirtschaft in der Haupstadt ein Ende setzen und eine neue Ära der Transparenz und Legalität einläuten wollte, gerät selbst ins Visier der Justiz: ein Albtraum für eine Bewegung, die sich gerne als moralische Instanz darstellt.
Der Fall Raggi gerät für die Fünfsterne-Bewegung zur Zerreißprobe und setzt vor allem Luigi Di Maio unter Druck, über den Grillo seine schützende Hand hält. Raggis römische Intimfeindinnen Carla Ruocco, Paola Taverna und Roberta Lombardi schießen aus allen Rohren gegen die ungeliebte Bürgermeisterin. Wie lang sie dem Zweifrontenkrieg standhalten kann, ist ungewiss.
Der italienische Gemeindenverband kritisiert den Druck der Journalisten auf Raggi als "troppo accanimento" - zurecht, wird sie doch täglich vor ihrer Haustür von Reportern bedrängt. Das könnte sich bessern, wenn Raggi - wie die meisten anderen Bürgermeister - eine wöchentliche Pressekonferenz abhalten würde.
Eines steht nach dem ersten Halbjahr unumstritten fest. Die vor ihrer Wahl weitgehend unbekannte Anwältin hat sich bisher als unfähig erwiesen, eine mafia- und korruptionsverseuchte Metropole wie Rom zu regieren - ihr stets selbstverliebtes Lächeln kann darüber kaum hinwegtäuschen. Raggi hat sich in im ersten Halbjahr ihrer Regierungszeit nie konkret zu den Vorwürfen geäußert, sondern sich stets in Beschwichtigungen geübt. Nach Raffaele Marras Verhaftung berief sie eine Pressekonferenz ein, bei der sie nur eine 70-Sekunden-Erklärung abgab: nicht Marra sei ihre rechte Hand, sondern "die Bevölkerung Roms". Personalchef Marra sei "nur einer von 23.000 Gemeindebediensteten". Verharmlosung pur.
Der italienische Gemeindenverband kritisiert den Druck der Journalisten auf Raggi als "troppo accanimento" - zu Recht, wird sie doch täglich vor ihrer Haustür von Reportern bedrängt.
Lange wird die Bürgermeisterin, die La Stampa als "palesemente inadeguata" bezeichnet, kaum so weitermachen können. Grillo und ihre Gegner im M5S hätten sie längst vom Thron gestossen, wäre ihr Sturz nicht das bisher folgenschwerste Eigentor in der Geschichte einer Bewegung, in der die internen Fehden mittlerweile denen der verhassten traditionellen Parteien kaum nachstehen.