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Eine Staude, die auf Hüte steht

„Vor dem Holunder zieht man den Hut und vor dem Wacholderkniet man nieder“, besagt eine Redenwendung Die beiden sind tatsächlich so heilkräftig, dass man sie schätzen muss.
Schwarzer Holunder
Foto: Tamara Seyr
  • Als ich heute nach dem Aufwachen, den ersten Blick in den Spiegel geworfen habe, dachte ich kurz, ich wäre zur furchterregendsten Medusa aller Medusen geworden. Die unordentlichen und vor allem filzigen Haare waren tatsächlich fast noch furchteinflößender als beim Original. Ein alter Spruch lässt verlauten: hat man morgens Knoten im Haar, haben in der Nacht Elfen darin gespielt. Nun ja, bei mir war es dann wohl doch weniger ein gesittetes Elfenspiel, sondern eher vier Tage Rock-im-Park auf meinem Kopf. Dann ist heute wohl eben wieder Hut-Tag.

    Es sollten sowieso viel öfter Hüte getragen werden. Das würde dem Holunder, dem alten Hutfetischisten, bestimmt enorm begeistern. Er und sein Kumpel, der Wacholder, sind von diesen Kopfbedeckungen so begeistert, dass sie folgende Redewendung in die Welt hinaus geschickt haben: vor dem Holunder zieht man den Hut und vor dem Wacholder kniet man nieder. Die beiden sind tatsächlich so heilkräftig, dass man sie schätzen und einfach lieben muss. Es sind beides Basic-Kräuter, welche in einer Hausapotheke nicht fehlen dürfen. Bevor man Holunderblüten allerdings pflückt, oder eine Holunderstaude frisiert und stutzt, sollte man sie um Erlaubnis fragen. Verstümmelt man den Holunder ohne dessen Zustimmung, so sagte man früher, bringt das Unglück oder gar den Tod. Der Holunder gilt auch als das Zuhause einer germanischen Göttin. Holla, oder auch Hulda genannt, gilt als Erdgöttin. Ihr ist der Holunder, laut einer alten Sage, auch geweiht.

    Die Gebrüder Grimm machten aus der Göttin Holla den Märchen-star Frau Holle. Rüttelt man am Holunder, lässt dieser sehr viele, einzelne, weiße Blüten und Pollen fallen. Steht man zufällig unter ihm, könnte man wirklich fast glauben, Frau Holle schüttle mitten im Sommer ihre Betten. 

  • Die Autorin

    Tamara Seyr ist FNL Kräuterexpertin und Heilpraktikerin. Sie beschäftigt sich oft und auch lange (und oft auch ganz, ganz lange) mit den Kräutern und allem was dazu gehört. Das sind nicht nur die botanischen Namen, die Familienzugehörigkeit und die Inhaltsstoffe, sondern auch die Signaturenlehre.

    Foto: Tamara Seyr
  • Klugscheißerwissen

    Die wunderschönen Holunderblüten sind weiß und tellerförmig. Bei den Zutaten von Holunderrezepten steht häufig etwas von Dolden. Botanisch gesehen ist das allerdings nicht ganz richtig. Bei einer Dolde gehen die einzelnen Strahlen von einem einzigen Punkt am Stängel aus. Bei einer Scheindolde, wie wir sie beim Holunder vor uns haben, beginnen die Strahlen an unterschiedlichen Punkten und verzweigen sich manchmal sogar noch einige Male. Die schwarzen Beeren sind roh leicht giftig, denn sie enthalten Glykoside. Das sind Stoffe, die Durchfall und Erbrechen verursachen können. Kocht man die Früchte jedoch, zerfallen die Glykoside. 

    Die Früchte sind dann genießbar und können ihre heilkräftige Wirkung entfalten. Zum Beispiel können einige Beeren mit wenig Wasser und etwas Zucker aufgekocht und noch heiß durch ein Sieb in ein verschließbares Gefäß gestrichen werden. Im Kühlschank gelagert oder tiefgekühlt ist das so entstandene Holundermus einige Monate lang haltbar. Ist eine Erkältung oder gar eine Grippe im Anmarsch, hilft ein Tee mit ein wenig Hollermus.

  • Ein Pilz namens Judasohr

    Ein Pilz namens Judasohr wächst ausschließlich auf totem Holunderholz. Es ist ein labbriger, oranger Pilz, der sich tatsächlich so knorpelig und labbrig anfühlt wie ein echtes Ohr. Er ist essbar und wurde manchmal bei Augenbeschwerden eingesetzt. Eine Legende besagt, dass sich Judas an einem Hollerbusch erhängen wollte. Doch der Holunder wollte sich nicht dafür hergeben und zog seine Aste so schnell nach oben, dass einer der Äste dem Verräter dabei ein Ohr abtrennte.

    Ich für meinen Teil mache mich nun mit meiner schrecklichen Medusamähne unter dem Hut auf den Weg. Diese Sturmfrisur kann einzig und allein die qualifizierte Meisterfriseurin bändigen. Bleibt bloß zu hoffen, dass mir unterwegs kein Holunder begegnet, denn dann lässt mir meine gute Kinderstube nichts anderes übrig, als den Hut zu ziehen, um mein zerzaustes und furchterregendes Haupthaar zu präsentieren. Wünscht mir Glück.

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Michael Pernter Sab, 01/25/2025 - 09:48

Sie verstehen es auf wunderbare Weise, humorvolle Erfahrungen mit tieschürfendem Wissen über Kräuter zu verknüpfen. Ihre lebendige Sprache und die charmante Art, alltägliche Momente zu schildern, machen den Text nicht nur unterhaltsam, sondern auch lehrreich. Die Leidenschaft für die Natur und die Kräuterkunde ist in jeder Zeile spürbar – ein echter Genuss zu lesen!

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